Nahe Bonn steht Deutschlands erste und einzige Klinik, die ausschließlich für die Behandlung angeborener Herzfehler gebaut wurde: das Deutsche Kinderherzzentrum der Asklepios Kinderklinik Sankt Augustin. Die meisten Patienten werden heute schon als Baby operiert und erhalten Heilungschancen, wie es sie früher in Deutschland nicht gab.
Der kleine Henry ist zweieinhalb, und gleich wird sein Herz aufhören zu schlagen. Schläuche ragen aus der Brust, blutrot. „Das war die Vorbereitung", sagt der Chefarzt. „Jetzt legen wir es still und dann machen wir das Herz auf." Man hört ein saugendes Geräusch ... dann Stille ... Herzstillstand. Endlich kann’s losgehen. Sieht gut aus für Henry.
Loch im Herzen
Der Junge liegt in einem Operationssaal des Deutschen Kinderherzzentrums (DKHZ). Er hat einen angeborenen Herzfehler. Diagnose VSD, Ventrikelseptumdefekt, ein Loch in der Kammerscheidewand. Außerdem schließt die Trikuspidalklappe nicht richtig, dieses große Ventil zwischen rechtem Vorhof und rechter Herzkammer. All das überlastet und überdehnt die rechte Herzhälfte, der Blutdruck in der Lunge steigt, es drohen Herzschwäche und Lungenschäden. Aber Henrys Problem wurde rechtzeitig entdeckt, und jetzt wird alles auf einmal korrigiert. Eingreifen bevor bleibende Schäden entstehen, das ist die Devise im DHKZ. Besonders schwere Herzfehler werden dort heute schon im Säuglingsalter operiert. Größere medizinische Eingriffe an kleineren Patienten – eine schwierige Kombination. Früher undenkbar, heute ein Aushängeschild des Zentrums.
Bis ins Innerste
„Eine Herzoperation ist eine erstaunlich unblutige Angelegenheit", sagt Prof. Dr. Boulos Asfour, Kinderherzchirurg und Chefarzt des DKHZ. Sein kleiner Patient schläft unter grünen Tüchern, ein kleines Fenster im Stoff gibt das Operationsfeld frei. Der Brustkorb ist bereits geöffnet. Doch um den Jungen zu heilen, muss Asfour noch tiefer gehen, tief ins Innere des Herzens. Das geht nur, wenn es stillsteht. Dafür hat er den Blutkreislauf angezapft und durch eine Herz-Lungen-Maschine (HLM) geleitet. Anschließend mit einer eisgekühlten Infusion, der sogenannten kardioplegischen Lösung, das Herz zum Stehen gebracht. Jetzt muss die HLM Henry am Leben erhalten. Zwei Kardiotechniker wachen über die Maschine. Auch Asfour hat einen zweiten Mann an seiner Seite, Oberarzt Dr. Lennart Dübener, ebenfalls erfahrener Kinderherzchirurg. Mit dabei ist zudem ein Narkosearzt samt Anästhesieschwester, eine OP-Schwester und eine sogenannte Springerin, die bei Bedarf hilft.
Henrys Körpertemperatur beträgt nur 34 Grad, der Herzmuskel ist noch kühler. „Eine Art Winterschlaf", erklärt der Anästhesist Dr. Ehrenfried Schindler. „Damit können wir den Stoffwechsel herunterfahren, den Sauerstoffbedarf senken." Schindler ist ärztlicher Direktor der Kinderklinik Sankt Augustin.
Komplexes Fachgebiet
Kinderherzchirurgen wird es selten langweilig. Der Aristotele Score, ein System zur Qualitätsanalyse von Herzfehler-OPs, erfasst 156 verschiedene Operationen. Oft treten mehrere Fehlbildungen gleichzeitig auf. Auch an den Blutgefäßen. Hinzu kommt das breite Altersspektrum der Patienten vom Neugeborenen bis zum Erwachsenen. Da gleicht kaum eine OP der anderen. Kinderherz-OPs sind mikrochirurgische Eingriffe, die viel Übung und Erfahrung erfordern. Kein Wunder, dass der Sankt Augustiner Kinderherzchirurg Dr. Andreas Urban in den 1990er Jahren für ein Zentrum warb, das einzig und allein auf angeborene Herzfehler ausgerichtet sein sollte. Damals mussten nämlich viele Eltern noch mit ihren herzkranken Kindern beispielsweise nach England oder in die USA fliegen, um sie dort operieren zu lassen. Rund 18 Millionen D-Mark akquirierte die damalige Fördergemeinschaft Herzzentrum.
Im Jahr 2000 war es dann soweit: Das Deutsche Kinderherzzentrum wurde eröffnet, als Erweiterungsbau der Asklepios Kinderklinik Sankt Augustin. Die Architekten haben ihre Hausaufgaben gemacht: Lichtdurchflutet und freundlich fühlt sich der Bau angenehm wenig nach Krankenhaus an. Die Kinderherz-Intensivstation liegt gleich neben den OPs. Kein weiter Transport zwischen Herzchirurgie und Kinderklinik nötig.
Und 2002 schließlich kam mit Boulos Asfour eine neue Generation von Kinderherzchirurgen zum DKHZ. Asfour hatte am weltweit führenden Childrens Hospital in Boston Operationstechniken erlernt, die damals in Deutschland noch weitgehend unbekannt waren. 2006 schließlich übernahm er die Leitung des DKHZ.
Um die Ergebnisse von Kinderherzoperationen stetig zu verbessern und ihre Risiken zu senken, betreibt das DHKZ ein eigenes Qualitätsmanagement. 2000 ließ es sich als erstes deutsches Zentrum in der Herzfehler-Datenbank der Europäischen Kinderherzchirurgie-Vereinigung ECHSA registrieren. Seitdem werden alle Eingriffe elektronisch erfasst und analysiert. Schon 2008 zeigte eine Auswertung hervorragende Ergebnisse im internationalen Vergleich. Selbst bei der besonders anspruchsvollen Norwood-Prozedur, die Kinder mit verkümmertem Linksherz rettet, dem schwersten Herzfehler überhaupt, liegt die Patientensterblichkeit in Sankt Augustin sogar deutlich unter dem Durchschnittswert des Vorbildes USA.
Tag der offenen Tür in Henrys Herz. Die beiden Chirurgen werkeln vierhändig in der Brust des Patienten, ohne viel Worte, ruhig und konzentriert. Seltsam, dass sie sich in der kleinen Öffnung zwischen all den Schläuchen nicht in die Quere kommen. Sie tragen Lupenbrillen, sehen das mandarinengroße Organ viereinhalbfach vergrößert. Asfour fühlt nach, die Kammerscheidewand ist schön elastisch, er kann sie direkt vernähen. Obwohl es jetzt kein Zurück mehr gibt, wirkt die Situation im OP erstaunlich undramatisch, unbrenzlig. Weiter geht’s mit voller Konzentration: Boulos Asfour rekonstruiert die Herzklappe. Kein Kinderspiel.
Im Jahr 2017 gab es hier 676 Herzoperationen, darunter 460 mit HLM. Gegenüber den vierstelligen Fallzahlen eines herkömmlichen Herzzentrums erscheint das niedrig. Doch in seinem Fachbereich ist das DHKZ ein Riese, denn die Behandlung angeborener Herzfehler macht nur gut drei Prozent aller Herzoperationen aus. Manche Kliniken in Deutschland kommen hier nicht über zweistellige Zahlen hinaus.
Neustart
Der große Moment naht. „Rot steht, gelb läuft" tönt es aus Richtung der HLM. Das Herz ist wieder verschlossen. Warmes Blut durchströmt es. Der Überwachungsmonitor piept, noch etwas stolpernd, und der Chefarzt stellt fest: „Das Herz schlägt!" Uff. Doch funktioniert alles wie geplant? Denken Sie kurz nach: Können Sie direkt nach einer Hüft-OP laufen, nach einer Magen-OP essen? Doch das kleine, frisch operierte Kinderherz muss sofort wieder pumpen. Eine kleine Ultraschall-Sonde wird durch Henrys Speiseröhre hinters Herz geführt. Alle schauen gebannt auf den Monitor. Gut sieht's aus, Kammerscheidewand und Trikuspidalklappe halten dicht. Der Motor des Lebens, frisch aus der Werkstatt, läuft. Und sogar fehlerfrei – zum ersten Mal.
Damit der Körper den strapaziösen Eingriff gut wegsteckt, arbeiten die Spezialisten im DKHZ mit einigen Tricks. „Aus dem Blut werden bestimmte Substanzen herausgefiltert, darunter die kardioplegische Lösung", erklärt Boulos Asfour. „So kommt es zu weniger Flüssigkeitsansammlungen, die Kinder sind nicht so aufgedunsen." Ehrenfried Schindler verrät: „Wir wecken die Patienten schon im Operationssaal auf. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal von uns." Der Patient soll so früh wie möglich wieder selbst atmen. Ist der Schlauch raus, kann man die starken Medikamente absetzen, die den Würgereflex unterdrücken.
Der Einsatz von Boulos Asfour im OP ist beendet. Während Dübener die Brust sorgfältig verschließt, verlässt der Chefarzt den Raum. Er ist aber noch nicht fertig. Bericht eintippen, umziehen, ab ins Sprechzimmer – die Eltern erlösen.
Aufatmen
Draußen im Flur kann man ihn förmlich rumpeln hören, den Stein, der Henrys Eltern vom Herzen fällt, als sie es erfahren. Dass die OP gut verlaufen ist, dass es ihrem Sohn gut geht. Marko Westhäuser, Henrys Vater, lobt die Klinik: „Mein Eindruck ist super." Als Rettungssanitäter habe er schon ein paar Krankenhäuser von innen gesehen, und dort sei nicht immer alles so perfekt. „Aber hier läuft alles harmonisch, Hand in Hand."
Meist erholen sich die Kinder schnell. Doch nach der OP kommt jedes Herzkind erst mal auf die Intensivstation. Am Bett wacht stets eine Schwester. Manchmal ertönt ein Warnsignal, dann eilt eine Ärztin ins Zimmer. Auf der Station herrscht eine erstaunlich entspannte Atmosphäre. Alles ist ruhig, eine Schwester huscht vorbei und lächelt. Weniger Stress, schnellere Genesung. Auch dem Team von Ehrenfried Schindler kommt hier eine wichtige Aufgabe zu: die Behandlung der Schmerzen. Er hat ein Konzept speziell für Kinder entwickelt. „Wir sind die erste zertifizierte Klinik mit Kinderschmerztherapie in Deutschland", berichtet Schindler.
Eine Woche später darf Henry nach Hause. „Er verbrachte nur eine Nacht auf der Intensiv, kam schon am nächsten Tag auf die Normalstation", freut sich sein Vater. Der Junge bekommt noch Medikamente, um das Herz zu entlasten. Alles im grünen Bereich. In Zukunft wird Henry als herzgesundes Kind gelten.
Doch die Erinnerung an den ganzen Stress ist noch frisch. „Ich sagte zu meiner Frau, ich sei zehn Jahre gealtert. Die Angst war riesig, auch wenn das Risiko überschaubar war." So läuft das eben in Sankt Augustin: Bevor die Kleinen rote Backen kriegen, kriegen die Großen graue Haare.