Sex scheint ein omnipräsentes Thema zu sein. Trotzdem wissen wir zu wenig, sagt Sexologin Ann-Marlene Henning. Ein Interview über trübe Zeiten in der Liebe, guten Sex und die Frage, warum das Gehirn das größte Geschlechtsorgan ist.
Frau Henning, Sie sind Sexologin, arbeiten in eigener Praxis, aber auch fürs Fernsehen und als Autorin. Wie sind Sie zu dem Beruf gekommen?
Ich bin Dänin und habe immer gerne über Sex geredet. Ich finde das Thema spannend, aber das Menschsein interessiert mich generell. Ich bin deswegen erstmal Psychologin geworden. Als Neuropsychologin habe ich in der Reha gearbeitet und hatte dann leider, weil bei mir Aneurysmen festgestellt wurden, selber eine Hirn-OP. Danach entschied ich, mich beruflich zu verändern. Dabei kam ein lustiger Zufall ins Spiel: Eine enge Freundin von mir fragte, warum ich nicht Sexologin werde. Sie hatte einen Kurs in Dänemark im „Sexologenzentrum" gesehen und gesagt: Der war voll mit Leuten wie dir.
Was heißt das denn – mit Leuten wie Ihnen?
Ich wusste, wie sie das meinte: Frauen in mittlerem Alter, die schon Krankenschwestern, Psychologinnen oder Hebammen waren und sich nun sexologisch fortbilden ließen. Ich habe mich direkt beworben und bekam zwei Wochen später die Zusage.
Also war da bei Ihnen sofort ein inneres Gefühl, dass Sie gesagt haben: „Das muss ich machen"?
Richtig, da gab es keine Diskussion. Es war ganz nach dem Motto „Wie blind konnte ich denn sein, warum bin ich nicht vorher darauf gekommen?". Seither ist es, als würde ich einen Magnet tragen, das Thema fliegt mich an. Und es ist goldrichtig, weil ich anscheinend entspannt mit einem Thema umgehe, das für viele andere wirklich sehr gespannt zu sein scheint.
Sind die Dänen entspannter?
Ich glaube ja. Wenn man bei uns das Fernsehen angemacht hat, dann gab es dort Gespräche zu sexuellen Themen und dem Liebesleben, in der Schule gab es früh Sexualunterricht, es gab Kolumnen über Sex, den Porno-Automaten neben dem Kiosk – das war eine andere Entspanntheit. Für uns war das ganz normal.
Sie sind schon einige Jahre in Deutschland. Was ist Ihr Eindruck, wie es um das Sexualleben der Deutschen bestellt ist?
Ich passe immer auf mit solchen Klischees. Was ich aber festgestellt habe, ist, dass in Dänemark Aufklärung politisch gewollt ist. Ein gutes Beispiel ist
es, wie der Spagat von Beruf und Familie durch öffentliche Unterstützung möglich gemacht wird. Dadurch bekommen Frauen eine andere Stellung in der Gesellschaft und können eine Meinung haben, die sich bis in die Sexualität zieht.
Im Osten Deutschlands war das ähnlich. Wer besonders entspannt bei mir in der Praxis spricht, erzählt übrigens oft, dass er im Osten aufgewachsen ist. Es gibt sogar eine Statistik, die belegt, dass die DDR-Frauen häufiger Orgasmen hatten als die West-Frauen. Wer eine bessere Aufklärung hat, fasst sich leichter an und schämt sich weniger.
Sie sagen auch, dass wir zu wenig über Sex wissen. Dabei hat man eigentlich den Eindruck, das Thema sei omnipräsent. Woher kommt das? Wissen wir das Falsche?
Ich spreche in dem Zusammenhang von „Weltscham". Man schämt sich generell beim Thema Sex. Die natürliche Scham ist wichtig, sie schützt und wahrt die Intimität. Aber diese übertriebene, anerzogene Scham, bei der man denkt, weder darüber sprechen noch genussvollen Sex haben zu sollen, verhindert, dass man sich mit der eigenen Sexualität beschäftigt. Omnipräsent sind dagegen die sexuellen Möglichkeiten, die Erlaubnis, das alles geht und auch der Sex der anderen – aber eben nicht der eigene und vor allem dann nicht, wenn er nicht klappt."
Also würden Sie sagen, wir wissen zu wenig, weil wir uns schämen, nach dem zu fragen oder über das zu reden, was wichtig wäre?
Ja, das finde ich gut auf den Punkt gebracht.
Mit Ihren Büchern und dem Doku-Format „Make love" wollen Sie den Leuten vermitteln, dass man Liebe-machen lernen kann. Wie definieren Sie denn guten Sex?
Wenn beide etwas spüren und wenn beide das wollen. Es werden viele Grenzen überschritten, auch in Fällen, in denen beide zuerst wollen. Auf einmal ist einem irgendetwas unangenehm und trotzdem wird weitergemacht. Gerade Frauen haben die Tendenz, für den anderen mitzumachen.
Da ist es wieder, die Frauen nehmen es nicht in Anspruch, auf sich zu achten. Sex sollte aber ein gutes Erlebnis von beiden sein, von dem man hinterher sagt: „Wow, das hat Spaß gemacht". Natürlich empfiehlt es sich, den eigenen Körper zu kennen und zu mögen, ein bisschen Erfahrung mitzubringen und sich zu trauen, in emotionalen Kontakt zu gehen.
Weil Sie gerade angesprochen haben, dass viele Frauen sich nicht trauen, mittendrin aufzuhören. Was raten Sie denen?
Mittendrin aufzuhören. (lacht)
Ich dachte es mir fast. Was ich meine: Deren Sorge ist ja vermutlich, wie sie ihr Anliegen gut kommunizieren?
Ich würde so etwas sagen wie: „Lass mal kurz, warte mal, können wir mal langsamer werden, nur kurz hier liegen, ich kann gerade nicht weitermachen" – das ist eine Art zu stoppen, bei der man nicht unbedingt ganz aufhört. Denn wenn man diese kleine Pause einlegt und wieder in Kontakt geht, kann es gut sein, dass man gar nicht mehr aufhören möchte.
Sie haben auch ein aktuelles Buch über solche Fälle geschrieben, „Liebespraxis. Eine Sexologin erzählt" heißt es. Mit welchen Problemen kommen die Leute in Ihre Praxis?
Das ist ganz einfach, denn das hat sich nicht viel geändert: zu früh kommen, gar nicht kommen, Erektionsprobleme, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Vaginismus, keine Lust, Kommunikationsschwierigkeiten bei Paaren, Untreue. Jetzt kommen auch immer öfter Leute, die eigentlich eine Zeitmanagement-Beratung bräuchten.
Also Menschen, die ein Problem mit ihrem Sexualleben haben, weil sie keine Zeit dafür finden?
Genau, weil sie keine Zeit finden, zu zweit zu sein, keine Energie mehr dafür haben und körperlich wenig präsent sind. Es geht nie gut, wenn man die ganze Zeit angespannt und gestresst ist.
Das ist ein gutes Stichwort. Sie sagen nämlich auch, unser Kopf ist unser größtes Geschlechtsorgan – wieso?
Das Gehirn ist aus zwei Gründen unser größtes Geschlechtsorgan. Zum einen laufen alle Verbindungen über Schaltzentralen im Gehirn – nur so kann ich spüren. Zum anderen entscheidet das Gehirn danach, wie ich diese verschiedene Signale wahrnehme und empfinde. Das hängt davon ab, ob ich aufgrund meiner Erfahrungen etwas Gutes oder Schlechtes damit verbinde. Das Gehirn kann so großen Genuss ermöglichen, Erregung aber auch komplett verhindern. Was das Gehirn nicht will, wird nicht gemacht.
Können Sie zwei, drei gute Tipps für ein besseres Liebesleben geben?
Bewegung und Atmung fördern das Feuer. Ein anderer Tipp wäre, sich emotional zu trauen. Der Partner darf ruhig mal einen Stöhner mitbekommen. Meine dritte Empfehlung ist es, in der Sexualität spielerischer zu sein, sich zu trauen mehr auszuprobieren, und dabei in jedem Fall neugierig zu bleiben.
Sie schreiben in Ihrem Buch über Ihre eigenen Liebesbeziehungen, Sie hätten sowohl trübe Zeiten als auch leuchtende Momente gehabt. Ich lese da eine große Akzeptanz von Negativem und Positiven, was mich zu der Frage bringt, ob wir zu viel erwarten?
Ich finde ja. Das ist wie beim Glück. Wir stellen uns eine Riesenwelle vor, wie ein Tsunami, dabei sind es oft nur ein paar Sekunden. Wir denken, Sexualität und Liebe müssten sein wie in Hollywood, man reißt sich die Klamotten vom Leib und fährt stundenlang auf Hochtouren. Wir hecheln alle etwas hinterher, das so nicht existiert.
Über Ihre aktuelle Situation sagen Sie, Sie hätten mehr Hoffnung denn je, denn Sie seien glücklich verliebt. Haben Sie das Gefühl, diese Liebe ist Ihnen zugeflogen oder würden Sie sagen, das war ein Prozess, dass Sie das so leben und haben können?
Beides. Bestimmte Dinge zieht man einfach so an, aber ich habe auch gezielt gesucht. Ich habe Freunden erzählt, ich würde gerne einen neuen Freund finden, und es würde mich freuen, wenn der so und so wäre.
Ich hatte davor das Problem, dass ich keine Dates bekomme und die, die ich hatte, einen Tag vorher abgesagt wurden. Ich nehme an, nachdem sie mich gegoogelt haben.
Glauben Sie, die Männer hatten Panik, Sie zu treffen?
Ja, das haben einige gesagt. Viele meinten früher zu mir „Oh, Sie sind Psychologin, da muss ich aufpassen, Sie schauen mir in den Kopf". Jetzt bin ich Sexologin und schaue in die Hose. Kürzlich habe ich den Satz geäußert: „Psychologen schauen in den Kopf, Sexologen in die Hose – Herzlichen Glückwunsch, ich bin beides." (lacht)
Der andere Punkt ist, dass ich mittlerweile genau weiß, was ich suche: einen entspannten Mann, mit dem ich reden kann und der Zeit hat.
Außerdem ist es natürlich Arbeit, eine Beziehung zu führen, die sich auch entwickeln soll. Mein jetziger Partner und ich haben uns nicht schlagartig verliebt, sondern unsere Liebe ist gewachsen. Wenn ein kolumbianischer New Yorker, der zehn Jahre in Dänemark gelebt hat, nach Deutschland kommt und die Sprache nicht beherrscht, ist alles nicht einfach nur gut.
Aber wenn es Liebe ist, können wir es schaffen.
Können Sie in der Hinsicht dem Leser, der vielleicht gerade nicht glücklich ist, Mut machen?
Ja, das kann ich. Man muss sich vom Hollywood-Traum verabschieden. Dann kann man Sexualität und Liebe entspannter anschauen und erleben.