Die Jahrhundert-Verbrechen von Josef Stalin hinterließen ein Meer aus Blut und Tränen. Der amtierende russische Präsident Wladimir Putin wehrt sich gegen die „unnötige Dämonisierung" des Massenmörders, der Millionen von Menschen auf dem Gewissen hat.
Er sei zweifellos einer der Großen gewesen, gemessen an der Zahl seiner Opfer einer der größten Verbrecher der Weltgeschichte: „Der schrecklichste Diktator, nicht nur des 20. Jahrhunderts, sondern vielleicht in der ganzen Geschichte der menschlichen Zivilisation." Der sowjetische Drei-Sterne-General Dimitri Wolkogonow, von dem diese Einschätzung des langjährigen Kreml-Herrschers Josef Stalin stammt, war ursprünglich überzeugter Stalinist. Im Zuge seiner Forschungen als Geschichtsprofessor ging er auf Distanz zum totalitären Sowjetkommunismus. Zuletzt war der international anerkannte Historiker Sonderberater des russischen Reformpolitikers Boris Jelzin.
Als der sowjetische Diktator Josef Stalin am 5. März 1953 – vor jetzt 65 Jahren – im Alter von 73 Jahren starb, ging nach einer kurzen Phase vorsichtigen Abwartens ein Aufatmen durch die Sowjetunion und den kommunistischen Ostblock. Parteifunktionäre, die öffentlich Trauer mimten, sollen hinter den Kulissen Freudentänze aufgeführt haben. Bertolt Brecht dagegen schickte dem Verblichenen im Namen der Unterdrückten und Pazifisten in aller Welt eine verbale Heiligsprechung hinterher: „Er war die Verkörperung ihrer Hoffnung."
Brecht stand mit dieser Lobpreisung nicht allein. Der britische Autor George Bernard Shaw etwa, der nach Hans-Peter Schwarz zeitlebens ein Faible für Diktatoren hatte, erhob den Kreml-Gewaltigen auf dem Höhepunkt des Terrorfeldzugs gegen die russischen Bauern 1932 zum „georgischen Gentleman". Sein Landsmann H. G. Wells bekannte 1934 entzückt, niemals „einem offeneren und ehrenhafteren Mann begegnet" zu sein. Weitere Lobesworte prominenter Linksintellektueller für den blutigen Diktator ließen sich anfügen.
Anton Antonow-Owsejenko dagegen, dessen Vater während des großen Terrors als angeblicher Verräter 1938 hingerichtet wurde, entschleiert Werdegang und Charakter Stalins als den eines Kriminellen. Ohne die Oktoberrevolution von 1917, vermutet der Historiker, wäre Stalin wohl Einbrecher geworden. Doch hätte er es sicherlich zum Bandenchef gebracht, so genial seien sein taktisches Gespür und seine hinterhältigen Manöver ein Leben lang gewesen. Von Natur aus grob, ungebildet und gewaltbereit, seien Stalin alle Gebildeten zuwider gewesen. Das bekamen auch seine bolschewistischen Mitrevolutionäre zu spüren: „Unter die Berufsrevolutionäre mischte sich ein Berufsverbrecher".
Dunkelste Epoche russischer Geschichte
Fünf Jahre brauchte Stalin, um nach dem Tod seines Vorgängers Lenin alle Rivalen auszuschalten. Seine Alleinherrschaft begann 1929. Es war der Auftakt zur dunkelsten Epoche der Geschichte Russlands. Unter unsäglichen Leiden und Entbehrungen erzwang der neue Kremlherrscher die überstürzte Industrialisierung des Landes und die Zerschlagung der privaten Landwirtschaft. Mit „Massensäuberungen" terrorisierte er die Gesellschaft und ließ sich gleichzeitig als „Wohltäter der Menschheit" beweihräuchern. Überall witterten der kommunistische Diktator und seine Helfershelfer „Feinde" und „Spione", „Saboteure" und „Agenten", „Schädlinge" und „Klassenfeinde."
Stalins Kreuzzug gegen die Bauernschaft kostete Millionen Menschenleben. Der Hungerterror vor allem in der Ukraine („Holodomor") dezimierte die Landbevölkerung dort 1932/33 um etwa 3,5 Millionen Menschen. Nackter Überlebenswille trieb die Hungernden damals zum Verzehr von Menschenfleisch. Anfang der 1930er-Jahre gerieten Hunderttausende als „Volksfeinde", „Terroristen" oder „trotzkistische Agenten" abgestempelte Sowjetbürger zwischen die Mahlsteine der Terrormaschinerie. Oft befahl Stalin selbst, welche „Halunken" zu verhaften und zu erschießen seien.
Zur gleichen Zeit wie schon in den 20er-Jahren unter Lenin, pilgerten westliche Intellektuelle (Shaw, Gide, Sartre, H. Mann, Feuchtwanger, Brecht) scharenweise in die Sowjetunion, „dieses Land der Hoffnung" (Shaw), wo nach Ernst Toller „endlich der Traum der Millionen Wirklichkeit" geworden sei! Sie bestätigten damit die Erkenntnis des amerikanischen Schriftstellers Saul Bellows, wonach höchste Intelligenz in den Dienst der Ignoranz gestellt werden könne, sofern das Bedürfnis nach Illusion nur groß genug sei.
1937 setzte im Sowjetstaat der „Große Terror" ein, jene auch als „Säuberung" verharmloste Mordaktion im Namen der kommunistischen Partei, die Hunderttausende mit dem Leben bezahlten. 1937/38 nutzte Stalin eine konstruierte „Verschwörung", um etwa 35.000 Kommandeure und Politkommissare der Roten Armee umbringen zu lassen. Ein schwerer Schlag, von dem sich das sowjetische Heer beim deutschen Angriff auf die Sowjetunion (1941) noch nicht erholt hatte. Seinen gnadenlos verfolgten Erzfeind Leo Trotzki, skrupelloser Gewaltverherrlicher auch er, ließ Stalin im August 1940 im fernen Mexiko mit einem Eispickel erschlagen.
Nicht vergessen in der Totenliste seien die rund 200.000 Priester und Ordensleute, die nach neueren russischen Angaben Opfer des von Stalin befohlenen Terrors wurden: erschossen, erhängt, gekreuzigt oder dem Kältetod ausgesetzt. Nimmt man noch die Toten aus der Deportation ganzer Völker, darunter neben den Krimtataren und den Tschetschenen auch die Russland-Deutschen, dann erhöht sich die Opferzahl der Schreckensherrschaft Stalins ins Unermessliche. Waren es 20 Millionen Tote? 30 Millionen? Oder noch mehr?
Verbrecherisch nach Intention und Folgen war auch der deutsch-sowjetische Geheimpakt zur Teilung Polens vom 23. August 1939, durch den Hitler zur Auslösung des Krieges ermuntert wurde. Im Hintergrund lauerte Stalins Hoffnung, der braune Diktator werde an der als uneinnehmbar geltenden Maginotlinie Frankreichs scheitern und dadurch der Roten Armee den Weg nach Mitteleuropa bahnen. Wie mit Hitler abgemacht, annektierte Stalin Litauen, Estland und Lettland und überfiel im Spätsommer 1940 Finnland. Eiskaltem Kalkül war schon das makabere Zusammenspiel zwischen Hitler und Stalin bei der Zerstörung der Weimarer Republik geschuldet. Diese scheiterte nicht zuletzt an dem zermürbenden Zangenangriff der extremistischen Demokratiefeinde rechts (NSDAP) und links (KPD). Der Hauptfeind, so ließ Stalin am 15. Dezember 1931 die Kommunistische Internationale verkünden, sei nicht Hitler, sondern „das System Severing, Brüning, Hindenburg." Hitler betrachtete er als „unzweifelhaften Bundesgenossen."
Russische Schulbücher verharmlosen Stalin-Zeit
Das Kalkül des Kreml-Herrschers ging auf. Hitler zettelte den Zweiten Weltkrieg an. Millionen und Abermillionen starben. Im Mai 1945 standen Moskaus Rotarmisten mitten in Deutschland. Stalins willige Vollstrecker errichteten in den Staaten Ostmitteleuropas kommunistische Diktaturen, auch in der DDR. Deren bizarrer Stalin-Kult mit imposanten Statuen, Büsten und altarähnlichen „Stalin-Ecken" in nahezu allen Schulen überdauerte auch den DDR-Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Die Stalin-Verherrlichung landete erst nach der Moskauer Geheimrede von Kreml-Chef Nikita Chruschtschow über die Verbrechen Stalins (1956) auf dem Müllhaufen der Geschichte. Der nach 1985 beschrittene Reformkurs von Kreml-Chef Michail Gorbatschow bedeutete das Ende des Stalinschen Sowjetimperiums.
Die Wunden, die seine Gewaltherrschaft Millionen von Menschen zufügte, sind unvergessen. Gleichwohl leistet das doppelbödige Vorgehen von Russlands Präsident Wladimir Putin – einerseits Anerkennung der Massenrepression unter Stalin, andererseits Rehabilitierung des „weisen Führers" und Begründers der Weltmachtrolle Moskaus – der inzwischen wieder zunehmenden Stalin-Verehrung im Volk Vorschub. „Die unnötige Dämonisierung Stalins" sei nur ein Mittel, um Russland zu attackieren, wiegelte Putin unlängst im Interview mit dem Filmregisseur Oliver Stone ab.
Der russische Buchmarkt hält heutzutage neben verherrlichenden Biografien des „Generalissimus" auch kritische bereit. Die Schulbücher aber verharmlosen die Stalin-Zeit. Das Unwissen darüber unter jungen Erwachsenen ist groß. Der Befund des Moskau-Experten Andreas Rüesch in der „Neuen Zürcher Zeitung" (24. Oktober 2017) ist beunruhigend: Russland sei von einem ehrlichen Umgang mit der Stalin-Ära weit entfernt. Eine Entstalinisierung habe nur kurzzeitig und oberflächlich stattgefunden. Sie liege nicht im Interesse des Putin-Regimes.