Die junge Flötistin Kathrin Christians (34) erlitt einen Hirnschlag. Konnte nichts mehr sehen, nicht mehr gehen. Keine vier Monate später stand sie schon wieder auf der Konzertbühne. In Auszügen aus ihrem Tagebuch verrät sie uns, wie sie sich mit eisernem Willen, Optimismus und guter Reha-Betreuung wieder zurück ins Leben kämpfte.
Es kommt wie aus heiterem Himmel. Die Heidelberger Soloflötistin Kathrin Christians hat gerade ihre Debut-CD aufgenommen, zusammen mit dem Württemberger Kammerorchester. Das Album ist richtig gut geworden und soll in ein paar Wochen erscheinen. Die Musikerin hat seit einigen Tagen Nackenschmerzen, denkt an Verspannungen. Der ganze Stress halt. Am 8. April 2017 passiert es, bei einem Aufenthalt in München: Durch eine Gefäßverletzung im Nacken löst sich ein Blutgerinnsel, blockiert eine Hirnarterie. Sie denkt, das wird schon, lehnt Hilfe ab. 33, schlank, kerngesund, Nichtraucherin – was soll das schon Ernstes sein?
Zum Glück ist sie gerade bei einem Freund zu Besuch. Der ruft sofort seinen Vater, einen Arzt. Ruckzuck ist sie in der Notaufnahme der Uniklinik Großhadern. Plötzlich diese Angst: Ihr Lebenspartner war vor wenigen Jahren an einem Hirntumor verstorben – sollte auch Sie ...? Dann die Diagnose: Hirnschlag. Im Stammhirn. Sie kann froh sein, dass sie noch lebt. Aber lassen wir sie doch selbst weitererzählen.
1. Woche: Überlebt
Nachdem ich in der Ambulanz glücklich bin, dass ich keinen Hirntumor habe, sondern „nur" einen Schlaganfall, werde ich auf die Stroke-Unit gebracht. Ich bin komplett bei Sinnen, bekomme alles mit und hoffe, dass mir nichts Schlimmes in der Nacht passiert. Alle paar Stunden werde ich geweckt, zum Blutdruckmessen, für Tests. Ich kann nicht schlucken, werde künstlich ernährt, erhalte einen Katheter und komme ohne Hilfe nirgendwohin. Nach einem Tag sage ich, dass ich mit meinem Körper arbeiten möchte, am zweiten Tag erhalte ich Hanteln und trainiere meine Arme. Mit einem Kilo. Das Gewicht ist kaum zu stemmen.
Am zweiten Tag setzt man mich im Bett auf und versucht mir beizubringen, nicht nach rechts umzukippen. Am fünften Tag die ersten Schritte. Der Rollator hilft mir. Ich werde ihn nie mögen. Was mir die größten Probleme bereitet: Wie mache ich meinen Eltern klar, was mit mir passiert ist? Ähnlich geht es mir mit Freunden. Und: Was tut mir gut?
Ich lebe. Kann denken. Mich links koordiniert bewegen. Und mein Wille ist stark.
2. Woche: Tränen
Mein Wille ist so stark, dass ich glaube, in wenigen Wochen wieder komplett normal zu sein. Bestärkt werde ich in allem durch meine Besucher. Sie bestätigen mir: Mein Verstand ist wie zuvor. Das hat seine Vor- und Nachteile. Ich bin dankbar für täglichen Besuch. Der Freund übt mit mir am Rollator und ergänzt meine spärlichen Physiotherapiestunden. Ich beiße die Zähne zusammen. Die ersten Schritte im Garten. Nie hätte ich gedacht, dass eine leichte Steigung allergrößte Probleme bereiten könnte. Immer torkle ich nach rechts. Selten kann ich selbst bestimmen, wohin meine Füße mich tragen. Tragen sie mich überhaupt?
Häufig weine ich. Immer alleine. Ich möchte nach wie vor stark sein. Es reicht, wenn ich selber mit mir hadere. So war ich schon immer. Belaste niemanden mit deinem Innersten, bis du gefragt wirst. Auch wenn du es dir anders wünschst. Eine Art Fehler im System.
Inzwischen bin ich auf der Normalstation. Der Professor steht regelmäßig vor meinem Bett mit seinen Ärzten. Er steht vor mir, die Arme verschränkt, wie vor einem Ausstellungsstück. Ich bin das Paradebeispiel für meine Krankheit. Die beschriebenen Diagnosen kann man an mir deutlich erkennen.
3. Woche: Heidelberg
Noch zwei Tage, dann werde ich verlegt. Verlegt in die Reha. Ich freue mich darauf, endlich loslegen zu können.
Diese Woche musste ich ein Interview, ein Konzert und eine Konferenz absagen. Alles Dinge, auf die ich mich gefreut hatte. Aber ich bin mir sicher, dass ich nächstes
Jahr mit mehr Kraft als zuvor zurückkehren werde.
Angekommen in der Klink Schmieder, Heidelberg. Ich lerne meine Therapeuten kennen. Die wichtigste wird meine Physiotherapeutin. Wir verbringen jeden Tag miteinander. Wenn man ihr zeigt, dass man bereit ist zu kämpfen, fordert sie einen heraus. Und ich fordere sie. Wir lachen, und wir sind ernst. Sie kommt mit meinem Temperament zurecht.
Am ersten Abend bekomme ich Besuch von Freunden und meinen Eltern. Das erste richtige Essen nach der pürierten Nahrung. Angeblich, so sagen sie, sieht man mir meinen Unfall gar nicht an, wenn man den Rollstuhl ausblendet. Ich weiß aber, dass ich ein schielendes Opossum bin. Flöte übe ich noch nicht, aber zwei Tage nach dem Unfall habe ich begonnen, zur Musik aus dem Kopfhörer zu dirigieren. Musik heilt Wunden.
4. Woche: Laufen lernen
Jetzt hätte ich eigentlich gerade ein Konzert mit dem Goldmund-Quartet hinter mir haben sollen. Danach Pfingsten in Leipzig, mit dem Komponisten Moritz Eggert und Lukas Dreyer am Cello. Stattdessen bin ich in der Rehaklinik. Meine Physiotherapeutin arbeitet jeden Tag mit mir, die Ergotherapie bringt mich dazu, mein Gleichgewicht langsam zu erspüren. In der Gang-Gruppe sind die anderen Patienten heute nicht dabei. Der Therapeut übt mit mir langsames Laufen, gibt mir Halt, motiviert mich, kleine schnelle Schritte zu machen. Und plötzlich passiert es: Ich jogge. Ich lache, lache laut und herzlich. Er ist der Held der Stunde. Keiner kann verstehen, wie sehr man sich freut, wieder laufen zu können. Keiner, der nicht schon einmal Ähnliches erlebt hat. Er ist mein Engel.
5. Woche: Ungeduld
Ein halber Körper ist kein ganzer. Es geht mir immer noch zu langsam. Eigentlich war mein Plan, dass ich nach einem Monat Reha den ganzen Kram hinter mir habe. Aber mit dem Plan ist mein Körper nicht einverstanden. Stattdessen jogge ich ein weiteres Mal. Und beginne langsam, Treppen zu steigen. Parallel dazu quäle ich mich durch Gruppen, in denen Menschen sitzen, die scheinbar noch nie etwas von körperlicher Bewegung gehört haben.
Ich tue etwas Verrücktes. Eine Freundin fragt mich, ob ich sie nach Freiburg zu einem Konzert im Jazzhaus begleiten möchte. Von den Ärzten lasse ich das absegnen. Und wir sitzen im Auto. Im Auto zu Sushi und dem Konzert von Fink. Sehen kann ich praktisch noch nichts, aber hören.
6. Woche: Unbesiegbar
Hüpf: Stufe, hüpf: neue Stufe, hüpf: nächste Stufe. Vier Stufen hintereinander am Stück, dann eine Pause. Ich glaube, kaum ein anderer Patient verbringt so viel Freizeit damit, seinen Körper immer weiter herauszufordern.
Ich habe Nackenschmerzen. Die gleichen Nackenschmerzen wie schon zwei Wochen vor dem Unfall. Aber ich beiße die Zähne zusammen, denn ich will meinen Körper spüren und weiß, dass unangenehme Gefühle dazugehören. Inzwischen wurde ich in den Gruppentherapien hochgestuft. Balanceübungen sind für mich eine Qual. Die Therapeutin sorgt sich, dass ich umfalle. Aber ich halte mich fest. An meinem Rollstuhl.
7. Woche: Fall des Ikarus
Flöte spielen fühlt sich komisch an. Ich sehe zu wenig, um Noten lesen zu können. Sport mache ich weiterhin. Heute geht es mit den Physiotherapeuten auf die Slackline. Was ich nicht hätte tun sollen: zeigen, dass ich einen Spagat kann. Es knallt zweimal. Da ich links keine Schmerzen mehr spüre, stellt sich erst zwei Wochen später stellt heraus, dass ich mir zwei Sehnen im Oberschenkel abgerissen habe.
Am Freitag MRT. Wegen des steifen Nackens, wie schon beim ersten Unfall. Dem Arzt sehe ich an, dass etwas nicht stimmt. Er hat an einer anderen Arterie ein Wandhämatom entdeckt. An dieser Stelle könnte ein neuer Einriss passieren. Es droht ein neuer Schlaganfall. Für mich bricht eine Welt zusammen. Ich weine und bin verzweifelt. Ich frage mich, welche Fehler ich gemacht habe. Ob ich zu viel wollte, zu schnell. Die Ärzte beruhigen mich, schicken mich wieder in die Rehaklinik. Sport und Querflöte sind jetzt erst mal verboten. Was bleibt mir noch übrig? Für vier Wochen bin ich nun ruhig gestellt, danach wird entschieden.
15. Woche: Geht doch!
Seit einer Woche stehe ich wieder ohne Rollstuhl auf den Beinen. Ich habe meine Reha um drei Tage verkürzt, weil ich zu einem Festival in die Normandie möchte. Dort darf ich entscheiden, ob und wie viel ich spiele. Tatsächlich schaffe ich es – die Bühne hat mich wieder!
2. Dezember 2017: Applaus!
Fast acht Monate sind vergangen, mein erstes Kontroll-MRT ist erfolgt … und meine ersten Flöten-Recitals! Ich bin glücklich, jetzt noch mehr als je zuvor. Ein Abend für Flöte und Klavier ist deutlich anstrengender als im Orchester zu spielen. Und ich habe es geschafft. Zwei Abende in Folge. Nicht einmal acht Monate nach dem Schlaganfall habe ich das mir gesteckte Ziel erreicht. Viele andere Ziele habe ich noch in meinem Leben. Und meine MRTs sprechen dafür, dass ich sie angehe. Die Bilder sehen so gut aus. Die Ärztin fragte mich sogar mit ratlosem Blick, warum ich denn in ihrem Gerät gelegen hätte. Zu viele Kekse verursachen Bauchschmerzen.
24. Januar 2018: Aufwärts
Es ist schön zu sehen, wie mein Körper mir mehr und mehr gehorcht. Heute hatte ich Ergotherapie, sprang auf einem Trampolin und fing dabei einen Ball. Immer wieder sehe ich schnelle Fortschritte, je mehr ich mich konzentriere. Genau wie bei der Flöte. Und gleichzeitig stimmen mich ein paar Gespräche traurig. Menschen, die mir berichten, dass sie von ihren Unfällen nicht erzählen. Aus Angst davor, im Beruf Nachteile zu haben. Oder aus Angst, dass Versicherungen ihnen Probleme bereiten. Bis auf ein Erlebnis hatte ich Glück. Mitmenschen freuen sich eher über meine Fortschritte. Sollten wir uns nicht gegenseitig unterstützen?