Leukämie ist die häufigste Krebserkrankung im Kindesalter. Wenn Chemotherapie oder Bestrahlung nicht helfen, ist eine Stammzelltransplantation oft die letzte Chance. Die Stefan-Morsch-Stiftung in Birkenfeld hat mit der ersten deutschen Knochenmark- und Stammzellspenderdatei Pionierarbeit geleistet – und ist ständig auf der Suche nach neuen, potenziellen Lebensrettern.
Nehmen Sie Ihr Kind mit nach Hause. Es wird sterben." So etwas bekamen noch in den 1970er viele Eltern leukämiekranker Kinder von ihrem Arzt zu hören. Damals bedeutete die Krankheit für mehr als die Hälfte der Patienten das Todesurteil. Die Chemotherapie war noch nicht so weit entwickelt. Die rettende Stammzelltherapie zwar bekannt, aber nur mit Spendern innerhalb der Familie üblich. Unter Verwandten gibt es aber nur eine etwa 30-prozentige Chance, jemand geeignetes zu finden. Fremdspender? Wohnortnahe Transplantationszentren? Fehlanzeige. Wie hätte man auch jemanden finden sollen? Es gab in Deutschland ja gar keine digital vernetzten Spenderdateien. Und genau hier kommt Stefan Morsch ins Spiel – und sein tragisches Schicksal.
Anfang der 1980er Jahre hält die Geschichte des leukämiekranken Stefan Morsch im rheinland-pfälzischen Birkenfeld die deutsche Öffentlichkeit in Atem. Chemotherapie und Bestrahlung hatten nicht gewirkt, der 16-jährige Patient gilt als hoffnungsloser Fall. „Nehmen Sie Ihr Kind mit …" – siehe oben. Doch im Juli 1983 entdeckt sein Vater Emil Morsch in einer Zeitschrift zufällig einen Artikel über Tests mit Fremdspendern in den USA. Eine Chance für Stefan?
Die Krankenkasse lehnt ab. Keine Kostenübernahme. Die Eltern nehmen eine Bürgschaft aufs eigene Haus auf. Als das nicht reicht, wird ein Spendenaufruf gestartet. Die Story ist in allen Medien. Und alle wollen helfen. „Es war ergreifend zu sehen, wie Kinder ihre Spardosen und ältere Frauen einen Teil ihrer kleinen Rente dafür geopfert haben, damit Stefan diese Chance in den USA bekam", erinnert sich der Vater. Es kommt genug zusammen. Nach langem Warten wird tatsächlich ein passender Spender gefunden. 1984 wird Stefan Morsch als erster Europäer in Seattle, USA, erfolgreich transplantiert. Ein Erfolg, der nicht lange anhält. Stefan Morsch stirbt, kurz vor der geplanten Heimreise, an einer Lungenentzündung. Wenige Monate nach dem großen Triumph, dem erfolgreichen Zurückdrängen der Leukämie.
Stefans Schwester Susanne Morsch ist davon überzeugt, dass der Tod ihres großen Bruders nicht umsonst war. Erstens hatte seine Transplantation gezeigt, was das damals noch neue Verfahren der Fremdspender-Transplantation zu leisten vermochte. „Stefan war sozusagen der letzte Versuch. Der Erfolg seiner Transplantation brachte die Sache dann ins Rollen", sagt sie. Der behandelnde Arzt Edward Donnall „Don" Thomas erhielt 1990 den Medizinnobelpreis.
Zweitens: Als 16-jähriger Computerfan hatte Stefan die Idee einer digital vernetzten Spenderdatenbank entwickelt. Nach seinem Tod gründeten die Eltern Hiltrud und Emil Morsch 1986 mit den restlichen Spendengeldern die nach ihrem verstorbenen Sohn benannte Stiftung, um die Spenderdatei Wirklichkeit werden zu lassen.
„Sein Tod war nicht umsonst", ist Susanne Morsch, Stefans Schwester, überzeugt.
Heute engagiert sich Susanne Morsch als Vorstandsvorsitzende der Stiftung. Ihre Hauptaufgabe: Menschen zu Lebensrettern werden lassen. So wie beispielsweise Maximilian Boing. Der junge Mann sitzt zurückgelehnt auf einer Liege in den Räumen der Stefan-Morsch-Stiftung und spendet Stammzellen. Wem genau er damit wahrscheinlich das Leben rettet, weiß er nicht. „Es ist jemand in Nordamerika, nur so viel wurde mir verraten", sagt Maximilian Boing, während sein Blut durch eine Maschine gepumpt wird. Aus dem linken Arm heraus, in den rechten Arm wieder hinein. Er ist aus Bonn nach Birkenfeld gekommen, um Stammzellen zu spenden. Diese fischt die Maschine mit einer Zentrifuge aus seinem Blut. Apherese nennt man das. Das Apheresezentrum, in dem Maximilian Boing spendet, wird von der Stefan-Morsch-Stiftung betrieben. „Wir haben hier mehr als 200 Entnahmen pro Jahr", sagt Susanne Morsch.
Dass der Spender hier überhaupt liegt und den unbekannten Menschen in Übersee retten kann, ist ebenfalls der Stiftung zu verdanken. Dafür bewirbt und organisiert sie regelmäßig Typisierungsaktionen. Die Experten der Stefan-Morsch-Stiftung haben Boing typisiert und die Ergebnisse in eine Datenbank eingespeist, wo er von den Ärzten des leukämiekranken Unbekannten in Nordamerika schließlich als passender Spender gefunden wurde. Typisieren heißt, die Gewebemerkmale eines Menschen werden analysiert und einer bestimmten Gen-Gruppe, einem sogenannten HLA-Typus, zugeordnet. Je besser die HLA-Typen von Spender und Empfänger zusammenpassen, desto besser wird die Stammzell-Transplantation vertragen. „Next generation Sequencing" steht auf den Geräten im Erdgeschoss. Peter Trojok, biologisch-technischer Assistent, erklärt die hochmoderne Technik: „Diese Maschine kann 192 Proben innerhalb von 36 Stunden analysieren und typisieren. Kein Vergleich mit früher." So kann er ständig mehr Daten in die Spenderdatei der Stiftung einspeisen. Aktuell sind über 450.000 potenzielle Lebensretter erfasst. Mit 61 Jahren werden sie automatisch aus dem Archiv gelöscht – aber es kommen ja ständig neue hinzu.
Maximilian Boing muss etwa fünf Stunden hier im Apheresezentrum liegen. Das ist verhältnismäßig lange, aber die Klinik hat eine große Menge Stammzellen angefordert. Damit wird die ersehnte Therapie des Empfängers durchgeführt. Niemand weiß, wie groß dessen Überlebenschance ist. Nur so viel: Ohne die Stammzellen lägen sie bei null.
Zuerst werden die entarteten Knochenmarkzellen des Patienten zerstört. Die Spenderstammzellen gelangen über die Blutbahn ins Knochenmark des Empfängers, wo sie ihre einzigartigen Eigenschaft entfalten: Sie bilden neue Körperzellen. So erhält der Patient wieder neue blutbildende Zellen und kann von der schweren Krankheit genesen. Die meisten Spenden werden heute von erwachsenen Patienten benötigt, aber immerhin 15 Prozent gehen an Kinder und Jugendliche. Für sie und ihre Familien ist die Stammzelltherapie eine strapaziöse Prozedur, aber auch die ganz große Chance. „Wenn man auf Station so einen kleinen Wurm sieht, nimmt einen das schon mit", sagt Susanne Morsch. „Die Kinder stecken es aber erstaunlich gut weg." Die Sozialwirtin hat sich zusätzlich zum Certified Hematopoietic Transplant Coordinator ausbilden lassen, um die Arbeit der Stiftung optimal zu managen. Mit den Spendengeldern der Stiftung werden auch medizinische Forschungsprojekte gefördert und betroffene Familien unterstützt.
Für neun von zehn Patienten wird ein Spender gefunden
Heute gibt es weitere Organisationen, die sich um Typisierung kümmern, insgesamt sind 26 Spenderdateien in Deutschland aktiv. Die Stefan-Morsch-Stiftung aber war die erste. Und ihre Arbeit ist heute so wichtig wie damals. „Im Jahr 2017 haben wir insgesamt 643 Anfragen zur Spende für Spender der Stefan-Morsch-Stiftung erhalten", erzählt Susanne Morsch. Dank der umfassenden, digital vernetzten Datenbank ist es heute leichter, einen Fremdspender zu finden, als einen in der eigenen Familie. „Für neun von zehn Patienten wird ein geeigneter Spender gefunden", berichtet die Vorstandsvorsitzende stolz. Als Schwester des Namensgebers fühlt sie sich besonders stark dem Stiftungsauftrag verpflichtet. „Die Arbeit für die Stiftung bedeutet mir persönlich sehr viel. Es ist aber viel mehr als Arbeit und lässt sich nur schlecht erklären. Ich weiß, was einer Familie durch den Kopf geht, wenn sie mit der Diagnose Leukämie konfrontiert wird, und wie es schmerzt, einen geliebten Menschen zu verlieren. Für mich war es immer klar, dass ich in der Stiftung arbeiten möchte um mitzuhelfen, dass irgendwann niemand mehr durch diese schreckliche Krankheit sein Leben verlieren muss. Auch wenn sich das vielleicht komisch anhört, aber durch all das, was seit Stefans Tod entstanden ist, erscheint sein Tod nicht mehr so sinnlos, und er gerät auch nie in Vergessenheit."
Selbstverständlich ist sie selbst in der Spenderdatei erfasst. „Meine Werte wurden 1983 ermittelt um zu sehen, ob ich für Stefan als Spenderin infrage kommen würde", erzählt Susanne Morsch. „Leider habe ich nicht gepasst. An meinem 18. Geburtstag wurden meine Werte in der Spenderdatei ‚aktiviert‘. Den Zeitpunkt konnte ich fast nicht erwarten. Seitdem hoffe ich, dass irgendwann der Anruf kommt und ich irgendwo auf der Welt einem Patienten helfen kann."