Der Köllerbacher Etienne Kinsinger ist auf dem besten Weg, sich mit anhaltend starken Leistungen sowohl für die im Mai stattfindende Ringer-EM in Russland als auch für die im Oktober stattfindende WM in Ungarn zu empfehlen. Seinem Erfolg ordnet der 21-Jährige alles andere unter.
Die markanten O-Beine lassen auf einen Fußballer schließen, das breite Kreuz und die extreme Körperbeherrschung sprechen für einen Turner. Erst die Ohren verraten, welche Sportart der 1,62 Meter große Athlet, der da zur Tür am Olympiastützpunkt Saarbrücken hereinkommt, wirklich praktiziert. Etienne Kinsinger ist Ringer – und derzeit einer der besten in Deutschland und auf dem Weg in die Weltspitze. „Mein Opa hat schon bei meiner Geburt darauf bestanden, dass ich Ringer werde", erzählt der 21 Jahre alte Püttlinger. „Er musste zwar einige Widerstände in meiner Familie ausräumen, aber er hat es geschafft, mich mit drei Jahren im Ringerkindergarten des KSV Köllerbach anzumelden."
Woher der Großvater diese Eingebung hatte, bleibt bis heute sein Geheimnis. Kinsingers Papa hatte Fußball gespielt, die Mama in der Jugend Judo gemacht. „Aber nie wirklich als Leistungssport", erzählt Etienne. „Ich bin da irgendwie aus der Art geschlagen." Wie viele Titel er bislang gewonnen hat, weiß der sympathische Saarländer auf Anhieb nicht. Sicher ist bei ihm nur eines: „Ich kann ganz schlecht verlieren." Auch wenn die Liste lang ist, einige Erfolge sind dann doch im Gedächtnis eingebrannt. „Mit fünf wurde ich Zweiter bei den Saarlandmeisterschaften, 2008 Zweiter bei den Deutschen Meisterschaften", erinnert sich Kinsinger. „Beides im Freistil." Damals wurde in jedem Jahr die Stilart geändert, was letztlich für Kinsinger dazu führte, sich ganz dem klassischen Stil zu verschreiben: „2009 wurde ich erstmals Deutscher Meister. Und weil ich im Griechisch-Römisch Erfolg hatte, bin ich dann dabei geblieben."
Der Erfolg blieb auch, die Statistik ist beeindruckend: sechs deutsche Jugendmeistertitel, Kadettenweltmeister 2013, Dritter bei den Junioren-Europameisterschaften 2014 und 2016 und Vize-Weltmeister der Junioren 2016. 2017 startete Kinsinger erstmals bei einer WM der Herren. Doch in Paris kam das Aus sehr früh. „Man sagt, dass der Übergang von den Junioren zu den Aktiven zwei oder drei Jahre dauert. Die Leistungsdichte ist dort viel höher. Erfahrung spielt eine große Rolle", sagt Kinsinger.
Erstmals 2009 deutscher Meister
Dass er mit der absoluten Weltspitze mitringen kann, hat Kinsinger im Halbfinal-Rückkampf um die Deutsche Mannschaftsmeisterschaft unter Beweis gestellt. Köllerbach holte im Rückkampf einen Sieben-Punkte-Rückstand gegen den TuS Adelhausen auf, Kinsinger besiegte mit einer grandiosen Leistung Ivo Angelov nach Punkten. Der erfahrene Bulgare war 2013 Weltmeister, zählt zu den cleversten und stärksten Ringern der Welt. Doch an diesem Abend im Püttlinger Trimmtreff hatte er gegen den jungen Saarländer Kinsinger eigentlich keine Chance. „So ein Erfolg ist gut für den Kopf", sagt der Köllerbacher, der sich sofort nach dem Kampf massiv gegen das Prädikat „Weltklasse" gewehrt hat. Seine Selbsteinschätzung ist deutlich zurückhaltender: „Natürlich habe ich gesehen, dass ich da mithalten kann. Aber in der Bundesliga ist es ein einziger Kampf. Bei den Einzelmeisterschaften musst du eine solche Leistung vier-, fünf- oder sechsmal an zwei Tagen abrufen. Das ist eine andere Hausnummer."
Eine, an der er aber in dieser Saison massiv anklopfen will. Im Mai stehen Europameisterschaften im russischen Kapiisk an, im Oktober die Weltmeisterschaften in Budapest. Vor zwei Wochen belegte Kinsinger beim sogenannten Thor-Masters in Dänemark, einem der größten und bestbesetzten Ringkampf-Turniere Europas, mit einer starken Leistung den zweiten Platz. Eine klare Empfehlung für eine EM-Nominierung. „Wir haben noch zwei Lehrgänge in Tallin und Heidelberg. Dann werden wir sehen, wie sich der Bundestrainer entscheidet."
Kinsinger ordnet dem Erfolg vieles unter. Seit fast zwei Jahren arbeitet er auch mit einer Ernährungswissenschaftlerin zusammen. Das ist wichtig, wenn man von einem „Normalgewicht" von 64 Kilo immer auf ein „Kampfgewicht" von nun 60 Kilo kommen muss. „Ich schreibe immer genau auf, was ich esse und wann ich esse. Wir haben genaue Pläne, wie viele Kalorien ich zu mir nehme. Wir tüfteln da viel, probieren einiges aus. In den Vorbereitungsphasen verzichte ich schon auf sehr viel. Süßigkeiten fallen beispielsweise komplett weg", erzählt Kinsinger. Während manche Studienkollegen – er studiert Wirtschaft und Recht an der Universität des Saarlandes – abends öfter mal „die Kuh fliegen lassen", sitzt Kinsinger meist in seinem Zimmer an der Landessportschule. „Es ist vielleicht nicht notwendig, um in die Weltspitze zu kommen. Niemand gibt mir die Garantie, dass es im entscheidenden Moment dafür sorgt, dass ich einen Kampf gewinne. Aber ich habe mich für diesen Weg entschieden. Wenn ich ungesund lebe, hätte ich sicher große Probleme, mein Gewicht zu bringen. Natürlich würde mich ein Stück Kuchen nicht besser oder schlechter machen. Ich könnte mir nur schwer eine Niederlage verzeihen, wenn ich zuvor nicht alles für den Sieg getan hätte. Ich will mir einfach nichts vorwerfen lassen", sagt der Köllerbacher.
Kinsinger tritt lieber im Einzel an
Das ist auch ein Grund, warum Kinsinger lieber im Einzel antritt. „Es ist natürlich schön, Erfolge gemeinsam in der Mannschaft zu feiern. Dieser Halbfinalsieg mit den Jungs über Adelhausen war sicher einer der schönsten Abende in meinem Ringer-Leben. Ganz ohne Frage", sagt der Greco-Spezialist. „Aber ganz ehrlich: Als ich Weltmeister wurde, war es noch schöner. Das Gefühl, für sich ganz alleine etwas erreicht zu haben, ist einfach gigantisch und nur schwer vergleichbar mit einem Mannschaftserfolg, der vielleicht von der Freude und Emotionalität nach außen deutlich sichtbarer ist."
Wer öfter die Gelegenheit hat, sich mit Etienne Kinsinger zu unterhalten, stellt immer wieder seine enorme Reflexionsfähigkeit fest. Für einen so jungen Menschen macht sich der 21-Jährige enorm viele Gedanken. Über den Sport. Sein Studium. Das Leben danach, das nach Möglichkeit auch mit dem Sport zu tun hat. Er ist immer freundlich, stets strukturiert, wirkt immer gut gelaunt, manchmal aber fast emotionslos und schwer nahbar. „Es gibt die kleine Sau Kinsinger, aber die bekommt keiner mit", gesteht er. „Ich versuche wirklich wenig Emotionen und damit auch Schwäche zu zeigen. Aber wer mich näher kennt, weiß auch, dass ich nicht jeden Tag mein Zimmer putze oder die Wäsche aufhänge. Ich kann mich auch mal richtig aufregen, dann aber nur bei Menschen, die mir richtig nahestehen. Ich bin sicher nicht so perfekt, wie mich viele sehen wollen."
Was dieses Jahr für Etienne Kinsinger perfekt machen würde, lässt er sich nicht entlocken: „Man muss ja nicht unbedingt zusätzlichen Druck aufbauen." Eine gute Platzierung bei der Europameisterschaft gehört aber sicher dazu. Die Deutsche Meisterschaft im Sommer ist bestenfalls eine Durchgangsstation. Und wenn man bedenkt, dass der Perfektionist bislang die meisten seiner Titel erst im zweiten Anlauf geholt hat, würde das für die WM in Russland sicherlich große Hoffnungen schüren. „Natürlich ist es mein Ziel, bei der Männer-WM dabei zu sein, aber ich kann auch noch in der U23 starten", bleibt der so oft konkrete Kinsinger diesmal unkonkret. „Bis dahin werden wir noch viel trainieren."