Vor einigen Wochen machte die saarländische Bruchwiesenschule mit einem Brandbrief deutschlandweit Schlagzeilen. Wegen körperlicher und verbaler Gewalt, auch gegen Lehrer, sei kein Unterricht mehr möglich, hieß es. Der Hilferuf rückte das Thema Gewalt an Schulen in die Öffentlichkeit. Was ist los mit der „Jugend von heute“?
Das Thema Gewalt an Schulen scheint Hochkonjunktur zu haben. Jeden Tag springen Schlagzeilen ins Auge von Hilferufen verzweifelter Schulen, von Messerstechereien auf dem Schulhof, von Mobbing im Klassenzimmer. Die Eskalation der Gewalt an Bildungseinrichtungen ist zu einem beliebten Thema der Medien geworden, doch gerade dabei ist auch Vorsicht geboten. Obwohl die Meldungen dazu verleiten, ist Kulturpessimismus nicht angebracht. Denn nicht immer lässt sich unterscheiden, was Einzelfall und was tatsächlich als allgemeine Tendenz charakterisierbar ist. Bettina Hannover, Professorin für Schul- und Unterrichtsforschung an der Freien Universität Berlin, nennt es eine „schwierige Debatte“, bei der sich nicht klar unterscheiden lässt, ob es eine höhere Sensibilität gibt, allein schon deshalb, weil Schulen mittlerweile dazu verpflichtet sind, jeden Vorfall zu melden, oder ob die konkreten Zahlen tatsächlich andere geworden sind. Hannover schätzt die Situation letztlich so ein: „Ich würde auf keinen Fall sagen, dass es einen klaren Trend gibt, dass wir immer mehr Gewalt an Schulen haben.“ Trotzdem ist die Jugend von heute unter Generalverdacht geraten.
Der Generationenkonflikt ist nicht neu. Schon im Alten Ägypten prangerte vor 4.000 Jahren die Elterngeneration den Sittenverfall an: „Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.“ Im antiken Griechenland, etwa 1.500 Jahre später, war es Sokrates, der konstatierte: „Der Lehrer fürchtet und hätschelt seine Schüler, die Schüler fahren den Lehrern über die Nase und so auch ihren Erziehern.“ Wieder einige Jahrhunderte danach geriet selbst der junge Goethe wegen seines verwerflichen Werther-Romans ins Kreuzfeuer der Älteren.
Unverständnis für das Verhalten der Jugend gab es schon immer. Dieses Argument allein als Erklärung anzuführen ist allerdings genauso wenig zutreffend wie die gängige Gegenthese, dass früher alles besser war. Was sich wertneutral festhalten lässt ist, dass die Gesellschaft und mit ihr auch Werte und Normen sich ständig wandeln. Mehr als an alten Strukturen festzuhalten, ist es deshalb wichtig, flexibel auf die Veränderungen zu reagieren. Besonders im Bereich der Schulen.
Gewalt an Schulen gibt es, das steht fest. Lisa Brausch, Landesvorsitzende des Saarländischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, erzählt, dass Gewalt gegen Mitschüler und auch Lehrer tatsächlich schon in Grundschulen Thema ist. Grund-, Förder- und Gemeinschaftsschulen sind besonders stark betroffen, Gymnasien seltener. Der Verband Bildung und Erziehung VBE, die parteipolitisch unabhängige Bildungsgewerkschaft, hat diese Tendenz untersucht und kürzlich in einer Umfrage mit dem Titel „Das Tabu brechen – Gewalt an Schulen“ festgehalten. Es gibt körperliche und psychische Gewalt. Körperliche Gewalt reicht laut der Studie des VBE von Schlagen, Schütteln, Stoßen, Treten, Boxen bis hin zum Werfen mit Gegenständen oder dem Prügeln mit den Fäusten. Psychische Gewalt zeigt sich in Form von Beschimpfungen, Abwertungen, Drohungen oder Belästigungen. Sie trifft Schüler und mittlerweile auch immer mehr Lehrer, wie die Umfrage belegt.
Werte wandeln sich ständig
Zusätzlich sorgt sich Brausch, selbst Lehrerin an einer Grundschule, um das Potenzial, das die Digitalisierung birgt. Schüler und Lehrer werden in sozialen Netzwerken Opfer von Cybergewalt und Diffamierung, etwa durch hochgeladene Fotos oder Videos der eigenen Person. Eine Erklärung für den Anstieg liegt für Brausch auch in der Unmittelbarkeit der digitalen Kommunikation: „Es werden durch die Schnelligkeit der Reaktion Sachen geschrieben, die man sonst vielleicht nicht schreiben würde.“ Um angemessen auf Cybermobbing zu reagieren, ist ganz klar die Schulung der Medienkompetenz ein wichtiges Ziel. „Bei Schülern und bei Lehrern“, betont Brausch.
Eine Tendenz zu neuen und vielfältigeren Formen von Gewalt bemerkt auch Professorin Hannover, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass die Aufmerksamkeit für diese komplexeren Strukturen an Schulen bereits deutlich gestiegen sei. Immer mehr Schulen integrieren Gewaltprävention und Wertevermittlung in den Schulalltag. Im Idealfall werden sie dabei vom Dienstherr mit den nötigen Mitteln unterstützt. Auf diese Notwendigkeit verweist auch Lisa Brausch und mahnt an, dass Lehrerinnen und Lehrer sich auf den Rückhalt des Dienstherrn verlassen können müssen, wenn sie Opfer von Gewalt werden. Dazu sei es unerlässlich, dass Gewalt an Schulen gesellschaftlich und vor allem auch in Bildungsinstitutionen nicht mehr als Tabuthema gehandelt wird, damit Betroffene sich überhaupt trauen, Hilfe zu suchen. Für einen Umgang mit Gewaltvorfällen ist zudem wichtig, dass auch das jeweilige Kollegium gemeinsam agiert. „Man kann Mobbing wirkungsvoll vorbeugen, wenn es ein Kollegium gibt, das ganz klar gemeinsame Regeln teilt. Schulen, an denen keine Normen etabliert sind, haben da ein Problem“, erklärt Hannover.
Wie die Reaktion einer Schule aussehen kann, erklärt Brausch. Wird ein Schüler gewalttätig, laufen für gewöhnlich zwei Mechanismen parallel ab. Einerseits gibt es feste Schulordnungsmaßnahmen, die gesetzlich vorstrukturiert sind. Sie beginnen mit einem schriftlichen Verweis und reichen über den Ausschluss von Klassenaktivitäten bis hin zur Konsequenz, dass der Schüler die Schule verlassen muss. Diese Maßnahmen haben den Charakter der typischen Bestrafung und dienen durchaus der Abschreckung. Andererseits gibt es die Möglichkeit, „dass das Fehlverhalten durch ein altersgerecht angepasstes Sozialprojekt ausgeglichen wird“, erwähnt Brausch und betont, dass dies besonders wichtig sei. Dabei soll es nämlich weniger um Bestrafung gehen als darum, Schüler in Sozialkompetenz zu schulen.
An diesem Punkt sind Schulen selbst gefragt, für welche Maßnahmen sie sich entscheiden, und genau hier liegt das schulinterne Potenzial, das es auszuschöpfen gilt.
Bei Gewalt an Schulen handelt es sich oft um reaktive Gewalt, also Gewalt als Reaktion auf eine Provokation. Oft reicht ein falscher Spruch auf dem Schulhof aus, damit die Situation eskaliert. Vor diesem Hintergrund können Deeskalationstrainings effektive Mittel zur Gewaltprävention sein. Schüler lernen dabei, wie sie am besten friedlich auf eine Provokation oder Kränkung reagieren.
Eines dieser Programme hat die Polizei Berlin entwickelt, es wurde von Professorin Hannover gemeinsam mit ihren Kollegen Professorin Janine Neuhaus und Professor Dieter Kleiber evaluiert. Dass Angriffe und Mobbing zudem kein Kavaliersdelikt sind, sondern als Straftaten geahndet werden, machen die Maßnahmen ebenfalls klar.
Insgesamt wird durch den Erfolg dieser Programme deutlich, dass Jugendlichen die passenden Konfliktlösungsstrategien zu fehlen scheinen. Brausch sieht den Grund dafür zumindest teilweise in der veränderten Kindheit. Es wird weniger gemeinsam gespielt, der direkte Kontakt zu Gleichaltrigen hat abgenommen, nicht zuletzt auch wegen der neuen Medien. So kommt es dazu, dass „Konfliktmanagement auf dem Spielplatz“, wie Brausch es nennt, immer seltener spielerisch erlernt wird. Während vorhergehende Generationen Streitereien noch untereinander relativ unproblematisch im direkten Kontakt lösen konnten, fehlen diese Erfahrungswerte heute häufig.
Gewalt sollte kein Tabuthema mehr sein
Einen weiteren Faktor findet man beim Blick ins Elternhaus. An Schulen häufen sich Berichte über Eltern, die das Fehlverhalten von Kindern decken oder unterstützen, anstatt mit der Schule zu kooperieren. Und obwohl es kein Fehler sein muss, Kinder dazu zu erziehen, sich eben nicht alles gefallen zu lassen, scheint der immer öfter im Vordergrund stehende Fokus des Sichdurchboxens an einigen Stellen dazu zu führen, dass Jugendliche sich weniger als Teil einer Gemeinschaft, sondern als Einzelkämpfer sehen. Wenn dann fehlende Konfliktlösungsstrategien und das Durchboxen im wörtlichen Sinn aufeinandertreffen, ist das gesteigerte Gewaltpotenzial zumindest in einigen Fällen erklärbar. Die Gesellschaft ist vielfältiger geworden und mit ihr auch die Schülerpopulation. Während früher klar zwischen verschiedenen Schulformen wie Hauptschule, Realschule und Gymnasium unterschieden werden konnte, geht die Tendenz heute zu einem Schulsystem, in dem Schüler verschiedenster Bildungsziele und Voraussetzungen gemeinsam unterrichtet werden. Bettina Hannover sieht darin, trotz des immer wieder erwähnten Konfliktpotenzials, eine lebensnähere Art der Schule, die sich allerdings ihrer neuen Aufgaben bewusst sein muss. Sie weist darauf hin, „dass man Strategien und Kompetenzen eines friedlichen und für alle nutzbringenden Zusammenlebens mehr schulen muss“.
Zudem wird immer mehr klar, dass unter Schülern alte Werte wie Fleiß oder Strebsamkeit nicht mehr an erster Stelle stehen. Sie sind Konzepten wie Selbstverwirklichung und dem Streben nach individuellen Zielen gewichen und dem Wissen, dass man im Leben auch anders durchkommen kann. Schüler können daher mit dem typischen Autoritätenmodell der Schule immer weniger anfangen. Während früher noch klar war, dass man die von außen gestellten Anforderungen erfüllen muss, um erfolgreich zu sein, werden diese sogenannten Leistungswerte heute abgelöst durch den Wunsch nach individueller Entscheidungsfreiheit. Hannover weiß, dass die Werteerziehung und das bereitzustellende Angebot an Aktivitäten, die über den Unterricht hinausgehen, durch diese Faktoren komplexer geworden sind.
Selbstbestimmtheit im Vordergrund
Jugendliche bewegen sich heute also in einer Welt, die vielfältiger ist – sowohl sozial, kulturell als auch technologisch. Sie wachsen in einem Umfeld auf, das ihnen immer weniger die traditionellen Strategien des Miteinanders auf den Weg gibt. Klassische Leistungswerte sind in den Hintergrund gerückt, im Vordergrund sind neue Werte wie Selbstbestimmtheit, persönliche Entfaltung, Spontanität und Freiheit. Der älteren Generation mag das je nach Ausprägung befremdlich erscheinen, für die junge Generation ist es allerdings Teil der Lebensrealität. Die Schule als Mikrokosmos ist diesem Wandel unterworfen, und die Aufgabe der Verantwortlichen, von Behörden, Ministerien und Institutionen wird es sein, auf diese Veränderungen zu reagieren, sowohl die Lebenswelt der Jugendlichen und Werte verstehen zu wollen, als auch Lehrerinnen und Lehrer in ihrer immer komplexer werdenden Arbeit zu unterstützen.