Timo Boll ist wieder die Nummer eins der Tischtennis-Weltrangliste – zum vierten Mal und mit inzwischen 37 Jahren als ältester Spieler aller Zeiten. In den 15 Jahren seit seinem ersten Sprung an die Spitze ist der Champion zu einer lebenden Legende nicht nur in seinem Sport avanciert.
Die Lobeshymnen auf Roger Federer waren nach der Rückkehr des Schweizer Tennis-Idols an die Spitze der Weltrangliste gerade erst verklungen, da konnten die Chronisten Anfang März schon die nächsten Elogen auf einen der ganz Großen im Weltsport anstimmen: Wie kurz zuvor der sogar fast ein Jahr jüngere Federer feierte Timo Boll beim „kleinen Bruder" Tischtennis mit seinen inzwischen sogar 37 Jahren als ältester Weltranglistenerster aller Zeiten ein nicht minder imponierendes Comeback auf Platz eins im Computer-Ranking und zementierte damit endgültig seinen Legenden-Status.
Sein Erfolgsgeheimnis und seinen Antrieb gleichermaßen verriet der alte und neue „Herr der Bälle" zu Monatsbeginn bei seinem ersten Auftritt nach der Rückeroberung des Throns von seinem Nationalmannschafts-Kollegen Dimitrij Ovtcharov bei den Deutschen Meisterschaften in Berlin. „Meine Priorität ist mit Sicherheit nicht gewesen, noch einmal die Nummer eins zu werden. Mein Ziel ist hauptsächlich, wie in den letzten Monaten gesund und ohne Verletzungen zu bleiben und vor allem Spaß zu haben. Es sind meine letzten Jahre, und da ich mein Leben ja praktisch nichts anderes gemacht habe, möchte ich diese Zeit besonders genießen", erklärte Boll in der Siegerrede nach seinem zwölften Titelgewinn seit seinem Premieren-Triumph vor 20 Jahren in Saarbrücken.
„Ich möchte diese Zeit besonders genießen"
Der Genussfaktor dürfte durch den überaus schmückenden Titel „Weltranglistenerster" mitnichten sinken. Vielmehr dürfte der Spaßanteil für Boll durch eine Anpassung seines Pensums an sein Alter eher noch gestiegen sein: „Weniger Training, mehr Wettkämpfe", beschreibt Boll seine Devise.
Zwar war der Star vom deutschen Renommierclub Borussia Düsseldorf ohnehin zu keiner Zeit als ein „Trainingsweltmeister" wie einst der frühere Europameister und heutige Bundestrainer Jörg Roßkopf bekannt, doch seit Boll die Belastungen für seinen grundsätzlich sensiblen Körper infolge einer Knieoperation vor zweieinhalb Jahren und kurze Zeit später zusätzlich aufgetretener Probleme in der Nackenmuskulatur noch gezielter dosiert, erlebt der Linkshänder seinen schon x-ten Frühling.
Seine Rückkehr auf Position eins vollzog sich in den vergangenen Monaten in mehreren Schritten. Nach seinem 19. World-Tour-Titel bei den Korea Open im Frühjahr 2017 ließ Boll seine Brillanz in einem denkwürdigen Viertelfinale bei der WM in Düsseldorf gegen Chinas Superstar Ma Long mehrfach aufblitzen und brachte den hoch favorisierten Titelverteidiger und Olympiasieger an den Rand einer Niederlage (2:4) – und startete danach erst richtig durch: Bei den hochkarätigen Eliteturnieren China Open, Weltcup und German Open marschierte „The machine", wie der gebürtige Odenwälder in der internationalen Szene auch ehrfurchtsvoll genannt wird, bis in die Endspiele durch und scheiterte immer erst an seinem seinerzeit dominierenden Freund und Trainingspartner Ovtcharov. Vor Monatsfrist jedoch konnte Boll den Spieß beim bedeutenden Europe Top 16 im Schweizer Montreux umdrehen und düpierte im Finale seinen erst zu Jahresbeginn an die Weltranglistenspitze gekletterten Rivalen aus dem Nationalteam mit einer ausgesprochen beeindruckenden 4:0-Gala.
Sein sechster Triumph bei dem prestigeträchtigen und traditionsreichen Ranglistenturnier bedeutete denn auch letztlich den Grundstein für Bolls neuerlichen Sprung auf Platz eins – aber letztlich auch nicht mehr. Perfekt wurde der „Wachwechsel" an der Spitze für Boll erst im anschließenden Urlaub – weil Ovtcharov und auch der chinesische WM-Zweite Fan Zhendong wenig später während einer dringend benötigten Wettkampfpause bei einem wichtigen Mannschaftsturnier in England zu selten zum Einsatz kamen und damit nach der seit Anfang des Jahres gültigen Berechnungsgrundlage des Rankings hinter den deutschen Altmeister zurückfielen.
„Bestätigung für meine harte Arbeit"
Mehr mit seiner typischen Zurückhaltung als mit Euphorie reagierte Deutschlands Fahnenträger bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro auf seinen unverhofften Aufstieg: „Als ich davon hörte, hielt ich die Information zunächst für einen Scherz. Aber inzwischen möchte ich eine gewisse Freude nicht verhehlen. Es ist die Bestätigung für meine harte Arbeit in den vergangenen Monaten. Es ist außerdem eine Bestätigung für meine Konstanz, da ich vor 15 Jahren erstmals die Nummer eins war", kommentierte Boll den nächsten sporthistorischen Meilenstein seiner an Rekorden und Bestmarken reichhaltigen Karriere.
Oldies but Goldies: Gerade im Tischtennis ist dieses geflügelte Wort gelebte Realität und Boll deswegen längst nicht der erste Senior auf einem abermaligen Höhenflug. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich der frühere Saarbrücker Bundesliga-Star Jan-Ove Waldner: Schwedens „Mozart des Tischtennis" überraschte beim Olympia-Turnier 2004 mit fast 39 Jahren noch einmal die komplette Weltelite, warf nacheinander Chinas damaligen Topspieler Ma Lin und im Viertelfinal-Duell auch Boll aus dem Medaillenrennen. Vier Jahre später erreichte auch Waldners Landsmann Jörgen Persson, auch ein früherer Weltmeister mit Saarbrücker Bundesliga-Meriten, mit sogar schon 42 Jahren ebenfalls das Halbfinale des Olympia-Turniers in Peking. Das gleiche Ergebnis verbuchte vor zwei Jahren außerdem der damals auch schon 40 Jahre alte Ex-Weltranglistenerste Vladimir Samsonov (Weißrussland). Boll wird zum Zeitpunkt der Olympischen Spiele 2020 in Tokio 39 Jahre alt sein und könnte somit auch noch zum ältesten Medaillengewinner bei olympischen Turnieren aufsteigen.
Viel naheliegender indes erscheint für Boll derzeit die Erfüllung seines Traumes von einem Weltmeister-Titel – wenigstens mit der Mannschaft. Angesichts der momentanen Weltranglistenkonstellation – Ovtcharov gehört immerhin auch nach seiner Ablösung durch Boll weiterhin zu den Top drei – darf sich das deutsche Herren-Team bei der WM Ende April im schwedischen Halmstad wenigstens so gute Chancen auf einen Sturz von Dauer-Champion China ausrechnen wie mutmaßlich niemals zuvor und voraussichtlich auch in der späteren Zukunft vorerst nicht mehr.
Niemand gehörte länger zu den Top 10
WM-Gold, das für Deutschland in der Nachkriegsgeschichte nur Roßkopf und Steffen Fetzner 1989 bei den Titelkämpfen in Dortmund im Doppel gewannen, fehlt Boll wie eine Olympia-Medaille im Einzel als eine der wenigen Trophäen in seiner langen Erfolgssammlung. Dabei pflastern Erfolge seinen Weg: In Berlin schraubte Boll seine DM-Bestmarke jüngst eben auf zwölf Einzeltitel, seine insgesamt 17 EM-Triumphe sind gleichfalls Rekord, niemand feierte beim Europe Top 12/16 Cup 16 Jahre nach seinem ersten Titelgewinn nochmals einen Erfolg, niemand gehörte länger zu den Top Ten der Weltrangliste, und niemand kehrte über 15 Jahre nach seiner ersten Eroberung der Nummer eins nochmals auf den Platz an der Sonne zurück.
Entsprechend verneigte sich die deutsche Tischtennis-Prominenz voller Respekt und Anerkennung vor einem der größten Athleten des deutschen Sports insgesamt. „Ein Beweis", meinte etwa Roßkopf zur abermaligen Übernahme der Weltranglistenspitze durch seinen Schützling, „dass er es verdient hat, ist auch, dass er auch in seinem Alter noch mit absolut allen mithalten kann."
Den Ritterschlag erteilte Boll niemand Geringeres als der hoch anerkannte Sportfunktionär und Tischtennis-Ehrenpräsident Hans Wilhelm Gäb. „Timo Boll", sagte der frühere Nationalspieler und heutige Berater der deutschen Ikone, „gehört weiterhin zu den besten Spielern der Welt. Er ist ein Mann, der seit 15 Jahren unter den Top 10 der Welt kämpft und in Sieg und Niederlage seine Haltung und seine Mitte nie verloren hat. Er hat längst den Status einer wahrhaftigen Legende."