Abseits der Zivilisation liegt in Island die Mountain Lodge Kerlingarfjöll, nur umgeben von zwei Gletschern. Allein die Anreise in die Einsamkeit ist ein Erlebnis.
Willkommen in Island", begrüßt uns Fahrer Johan, ein sympathischer Einheimischer mit struppigem Bart und Händen groß wie Schaufeln. Er öffnet die Autotür und stellt eine kleine Leiter als Einstiegshilfe davor. Wir klettern ins Innere und machen es uns bequem. Mit drei Jeeps starten wir von Reykjavík ins isländische Hochland. Unser Ziel ist das Kerlingarfjöll, ein 150 Quadratkilometer großes Gebirge, das zwischen den Gletschern Hofsjökull und Langjökull liegt. Erst im 19. Jahrhundert wagten sich Abenteurer in die abgelegene Bergwelt, die am Ende der letzten Eiszeit durch einen Vulkan hervorgestülpt wurde. Die ersten Urlauber kamen 1961 und waren so begeistert, dass einige von ihnen dort eine Sommerskischule gründeten. Doch die Gletscher schmelzen auch hier und so wurde sie im Jahr 2000 wieder eingestellt.
Die Fahrt dauert fünf bis sechs Stunden. Dabei gilt: Der Weg ist das Ziel. Unterwegs kaufen wir in einem Supermarkt unser Mittagessen: Kekse, Krabben-Salat und Brötchen. Eine weitere Pause machen wir am Gullfoss-Wasserfall. Hier schießen die Ströme in zwei Stockwerken elf und 20 Meter hohe Wände hinab. Eine wild-schäumende Masse, die sich im Winter nur durch ihre Lebendigkeit vom Schnee abhebt.
Irgendwann endet die Straße im Nichts. Der Winter hat den Asphalt komplett weggefressen. Johan bremst, steigt aus und lässt Luft aus den Ballonreifen, damit sie weicher werden und leichter durch den Schnee kommen. Ein kurzes Stück rollen wir entlang einer Stock-Markierung bis wir querfeldein ins Niemandsland abbiegen. Dabei ruckelt und schaukelt es, wir krallen unsere Hände in den Sitz, um nicht mit den Köpfen an die Fahrzeugdecke zu stoßen.
Johan liebt die Winterfahrten ins Hochland, denn jede ist ein Abenteuer für sich. „Es ist immer wieder anders", sagt er. „Man weiß nie genau was passiert, wo Schneeverwehungen sind, ob der Fluss an der richtigen Stelle zugefroren ist". Auf der Hochlandpiste begegnet man keiner Ortschaft und keiner Tankstelle. „In der Einsamkeit muss man sich zu helfen wissen". Für alle Fälle hat er Werkzeug dabei und einen Laptop mit GPS.
Und plötzlich passiert es doch: Wir bleiben stecken! Das Hinterrad dreht durch. Johan klettert aus dem Wagen, stapft durch den kniehohen Schnee nach hinten. Dann ruft er seine Kollegen zu Hilfe. Mit einem Seil wird unser Fahrzeug herausgezogen. Der Übeltäter war ein zwei Meter tiefes Loch, fast eine Höhle. „Sie führt womöglich zu einem unterirdischen See", vermutet Johan. Er prüft noch mal den Reifendruck und die Fahrt geht weiter.
Bald erkennt man am Horizont schemenhaft die Gipfel des Kerlingarfjölls. Die höchsten Berge erreichen um die 1.400 Meter. Es wird auch „Weibsgebirge" genannt. Denn als markanteste Stelle ragt eine 25 Meter hohe Felszinne empor, in der Einheimische eine versteinerte Troll-Frau zu erkennen glauben. Der Legende nach versteinern die nachtaktiven Trolle sobald das Tageslicht sie erreicht. Auch gestandene Männer wie Johan glauben an solche Fabelwesen. „Man muss aufpassen wo man was in der Natur baut, damit man sie nicht verärgert", meint er.
Hüttendorf erzeugt seinen eigenen Strom im Fluss
Spätnachmittags erreichen wir unser Ziel. Am Fluss Åsgarđur liegen kleine Nur-Dach-Hütten verstreut wie dunkle Riesen-Toblerone-Stücke in weißer Landschaft, daneben ein Schlaf- und ein Haupthaus. Am nächsten Morgen schnallen wir die Schneeschuhe unter und starten zur ersten Tour auf den Hausberg. Ganz unerwartet blitzt die Sonne wie in der Karibik, der Himmel tiefblau und kein Lüftchen regt sich. Auf dem Gipfel können wir uns gar nicht satt sehen an der gleißenden Weite – als hätte Verpackungskünstler Christo die Berge und Seen in weißes Geschenkpapier verpackt. Die freche Sonne hat es an einigen Stellen schon mal aufgerissen, heraus lugt der Inhalt aus uraltem Vulkangestein. Richtung Süden glänzen blanke Eisflächen, dahinter dampft es, wie aus einem Kessel. Dort liegen die heißen Quellen von Hveradalir, die wir am nächsten Tag besuchen wollen.
Auf dem Rückweg hören wir Hundegebell. Am Fuße des Berges trainiert eine Gruppe des isländischen Rettungsdienstes mit ihren Hunden die Lawinen-Verschütteten-Suche. „Es dauert Jahre bis die Tiere fertig ausgebildet sind. Heute war Prüftag", erzählt die dunkelhaarige Hrefna und streichelt ihrem Labrador Dimma über den Rücken. „Leider ist er durchgefallen. Normalerweise trägt der Wind den Suchgeruch in die Hundenase. Aber es war so windstill und deshalb zu schwer". Doch sie hofft, dass es beim nächsten Mal klappen wird.
Später verspricht der Himmel einen fantastischen Sonnenuntergang. Deshalb verzichtet ein Teil der Gruppe auf das Abendessen im Warmen. Stattdessen packen wir eine Thermoskanne Tee und ein paar belegte Brote ein und stiefeln noch mal auf den Hausberg. Genau zum richtigen Zeitpunkt kommen wir oben an. Die Sonne sinkt hier viel langsamer als im Süden. Dabei färbt sie den Himmel orange, später wechselt sie zu rosa und dann in einen mystischen Blauton, der die Landschaft in ein surreales Gemälde verwandelt.
Zurück in unserem Quartier liegen die Hütten schon fast im Dunkeln. Das Haus in dem wir übernachten ist erst wenige Jahre alt. Die Zimmer sind für Berghütten komfortabel ausgestattet, haben sogar Dusche und WC. Die Inhaber planen weitere Gebäude dieser Art. Dafür sollen allerdings die romantischen Spitzdach-Hütten weichen. „Sie verbrauchen zu viel Strom", sagt Páll, einer der Inhaber. Er sitzt in seinem Büro und kann den Blick kaum vom Laptop heben. Momentan verhindern Naturschützer sein Projekt, weil sie befürchten, dass ein erhöhtes Gastaufkommen negative Auswirkungen auf Flora und Fauna haben wird. Schließlich muss das Hüttendorf seinen Strom durch ein kleines Wasserkraftwerk im Fluss selbst erzeugen. Dabei gibt es schon jetzt Probleme, wenn darin zu wenig Wasser fließt oder zu viel Schnee den Strom blockiert. In Pálls Laptop leuchtet dann ein Warnsignal, das bedeutet: Wasser sparen! In solchen Fällen müssen die Gäste auch mal bereit sein, auf die Dusche zu verzichten oder auf den Kaffee nach dem Essen.
Doch an diesem Abend geht alles gut. Dafür zeigt ein anderer Wert auf dem Laptop schöne Erlebnisse an. Die Nordlichtaktivität liegt auf einer Skala bei 7 von 10 Punkten. Wir haben Glück: Gleich nach dem Essen ist es so weit. Am Himmel wabern grüne Schleier, als hätte jemand Geister aus einer Flasche gelassen. Eine gefühlte halbe Stunde bewegen sie sich in Wellen auf und ab. Früher vermutete man, dass ein Sturm aufziehe, wenn die Nordlichter stark tanzten. Hinter dem Berg auf der anderen Uferseite leuchtet schüchtern ein zartrosa Lichtschleier auf, verschwindet aber immer wieder, so als traue sich eine Elfe in ihrem Abendkleid noch nicht richtig auf die Polarlicht-Bühne. Irgendwann ist die Lightshow des Nordens leider vorbei und wir fallen müde ins Bett.
Am Morgen sieht die Landschaft wieder komplett anders aus. Es hat heftig geschneit, dicke Schneewehen umarmen die Hütten. Auf dem Weg zur heißen Quelle queren wir die kleine Holzbrücke und laufen auf der anderen Seite des Flusses den Berg hoch. Die Schneeschuhe krachen und quietschen im harschigen Untergrund. Den Berggrat erreicht, blinzelt die Sonne durch die Wolkendecke und beginnt mit den Schatten Fangen zu spielen. Wir stiefeln hintereinander am Grat entlang, neben uns fällt die Bergwand steil in eine Schlucht. Unsere Reiseleiterin Astrid sorgt sich, ob der Weg passierbar sei. Der Schnee hat die Wegmarkierung schon begraben. Obendrein wurde Sturm angekündigt. Also kehren wir lieber um und laufen noch am geschützten Fluss entlang. Dabei flattern zwei aufgeschreckte Schneehühner an mir vorbei. Sie sind mit ihrem weißen Gefieder so gut getarnt, dass man sie nur erkennt, wenn sie auffliegen.
Nachts rüttelt der Wind wütend an Fenster und Türen. Morgens hat er sich etwas beruhigt. Wir wandern trotzdem lieber entlang der Straße, folgen ihr über den Fluss in die scheinbar endlose Ebene in deren Mitte ein Tafelberg thront. Wie vermutet meldet sich bald der Sturm zurück, zerrt an Mützen und Schals. Wir stemmen uns gegen den Wind; jede Minute scheint er an Kraft zuzunehmen. Himmel und Erde verschmelzen zu einem Whiteout. Ob man sich so auch auf einer Expedition in der Antarktis fühlt? Zum Glück ist es nicht mehr weit bis ins Hüttendorf.
Nach einer heißen Dusche lauschen wir den Geschichten aus Astrids Troll-Büchern: Eine handelt von der Troll-Mutter Flumbra und ihren acht Kindern. Darin bebt die Erde wenn die Trolle sich lieben, wenn sie kochen, brodelt ein Vulkan. Zürnen sie miteinander, dann stürmt es oder ein Gewitter donnert übers Land. An diesem Abend scheinen sie noch heftig zu streiten: Das Haus knarzt, der Wind pfeift durch Ritzen. Öffnet man die Tür, reißt er sie einem gleich wieder aus der Hand. Draußen arbeiten die Schneeflocken daran, das Hüttendorf in dickes Weiß zu hüllen. Schneeschichten kleben wie Watte vor den Fenstern. Die Heizung ist ausgefallen und es gibt kein Teewasser mehr. Wir sitzen in Daunenjacken beim Essen. Die Stimmung ist trotzdem gut und wir lassen uns den Plokkfiskur schmecken – ein bodenständiges Nationalgericht aus gestampftem Schellfisch und Kartoffelpüree mit Käse überbacken.
38 Grad warmes Quellwasser
Am Abreisetag toben die Trolle immer noch, deshalb können wir erst um 12 Uhr aufbrechen. Unterwegs haben wir kaum Aussicht. Die Reifen wirbeln Schneebrocken hoch, die gegen die Seitenscheiben klatschen. Doch die Technik navigiert uns zuverlässig Richtung Reykjavík. Jeder Fahrer versucht dabei die günstigste Route zu erwischen und mancher hat seinen Spaß, den anderen zuvorzukommen. „Hohoho", lacht Johan mit tiefer Stimme, wenn er jemanden überholt hat.
An einer Schneewehe bleiben diesmal alle drei Jeeps gleichzeitig stecken. Da hilft es nur, dass jeder Wagen Zentimeter für Zentimeter vor- und wieder zurückrollt, es immer wieder versucht – bis sich einer frei gefräst hat und die anderen seine Spur mitnutzen können.
Schließlich erreichen wir die Asphaltstraße. Die Fahrer pumpen wieder mehr Luft in die Reifen und wir düsen weiter Richtung Laugarvatn. Dort wartet doch noch eine heiße Quelle. Im Thermalbad Fontana steigen wir in 38 Grad warmes Wasser. Offenbar heruntergekühlt, denn die Temperatur ist so hoch, dass die Betreiber sogar ein eigenes Thermen-Brot in der Erde backen. Obendrein gibt es in der Anlage drei Saunen und einen eiskalten See. Das Ganze ist nicht nur ein Erlebnis für die Haut, sondern auch für die Nase: Das schwefelhaltige Wasser riecht stark nach faulen Eiern. Aber der Gestank ist typisch für Islands Erdquellen. Wie er entsteht? – Das können sicher die Trolle erklären!