Manches wird erst bewusst, wenn es in Gefahr gerät. Diskussionen über „unsere Werte“ haben Konjunktur. Dabei bleibt oft unklar, worüber der Streit eigentlich geht.
Früher war alles besser. Die Erde war eine Scheibe, die heilige Inquisition bewahrte den rechten Glauben vor Ketzerei, Platon war schon lange tot, Kant ließ noch auf sich warten. Aber eines war schon seit den alten Griechen klar: Um die Jugend ist es nicht allzu gut bestellt, folglich sind sämtliche Werte dem Niedergang ausgesetzt. Bekanntlich arbeitet „die Jugend“ bis heute daran, und die Alten sehen immer noch alle Felle, pardon: Sitten, Gebräuche, Anstand und Tugend, irgendwie die ganzen Werte, den Bach runter schwimmen.
Die Klagelieder über den Werteverfall sind nicht neu und scheinen doch eine neue Qualität in der digitalen Welt zu haben. Für die Geschwindigkeiten und Möglichkeiten der schönen neuen Netzwelt sind wir Menschen nicht geschaffen, argwöhnen Anthropologen und Kulturskeptiker. Als wäre das nicht schon Herausforderung genug, sehen nicht wenige gleich das ganze Abendland samt seiner „Werte“ dem Untergang geweiht. Und schon ist der schönste Streit im Gang. Die einen wollen „Werte“ via „Leitkultur“ in Programmen und Gesetzen zementieren, andere irren mit ideologisch gewetzten Messern durch die Lande. Dazwischen tummeln sich alle Schattierungen möglicher Beiträge. „Werte“ haben wieder Konjunktur, seit man sie bedroht wähnt.
Nur worüber wird da eigentlich gestritten, wenn von den oder gar „unseren Werten“ die Rede ist? Es hat etwas von der tückischen Kinderfrage nach dem „Warum?“, die einen bekanntlich zum Wahnsinn treiben kann. Da hüpft die Debatte ganz schnell und unphilosophisch zwischen einfachen Anstands- und Benimmregeln über „gute“ Sitten bis zur „Kultur“ (etwa im Sinn einer Unternehmenskultur) durcheinander, und am Ende ist „das Abendland“ bedroht und alles, was uns lieb, teuer und etwas wert ist.
Auf der Suche nach einer einigermaßen einheitlichen Definition, was denn nun diese ominösen „Werte“ seien, haben Experten etwa 100 Begriffe zusammengetragen, mit denen man eine Beschreibung versucht. Auf etwa 400 kommt man auf der Suche nach „Wertvorstellungen“, und nimmt man Synonyme dazu, ist man schnell bei einer vierstelligen Zahl. Die Liste der „Enzyklopädie der Werte“ reicht von „Achtsamkeit“ bis „Zuverlässigkeit“, was letztlich auch nur Eigenschaften sind, die wir mit einer Wertvorstellung verbinden.
Werte, Ethik, Moral, Normen, Anstand, gute Sitten – im Alltagsgespräch wird meist alles ziemlich durcheinandergerührt. Letztlich schwingt bei allem immer eine mehr oder weniger klare Vorstellung darüber mit, was man für „das Gute“ hält.
Genau darüber haben sich die Herren Sokrates, Aristoteles, Platon und einige mehr schon vor zweieinhalbtausend Jahren den Kopf zerbrochen. Die „sokratische Wende“, die nichts weniger bedeutet, als dass die menschlichen Angelegenheiten in den Mittelpunkt der philosophischen Betrachtungen rückten, gilt als die Geburtsstunde der „Ethik“. Deren Grundthema ist bis heute die Frage nach einem moralisch guten Handeln. Mehr als eineinhalbtausend Jahre später stellt der Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, immer noch die Frage „Was soll ich tun?“. Im Zentrum seiner „Ethik“ entwickelt er das Grundprinzip seines berühmten „Kategorischen Imperativs“: „…handele nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Wem die Formulierung zu altertümlich vorkommt, kann sich an einer Volksweisheit orientieren: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu“.
Nicht umsonst gehört die „Ethik“ zur „praktischen Philosophie“. Was aber nicht bedeutet, dass dadurch konkrete Handlungsanweisungen zu erwarten sind, wohl aber ein Orientierungsrahmen für Entscheidungen in konkreten Zusammenhängen. Im Kern dreht es sich um Fragen zum Verhältnis Individuum – Gesellschaft, um Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, kurz: um Werte, die heute als selbstverständlich gelten, aber ohne Operationalisierung, also Hinweisen zur konkreten alltäglichen Anwendung, auch erst einmal nur als Worthülsen dastehen.
Konkret werden Werte einer Gesellschaft in ihren Normen, sprich Gesetzen, mit der bemerkenswerten Eigenschaft, dass „Werte attraktiv, Normen restriktiv“ sind. Werte sind Idealbilder einer Gesellschaft. Weil nun aber der Mensch alles, nur nicht ideal ist, und auch nicht in der Hoffnung von Kant nur unter Gebrauch der Vernunft handelt, werden Verstöße gegen die grundlegenden gesellschaftlichen Werte sanktioniert. Der Ruf, etwas gesetzlich zu regeln, ist folglich erst einmal der Ausdruck des Wunsches, andere zu einem Verhalten zu veranlassen, das man selbst als „gut“ erkannt zu haben glaubt.
Am Ende ist alles bedroht
Die Flut der Gesetze, bei denen Deutschland eine ziemlich unangefochtene Spitzenposition weltweit innehat, ist unter anderem dem Bestreben nach Einzelfallgerechtigkeit geschuldet. Das hat nun der altehrwürdige Kant gewiss nicht mit seinem „Kategorischen Imperativ“ gemeint.
Die Frage, ob es nun „universelle“, also allgemeingültige Werte gibt, zieht sich ähnlich durch die Philosophiegeschichte wie die Suche nach der Weltformel durch die Naturwissenschaften.
Von den Zehn Geboten und der Bergpredigt über die Aufklärung bis zur UN-Menschenrechtscharta kristallisieren sich Kerne eines gemeinsamen Wertebestandes unter dem Kernbegriff der Würde des Menschen heraus. Womit sich im Wesentlichen „westliche“ Vorstellungen durchgesetzt haben.
Dass das keineswegs alles und womöglich auch noch nicht das letzte Wort ist, zeigen beispielhaft zwei prominente Versuche: Initiiert vom Kirchenkritiker Hans Küng hat ein „Weltparlament der Religionen“ vor gerade erst 25 Jahren eine Erklärung zum „Weltethos“ verabschiedet mit dem Ziel, den Grundbestand ethischer Normen aus den unterschiedlichen Bereichen der Religionen, Philosophien und kultureller Traditionen der Menschheit herauszuarbeiten. Unter der Maxime „Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden“ stehen Werte wie Gewaltlosigkeit, Solidarität, Toleranz, Wahrhaftigkeit und Gleichberechtigung.
Werte sind regulative Fiktionen, aber nützliche Fiktionen
Eine noch jüngere Initiative ist die „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“, 1997 vorgelegt als bewusstes Pendant zu den Menschenrechten. Kernbotschaft ist die Pflicht zu „menschenfreundlichem Verhalten“. Jeder Einzelne trage die Verantwortung seines Handelns und sei verpflichtet, sich „im Geist der Brüderlichkeit“ zu verhalten, konkret ein Leben in „Wahrhaftigkeit und Toleranz“ zu führen. Niemand, weder ein Individuum noch eine Institution oder ein Staat, dürften einen anderen belügen, betrügen oder manipulieren. Ebenso wird eine ungerechte Wirtschaftsordnung als menschenfeindlich abgelehnt. Damit ist ein Kernbestand grundlegender Werte als Gerüst für Kulturen formuliert, der sich über die Generationen hinweg aus unterschiedlichen Quellen herauskristallisiert hat.
Allgemein anerkannte Werte stehen aber keineswegs konfliktfrei nebeneinander. Plastisch zeigt sich das an jedem geplanten Neubau eines Windrades. Oder im Widerstreit zwischen Freiheit und Sicherheit. Der Philosoph Andreas Urs Sommer vermutet, Werte seien letztlich „regulative Fiktionen“, in denen sich Gesellschaften „über das Gewollte und das Gesollte“ verständigen, somit je nach Entwicklung und individuellen Bedürfnissen umgestaltet werden können. Im Übrigen seien Werte relativ und kämen „immer nur im Plural vor“, ihre „große Leere“ sei gleichzeitig „ihre größte Stärke“. Sein Plädoyer: Wir brauchen Werte, aber wir brauchen sie nicht zu verklären.