Der Heidelberger Altersforscher Prof. Dr. Andreas Kruse berät den Deutschen Bundestag in Sachen Seniorenpolitik. Außerdem hat er das Geheimnis glücklichen Alterns in den letzten Lebensjahren des Komponisten Johann Sebastian Bach entdeckt.
Herr Professor Kruse, womit beschäftigen Sie sich als Gerontologe? Wie man möglichst alt wird oder wie man im Alter möglichst gut leben kann?
Mit letzterem. Wir befassen uns in Heidelberg zum einen mit der Frage, wie wir körperliche und seelisch-geistige Alternsprozesse wissenschaftlich fundiert abbilden und erklären können. Zum anderen gehen wir folgender Frage nach: Altern Menschen heute anders als früher? Schließlich: Wie können wir positiv, das heißt aktivierend, stimulierend, motivierend in den Altersprozess eingreifen? Welche gesellschaftlichen, kulturellen und kommunalen Rahmenbedingungen fördern das Altern – in der Stadt und auf dem Land?
Sie selbst sind Jahrgang 1955. Freuen Sie sich schon auf Ihren eigenen Ruhestand oder wollen Sie Ihre Lehr- und Forschungstätigkeit noch möglichst lange ausüben?
Menschen haben unterschiedliche Präferenzen. Manche wollen weiterarbeiten, um mögliche finanzielle Probleme im Alter zu vermeiden. Andere sehen in der Fortführung ihrer Berufstätigkeit eine Möglichkeit zur Verwirklichung von Kompetenz, aber auch einen Beitrag des Alters zum Humanvermögen. Ich persönlich stelle mir vor, bis zu meinem 66. Geburtstag zu arbeiten, also bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter. Danach möchte ich etwas anderes für die Gesellschaft tun. Ich könnte mir vorstellen, Telefonseelsorge zu betreiben und Kindern oder Jugendlichen Musikunterricht zu geben, deren Eltern sich den Musikunterricht für ihre Kinder nicht leisten können.
1987 haben Sie den Abschlussbericht des Stuttgarter Zukunftskongresses mitverfasst, der das Thema „Altern als Chance und Herausforderung" hatte. Heute sind Sie 30 Jahre älter. Welche neuen Erkenntnisse haben Sie hinzugewonnen?
Wir wissen heute, dass wir bis ins hohe Alter eine hohe neuronale Plastizität besitzen, das heißt, wir sind bis ins hohe Alter lernfähig, können uns produktiv an neue Umwelt- und Situationsanforderungen anpassen, können kreativ sein. Gerade das schöpferische Potenzial im Alter erscheint mir bedeutsam. Zweitens wissen wir, wie wir durch Prävention und leistungsstarke Medizin das Entstehen von Krankheiten erheblich beeinflussen und unsere Leistungsfähigkeit erhalten können.
Drittens können wir fundierte Aussagen zur wichtigen Rolle der Mitverantwortung für die Gesellschaft treffen. Schließlich wissen wir, wie fruchtbar der Austausch zwischen den Generationen für die Angehörigen der verschiedenen Generationen ist – nicht nur für jene der älteren, sondern auch für jene der jüngeren Generationen.
Viertens: Die Lebensformen haben sich geändert, es gibt zum Beispiel mehr nicht eheliche Lebensgemeinschaften, erweiterte Familien (zu denen der Freundeskreis oder Nachbarn zählen können) sowie neue Wohnformen. Fünftens beschäftigen wir uns mehr mit Alter und Versorgungs-, Dienstleistungs- und Verkehrsstruktur, im städtischen und im ländlichen Raum.
Und sechstens: Das Thema Alter hat heute eine hohe internationale Bedeutung; der internationale Vergleich mit Blick auf Formen und Rahmenbedingungen des Alters zieht wachsendes Interesse auf sich.
Was kann ich tun, um ein möglichst glückliches und erfülltes Alter zu erleben? Was raten Sie unseren Lesern?
Was der Mensch lernen muss: Dass er ein gewisses Maß an körperlicher Aktivität verwirklicht, dass wir uns über den gesamten Lebenslauf körperlich fordern sollten, etwa durch sportliches Training – aber nicht einseitig und in einer unserem Leistungsvermögen entsprechenden Art und Weise.
Zweitens: Die kognitive Aktivität ist von Kindesbeinen an wichtig, auch um die kognitive Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter zu erhalten. Sollte es zu einer Demenz kommen, so dauert es deutlich länger, bis Symptome entstehen.
Drittens: Soziale Aktivität ist schon früh zu pflegen. Soziale Teilhabe ist sehr wichtig – für das Wohlbefinden, aber auch für die kognitive Leistungsfähigkeit im Alter.
Und viertens: Das Thema Emotionalität ist wichtig. Man sollte offen sein für neue Eindrücke und Erfahrungen. Man sollte lernen, mit Krisen und Belastungen umzugehen. Auch ist es wichtig, ein Verantwortungsgefühl für nachfolgende Generationen zu entwickeln.
Solche Reifungsprozesse seelisch-geistiger Art, übrigens auch in der Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit, sind an die Möglichkeit gebunden, dass ich in Sorge-Beziehungen lebe – in denen ich Hilfe empfange, in denen ich Hilfe gebe.
Sorge-Beziehungen?
Das bedeutet: Jemand kümmert sich um mich, aber auch ich sorge mich um andere. Diese Qualität von Beziehungen – nämlich als Gleichgewicht von empfangener und gegebener Hilfe oder Sorge – ist für ein positives Selbstbild, ist für das Wohlbefinden im Alter essenziell.
Sie haben einmal den Komponisten Johann Sebastian Bach als positives Beispiel für den Umgang mit dem Alter genannt. Was macht Bach als alten Mann zum Vorbild?
Ja, ich habe ein Buch über Johann Sebastian Bach geschrieben. Bach war in den letzten Lebensjahren ernstlich erkrankt, aber zugleich unglaublich produktiv und kreativ – das ist ein für die Psychologie des Alters wichtiges Phänomen.
Er litt unter anderem an sogenanntem Altersdiabetes, gegen den es im 18. Jahrhundert keine Therapiemöglichkeit gab.
Ja, vor allem die Symptome, mit denen ein Diabetes verbunden ist, waren bei Bach deutlich erkennbar, so zum Beispiel Neuropathien, die mit starken Schmerzen einhergehen. Darüber hinaus verlor Johann Sebastian Bach nach und nach sein Augenlicht, bis er im letzten Lebensjahr fast ganz erblindete. Doch er hat bei starker körperlicher Verletzlichkeit eine unglaubliche seelisch-geistige Stärke gezeigt und eine hohe musikalische Kreativität entwickelt, hat sich um seine Familie gekümmert, um den Thomanerchor, um seine Schüler. In den beiden letzten Lebensjahren vollendete er zum Beispiel die h-Moll-Messe, drei Jahre vor seinem Tod schrieb der das „Musikalische Opfer", die „Kunst der Fuge" war fast vollendet.
Hochbetagte Menschen leben oft in Senioreneinrichtungen, ob im betreuten Wohnen oder in der Pflege. Welchen Rat geben Sie den Betreibern und Mitarbeitern solcher Einrichtungen?
Es müssen ansprechende kulturelle und soziale Angebote vorhanden sein. Teilhabe ist wichtig. An der Pflege ist das aktivierende, stimulierende, rehabilitative und motivierende Moment wichtig. Kooperationen mit Einrichtungen für Kinder und Jugendliche sind sehr gut. Viele Senioreneinrichtungen arbeiten ja zum Beispiel mit Kindergärten oder Schulen zusammen. Auch spirituelle Angebote sind wichtig. Die Bewohner sollten am sozialen und kulturellen Leben teilhaben und dieses mitgestalten.
Stichwort Spiritualität: Sie waren jahrelang Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Welche Rolle spielt der Glaube für ein glückliches Altern?
Der Glaube spielt für mich persönlich eine große Rolle. Zum Beispiel, indem ich den Tod als Rückkehr zu meinem Ursprung betrachte.
Sie verfassen seit vielen Jahren den Altenbericht des Deutschen Bundestags. Konnten Sie damit schon Einfluss auf die Politik nehmen?
Ja, auch wenn man das vielleicht nicht so direkt wahrnimmt. Aber die Empfehlungen werden von Politikern mittlerweile mit großem Interesse entgegengenommen.
Wirtschaftsvertreter und viele Politiker sind für eine Erhöhung des Renteneintrittsalters. Wir werden immer älter, also sollen wir auch länger arbeiten. Klingt logisch. Was halten Sie davon?
Entscheidend ist, dass Rahmenbedingungen für eine längere Arbeit geschaffen werden. Zu nennen sind hier angemessene Bildungsbedingungen über die gesamte Zeit der Berufstätigkeit, weiterhin gute präventive und medizinische Bedingungen. Zudem müssen ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Möglichkeit haben, über ihr Arbeitszeitvolumen und über die auszuübenden Tätigkeiten mitzubestimmen. Einfach die Lebensarbeitszeit zu verlängern, ohne dabei auf die Stärken, aber auch die Schwächen des Menschen zu achten, ist zu pauschal gedacht und damit keine wirkliche Lösung.
Was wünschen Sie sich von der zukünftigen Bundesregierung?
Sie sollte die Gerontologie und Geriatrie, also die Altersforschung, stärken. Sie sollte die Pflege stärken, also bessere Arbeitsbedingungen für Pflegende schaffen. Sie sollte Pflege und Reha stärker miteinander verbinden. Die Regierung sollte die psychologische und psychotherapeutische Versorgung älterer Menschen fördern, die auf ein derartiges Versorgungsangebot angewiesen sind. Die Regierung sollte die lebenslange Bildung stärken. Und die Kommunen stärken, etwa durch eine entsprechende Steuerpolitik, und zwar in der Wahrnehmung ihrer Verantwortung für die Daseinsvorsorge, aber auch für die Querschnittpolitik „Alter". Sie sollte bürgerschaftliches Engagement fördern. Und: Ich wünsche mir, dass die Regierung soziale Ungleichheit bekämpft. Dazu gehören vor allem die Bereiche Rente, Wohnen, gesundheitliche und pflegerische Versorgung, Bildung.