Steigen die Berliner Sozialdemokraten immer weiter ab? Betrachtet man das aktuelle Geschehen innerhalb der Partei, könnte der Eindruck entstehen. Gäbe es nicht Persönlichkeiten wie Franziska Giffey in der SPD – der Niedergang wäre noch dramatischer.
Willy Brandt: Er war in den Tagen des Kalten Krieges der richtige Mann zur rechten Zeit, zeigte als Regierender Bürgermeister Berlins von 1957 bis 1966 Haltung. Anschließend wurde er Außenminister und Bundeskanzler, seine Entspannungspolitik trug ihm 1971 den Friedensnobelpreis ein. Sein Wirken und seine unerbittliche Denkweise „Über den Tag hinaus“ garantierten der SPD Wählerstimmen: Zu Brandts Zeiten galt die Mauerstadt als Hochburg der Sozialdemokratie. In den 60er-Jahren lag sie im Westberliner Abgeordnetenhaus bei mehr als 60 (!) Prozent und errang sämtliche Direktmandate. Von Berlin gingen Persönlichkeiten wie Karl Schiller und Egon Bahr nach Bonn in die Bundesregierung. Und wenn in Berlin etwas schieflief – wie beim Schah-Besuch 1967 –, schickte Brandt einen Könner (in diesem Fall seinen Staatssekretär Klaus Schütz) als „Regierenden“ nach Berlin.
Dennoch musste die SPD mit Hans-Jochen Vogel 1981 die Verantwortung an Richard von Weizsäcker und die CDU abgeben. Das Zwischenspiel mit Walter Momper (1989–1991) und dem roten Schal war kurz. Als Klaus Wowereit zehn Jahre später die Koalition mit Eberhard Diepgen und der CDU aufkündigte und bei Neuwahlen immerhin fast 30 Prozent erreichte, atmeten die Genossen auf: Die inzwischen vereinte Hauptstadt schien wieder fest in SPD-Hand. Auch wenn die Koalition mit der SED-Nachfolgerin PDS (heute Die Linke) damals viele Berliner SPD-Mitglieder zum Parteiaustritt veranlasste. Dreizehn Jahre lang regierte Wowereit – ein Sympathieträger, mit dem sich Wahlen gewinnen ließen. Ein manifester Widerspruch zu der Auffassung, die derzeit häufig bei SPD-Linken zu hören ist, dass „die Nase“ völlig egal sei. Selbstverständlich kommt es auf die Person und ihre Ausstrahlung an. Martin Schulz ist eines der besten Beispiele dafür.
Klaus Wowereit aber war kein Visionär oder politischer Ideengeber. Seine ehemalige Koalitionspartnerin Renate Künast von den Grünen beschreibt das treffend: „Fehler hat er sofort erkannt – Lösungen konnte er kaum beisteuern.“ Seine wichtigste gesellschaftspolitische Tat ist und bleibt sein Satz auf dem SPD-Landesparteitag von 2001: „Ich bin schwul – und das ist auch gut so.“ Eine historische Aussage im Ringen gegen die Diskriminierung von Homosexuellen.
SPD widmet sich zu sehr Randthemen
Das Desaster um den Flughafen BER (den Wowereit unnötigerweise zu seiner Chefsache gemacht hatte) oder kuriose Ausreißer im Berliner Kulturleben schwächten seine Beliebtheit. Auch der unter Wowereit beinahe manisch entwickelte Hang der SPD, sich mit Hingabe und Dogmatismus Randthemen – von den Straßennamen bis zu den Radwegen – zu widmen, verringerte die Wahlchancen kontinuierlich. Hinzu kam gemeinsam mit dem von Wowereit nach Berlin geholten Thilo Sarrazin das „Sparen bis es quietscht“: Eine arbeitsunfähige Verwaltung, eine hilflos unterbesetzte Polizei und marode Schulgebäude waren Folgen, deren Beseitigung erst jetzt mühevoll in Angriff genommen wird. Das liest sich wie die Chronik eines angekündigten Niedergangs.
Als der ausgleichende und offenkundig mit viel politischer Vernunft ausgestattete Jan Stöß im Juni 2012 den Wowereit-Vertrauten Michael Müller als SPD-Landesvorsitzender ablöste, keimte noch einmal Hoffnung auf die so gern und viel beschworene „Erneuerung“ auf. Stöß hätte zu diesem Zeitpunkt von einem Landesparteitag alle Mandate und Vollmachten erhalten können, die viele in der Berliner SPD ihm damals wünschten. Doch er war für die Hauptstadt-SPD allzu ausgleichend und friedfertig. Zwar wurde er 2014 im Amt als Landesvorsitzender bestätigt. Doch als Wowereit in aller Freundschaft gestürzt war und es bei einem Mitgliedervotum im Herbst 2014 um die Kandidatur für dessen Nachfolge ging, unterlag Stöß deutlich Michael Müller. Der holte sich dann zwei Jahre später auch das Amt des Landesvorsitzenden zurück.
Gewiss ist Müller trotz seiner jahrelangen Wowereit-Gefolgschaft einer der wenigen Berliner SPD-Männer mit wirklichem Potenzial, auch wenn ihn die aktuelle Koalition mit Grünen und Linkspartei in ein beengendes Prokrustes-Bett presst. Doch maßgeblich und mehr noch als Müller hat einer an Sturz und Abgang von Stöß mitgewirkt, der das in der letzten Berlin-Wahl auf 17,9 Prozent gesunkene SPD-Ansehen in der Stadt mit zu verantworten hat. Einer, der jetzt im Kampf gegen seine Kritiker von sich reden macht: der Spandauer Kreisvorsitzende und Chef der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus Raed Saleh.
Der unlängst aus der SPD ausgetretene frühere Abgeordnete Erol Özkaraca lässt kein gutes Haar an Saleh, wenn er schreibt: „Raed Saleh ist kein Sozialdemokrat und die Verfasstheit der Partei oder der Fraktion interessiert ihn nicht die Bohne. Er ist und bleibt der Mini-Erdogan aus Spandau, der weder Demokratie und Rechtsstaat noch innerparteiliche Demokratie verinnerlicht hat und in Hütchenspieler-Manier trickst.“
Nicht ganz so vernichtend, doch nicht minder harsch äußerten sich im November 2017 14 von den 38 Abgeordneten der SPD im Landesparlament, darunter drei der fünf stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Sie warfen Saleh mangelnde Kompromissfähigkeit, Eigensinn und miserable Pressearbeit vor.
Der Beschuldigte gelobte in einer Sechs-Stunden-Sitzung Besserung und reagierte auf seine Weise: Die Mitunterzeichnerin Bettina Domer wurde in ihrer Spandauer SPD-Abteilung handstreichartig als Vorsitzende abgewählt, denn plötzlich erschienen an die 50 Personen zur entscheidenden Sitzung, von denen viele noch nie in Erscheinung getreten waren. Die wählten einen Mitarbeiter von Saleh zum neuen Abteilungsvorsitzenden.
Zurück zu den Wurzeln: Sozialkompetenz
Ideen, Denkanstöße, kompetente Persönlichkeiten aus Berlin – ist es damit also aus für die SPD? Nein, ist es nicht: Zwar hat die deutsche Sozialdemokratie derzeit keinen Jeremy Corbin oder Bernie Sanders und auch keine politisch wirkungsvolle wählerbindende Dynamik durch die Jusos. Doch sie verfügt derzeit über eine erstaunliche Anzahl hervorragender Frauen in ihren Reihen. In der SPD-Bundesspitze gibt es Ansätze, diese Gelegenheit zu nutzen. Franziska Giffey, der neue Start der SPD aus Neukölln, ist ein gutes Beispiel dafür. Allerdings spielte Giffey im Berliner Landesverband bisher kaum eine Rolle. „Zu intellektuell, zu pragmatisch, zu bürgernah“, sagen die Senatskritiker aus den SPD-Reihen. Und böse Zungen behaupten, Michael Müller sei froh über Giffeys Ministeramt, weil damit die einzig ernst zu nehmende Konkurrentin in Berlin ausgeschaltet sei.
Wenn die SPD sich künftig wieder auf eine ihrer Wurzeln – die Sozialkompetenz – besinnt, wäre schon viel gewonnen. Denn es ist, bei allem Respekt vor der Idee einer Bürgerversicherung, zum Beispiel nicht einzusehen, weshalb Dänemark seiner Bevölkerung eine weitgehend kostenfreie ärztliche Versorgung anbieten kann und ein Wirtschaftsgigant wie die Bundesrepublik Deutschland nicht. Und die SPD könnte es sich zum Anliegen machen, dass Renten – also bereits versteuerte Einkünfte – nicht mehr besteuert werden. Wenn dann noch die unsägliche Diskussion über einen kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr von den Sozialdemokraten dadurch beendet würde, dass die Fahrpreise auf eine symbolische Summe gesenkt würden – in Berlin waren es einmal 20 Pfennig, also etwa zehn Cent –, wären die Umfrage- und Wahlergebnisse mit Sicherheit um einiges erfreulicher.