Anstieg von Gewalt und Aggression, Verrohung, Cybermobbing, Gaffer: Gehen in Deutschland die Werte vor die Hunde? Werteforscher Professor Christian Welzel, Vizepräsident der Weltwertestudien, der umfangreichsten und weiträumigsten Wiederholungsbefragung über menschliche Werte, gibt Entwarnung.
Herr Welzel, in einem Ihrer wissenschaftlichen Beiträge zur Wertewandelforschung sprechen Sie von kollektiven Werteprofilen. Was genau ist das?
Man kann von Werteprofilen in dem Sinne sprechen, dass bestimmte Wertorientierungen besonders typisch für bestimmte Länder sind und deren nationale Mentalität prägen. Dabei gruppieren sich die einzelnen Länder in eine kleinere Anzahl von Kulturkreisen, innerhalb derer die verschiedenen Bevölkerungen ähnliche Wertorientierungen teilen. Eine Haupttrennlinie zwischen diesen Kulturkreisen verläuft zwischen westlichen und nicht-westlichen Kulturen. Dieser Unterschied macht sich zum Beispiel daran fest, wo solide und gut funktionierende Demokratien vorherrschen (Westen) und wo eher autokratische Systeme das Geschehen bestimmen (Nicht-Westen). Insgesamt kann man die Welt in etwa zehn Haupt-Kulturkreise unterteilen, darunter die beiden protestantisch und katholisch geprägten westlichen Kulturkreise in Westeuropa, Nordamerika sowie Australien und Neuseeland, der russisch-orthodoxe Kulturkreis in Mittel-/Osteuropa und Nord-/Zentralasien, der islamisch geprägte Nahe und Mittlere Osten, inklusive Nordafrika, die indisch-hinduistisch und sinisch-konfuzianisch geprägten Kulturkreise Süd- und Ostasiens, das Subsaharische Afrika, Lateinamerika und Ozeanien im Südpazifik.
Welche Einflüsse gibt es noch auf das Werteprofil eines Landes?
Zum einen ist es so, dass die Kulturkreise aus der Migrationsgeschichte entstanden sind und sich deshalb um gewisse ethnische Schwerpunkte gruppieren. Entsprechend formieren sich die Kulturkreise auch entlang bestimmter Sprachfamilien. Darüber hinaus sind die Wertesysteme der einzelnen Kulturkreise durch gemeinsame Religionen sowie durch die Zugehörigkeit zu denselben historischen Reichsbildungen gekennzeichnet. Zu diesen konstanten Prägungsfaktoren kommt nun aber noch ein dynamisches Element, nämlich wie die Kulturen den Übergang in die moderne industrielle Welt erfahren haben: unter Kolonialherrschaft oder Wahrung ihrer Eigenständigkeit; unter rapidem Wohlstandszuwachs und Freiheitsgewinn für die breite Masse der Bevölkerung oder unter Fortbestand von Not und Unterdrückung.
Welche dieser beiden Kontrasterfahrungen für die Menschen einer Kultur vorherrschend sind, schlägt sich nachhaltig in deren Mentalität nieder. Unter Not, Unterdrückung und existenziellen Bedrohungen schaltet die menschliche Psyche in den Überlebens- und Schutzmodus. In diesem Modus orientieren sich die Werte in Richtung Anerkennung von Autorität sowie Ein- und Unterordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft, wobei diese als geschlossen und einheitlich idealisiert wird. Es wird zum Beispiel Wert gelegt auf Disziplin, strikte Ordnung, drakonische Strafen. In diesem Schutzmodus sind die Menschen intolerant gegenüber Diversität und Pluralität, weil das die Einheitlichkeit und Geschlossenheit infragestellt. Die Gruppe soll stark gemacht werden.
Deutschland ist ein Land, dem es verhältnismäßig gut geht. In welchem Modus sind wir?
Den Gegenpol zum Schutzmodus würde ich als Entfaltungsmodus bezeichnen. Das heißt, dass man aufgrund besserer materieller Bedingungen und größerer Selbstverwirklichungschancen das Leben nicht mehr vorrangig als Quelle von Bedrohungen sieht, sondern als eine Quelle von Möglichkeiten und Optionen. Die Werte ändern sich in Richtung Emanzipation. Man toleriert Diversität und Pluralität, legt Wert auf Selbstentfaltung und Entscheidungsfreiheit, aber auch auf Chancengleichheit. Das hat eine antidiskriminierende Stoßrichtung. Man akzeptiert zum Beispiel nicht mehr, dass Menschen wegen Hautfarbe, Ethnie, Geschlecht oder Generationszugehörigkeit ungleich behandelt werden. Das empfindet man als ungerecht.
Die Grundströmung, die wir hierzulande seit der 68er-Bewegung beobachten, ist ein stetiger Anstieg dieser emanzipativen Werte in allen Bevölkerungsschichten. Wenn wir in unsere repräsentativen Umfragen schauen, stellen wir keinen Verlust der Werte fest, wie zum Beispiel Verlust von Engagement, Solidarität. Im Gegenteil, man stellt höhere Empathie durch weite Teile der Bevölkerung fest. Entscheidungsfreiheit und Chancengleichheit sind die Themen, die in Deutschland sehr stark im Aufschwung begriffen sind.
Beim Stichwort Empathie hat man in letzter Zeit allerdings einen anderen Eindruck. Wenn man zum Beispiel immer wieder von Gaffern hört, die Unfallopfer filmen und die Aufnahmen im Internet verbreiten.
Unsere Aufmerksamkeit wird natürlich sehr stark durch die Aufmerksamkeit der Medien geprägt. Bei den Medien ist es so, dass sie das Untypische aufgreifen, das aus der Normalität heraussticht, weil das Aufmerksamkeit erzeugt. Dadurch verlieren wir zuweilen den Blick für das, was eigentlich das Normale ist, weil das nicht ins Auge fällt. Hinzu kommt, dass sich die Konzentration der Medien auf das Untypische mit einer Konzentration auf das Negative verbindet. Skandal- und Katastrophenmeldungen und Bedrohungsszenarien erzeugen Aufmerksamkeit. Das hat damit zu tun, wie die Evolution unsere Kognition geformt hat: Für unser Überleben im Naturzustand war es wichtiger, Bedrohungen zu vermeiden als Chancen zu nutzen, weil eine verstrichene Gelegenheit – im Unterschied zu einer unmittelbaren Gefahr – nicht gleich lebensbedrohend ist. Bedrohungen binden unsere Aufmerksamkeit daher stärker als Chancen. Die mediale Realitätsdarstellung folgt unbewusst diesen Urprägungen menschlicher Kognition und zeigt uns daher oft eine Wirklichkeit, in der das Untypische und das Krisenhafte einen unverhältnismäßig großen Anteil einnehmen.
Es sind ja nicht nur die Medien. Wenn man sich mit Leuten unterhält, hört man doch immer wieder von Erfahrungen, wie zum Beispiel mehr Aggression im Straßenverkehr, mehr Gewalt an Schulen. Ist das alles nur subjektiv?
Ja! Das sehe ich definitiv so. Wir sehen in unseren Daten einen deutlichen Anstieg der Toleranz, des Vertrauens in Außengruppen, die weiter weg von uns sind. Wir sehen da viel mehr positive Dinge, als erst mal aus der Medienaufmerksamkeit herauskommt. Emanzipation ist die Hauptströmung in der Gesellschaft.
Wie passt das denn zu dem Zulauf bei der AfD?
Durch die zunehmende ökonomische Ungleichheit, die wir seit Anfang der 80er-Jahre beobachten, gibt es die Gruppe der Abhängten. Durch diese Gruppe und die sich damit öffnende soziale Schere beobachtet man auch, dass der Wertewandel unterschiedlich schnell verläuft. In Richtung Emanzipation haben sich alle bewegt, aber die Abgehängten sehr viel langsamer.
Es gibt also zwei parallele Strömungen?
Genau. Die eine war halt viel schneller. Bei den Abgehängten, die zum Beispiel auch die Wahl von Donald Trump in den USA entschieden haben, hat das viel langsamer stattgefunden, sodass die Polarisierung über die Jahre stärker geworden ist. Die Leute sind heute weiter voneinander entfernt, wenn es zum Beispiel um die Anerkennung von Themen wie Homosexualität und gleichgeschlechtlicher Ehe geht. Die Moralkonflikte haben eine stärkere Brisanz bekommen, weil die unterschiedlichen Bevölkerungsschichten stärker polarisiert sind.
Glauben Sie, dass diese zwei Strömungen noch weiter auseinander gehen werden?
Das hängt davon ab, was die Politik macht und ob sie in der Lage ist, den Trend zu wachsender ökonomischer Ungleichheit wieder zu drehen. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die 80er-Jahre war es so, dass der steigende Massen-Wohlstand in den westlichen Gesellschaften einherging mit einer Verringerung der Einkommensunterschiede. Seit Anfang der 80er-Jahre aber, mit dem Siegeszug des Neoliberalismus, hat sich dieser Trend in sein Gegenteil verkehrt. Das müssen wir wieder in den Griff kriegen.
In jüngster Zeit wird auch über eine zunehmende Verrohung der Gesellschaft gesprochen. Vergangenes Silvester zum Beispiel gab es deutschlandweit auffallend viele Angriffe auf Rettungskräfte. Neu waren dabei auch die teilweise recht brutalen Attacken. Ein Beweis für die Theorie der Verrohung?
Ich weiß nicht, ob unser Blick auf die Vergangenheit nicht manchmal zu rosig ist. Wenn ich mich an meine Jugend zurückerinnere, da war eine „zünftige“ Wirtshausschlägerei durchaus nichts Ungewöhnliches, und häusliche Gewalt war gewissermaßen auch an der Tagesordnung. So zeigt auch die Statistik, dass Gewaltverbrechen über die vergangenen Jahrzehnte massiv zurückgegangen sind, ebenso wie verschiedene Formen der Diskriminierung – etwa am Arbeitsplatz. Die „Me too“ Debatte zum Beispiel greift ja Übergriffe auf, die zum Teil Jahrzehnte zurückliegen und welche die Frauen früher einfach weggeschluckt haben. Damit ist es jetzt offensichtlich vorbei, was ein drastischer Wandel der Kultur zum Menschlicheren ist. Ich befürchte daher, dass die ganze Verrohungsdebatte die Vergangenheit auf dramatische Weise romantisiert. Ein anderes Beispiel. Es wird immer gesagt, dass Depression in der Gesellschaft zunimmt. Aber Psychologen haben gezeigt: Was sich verändert hat, ist die Diagnostik. Wir haben einfach viel sensiblere Instrumentarien, um das überhaupt zu dokumentieren. Dann entsteht der Eindruck, ein bestimmtes Phänomen sei angestiegen, auch wenn es nicht der Fall ist. Ich glaube, dass bei der Verrohungs-Debatte was Ähnliches stattfindet.
Sie sagen also, dass es hierzulande generell keinen Werteverlust gibt. Wo erkennt man denn zum Beispiel den Anstieg der Werte?
Wenn man sich anschaut, wie sich die Ziele der Kindererziehung verändert haben. Man fragt zum Beispiel in den Umfragen, welche Eigenschaften Eltern in ihren Kindern gerne sehen würden. In den 50er-Jahren wurden da stark betont: Pflichtbewusstsein, Anerkennung und Respekt von Autorität, Fleiß, Sparsamkeit, Disziplin. Heute: Kreativität, kritisch sein, Selbstbewusstsein gegenüber Autoritäten, Rückgrat haben, Vorstellungskraft, Fantasie. Das hat sich schon sehr deutlich in Richtung Entfaltungswerte entwickelt. Man sieht es besonders deutlich in der Sexualmoral. Da beobachtet man stärkste Veränderungen, also die Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlicher Ehe, Homosexualität. Das hat eine Wahnsinns Dynamik erfahren, das sieht man ganz deutlich in den Umfragen.
Vor ein paar Wochen hat eine Saarbrücker Schule deutschlandweit Aufmerksamkeit durch einen Brandbrief erregt, in dem sie beklagt, dass es an ihrer Schule fast nicht mehr möglich ist, zu unterrichten, wegen steigender Gewalt durch Schüler, vor allem gegen Lehrer. Wie passt das da rein?
Das müsste man auf der Grundlage einer flächendeckenden Erhebung sehen, ob da wirklich eine Zuspitzung zu verzeichnen ist, die nicht so typisch für das Gesamtbild ist. Ohne Datengrundlage kann man das schwer sagen.
Denken Sie, das sind Einzelfälle?
Das wäre meine Vermutung. Man muss natürlich auch sagen, dass sich bei bestimmten Sachen unsere Wahrnehmung, unsere Sensibilität für bestimmte Probleme verschärft hat. Weil die Maßstäbe unserer Werte sich verändert haben. Das kann damit zusammenhängen.
Anfangs sagten Sie, dass ein Werteprofil eines Landes auch durch Religion geprägt wird. Welche Werteveränderung ist hierzulande durch die Migranten aus anderen Kulturen wie dem Islam zu erwarten?
Das trägt natürlich zu dieser Wertepolarisierung bei, weil die Zuwanderung insbesondere aus den islamischen Ländern natürlich eine konservative Kultur in unser Land importiert. Wenn man zum Beispiel auf emanzipative Werte schaut, stehen diese Menschen weitgehend ungefähr da, wo die Westdeutschen in den 50er-Jahren standen. Das erzeugt natürlich Spannung, und es entstehen auch Identitätskonflikte. Insbesondere bei den Leuten, die sich abgehängt fühlen, für die der Eindruck entsteht, dass der Staat sehr viel für die Zuwanderung tut, aber nichts für sie. Das übersetzt sich auch in einen Kulturkonflikt, wenn man sich dann in der Identität überfremdet fühlt. Das kann zu einer Identitätskrise führen. Das ist genau der Punkt, wo die Rechtspopulisten diese Menschen dann abholen. Die machen ihnen ein Identitätsangebot.
Welche Entwicklung ist da zu erwarten?
Das ist die große Frage. Die Politik reagiert natürlich auch zum Teil, um den Rechtspopulisten das Wasser abzugraben, in dem sie sich in Fragen von Zuwanderung ein Stück weiter nach rechts bewegen. Ich glaube auch, dass das zum Teil notwendig ist, damit die Rechtspopulisten nicht noch stärker werden. Bei allem Altruismus für die Zuwanderer ist es so, dass die mentale Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft begrenzt ist. Man steht vor der Wahl, ob man tatsächlich gewisse Beschränkungen einführt oder weiter die Rechtspopulisten im Aufschwung begriffen sehen möchte.