Der Guide Michelin hat die „Weinbar Rutz" an der Chausseestraße für ihre „sorgfältig zubereiteten Speisen zu einem besonders guten Preis-Leistungs-Verhältnis" erneut mit dem „Bib Gourmand" ausgezeichnet. Völlig zu Recht, wie unsere Tester finden.
Marco Müller hat sich der „Rettung der deutschen Esskultur" verschrieben. So steht’s auf der Tafel im Gastraum geschrieben, und so wird’s auch gemacht. Marco Müller „rettet" sehr erfolgreich und leidenschaftlich. Denn bei unserem Besuch in der „Weinbar Rutz" wird ein Gericht nach dem anderen aufgetragen. Und zwar solche, bei denen sich zunächst leichte Zickigkeit in mir zu Wort meldet: „… aber eigentlich mag ich das doch gar nicht." Mimimi! Zum Beispiel: Barbecue-Rippchen. Ein biegsamer, dunkelbraun gerösteter Strang mit den typischen, aus dem Fleisch herausstakenden langen Knochen. „Ich mag überhaupt nicht daran rumnagen", mäkelt es weiter. Aber kneifen gilt nicht. Zumal nicht, wenn Marco Müller auftischt.
Einmal Messer und Gabel gezückt und der Versuch, an den Rippchen herum zu operieren, scheitert sofort. So butterweich wie das Wollschwein von Bauer Beuthe aus Schwante vom Knochen fällt, zerfallen meine Vorurteile. Das ist einfach nur enorm wohlschmeckendes Fleisch, würzig und deftig auf die feine Art. Neben der Barbecue-Paste, in der das Fleisch sich ausgiebig wälzen durfte, ist der Trick aus der produktverliebten Tüftler-Küche schlicht: „Lange, lange schmoren." Ja dann! Striche von grünem Zuckerschoten-Püree und Spritzer orangefarbener Karotten-Soße peppen den Teller farblich auf und sind ein süßer Puffer zur weichen Schärfe des Fleisches.
„Wir kochen für die Weinbar wie Mutti kocht", sagt Marco Müller. Nach dem größten Trubel in der Küche findet er die Zeit, auch seinen Gästen in der Weinbar Hallo zu sagen.
Das „Rutz" teilt sich in zwei unterschiedliche Lokale. Das feinschmeckerige, zweifach besternte und mit 18 Punkten vom Gault Millau ausgezeichnete „Rutz" im ersten Stock und in die „Weinbar Rutz", die die Gäste im Erdgeschoss mit unkomplizierter deutscher Küche zum Wohlfühlen empfängt, zu der man „gerne eine Flasche Wein leer macht", wie Marco Müller sagt. „Die Produktversessenheit oben ist dieselbe wie unten. Aber unten gibt’s keine übertriebene Tellerakrobatik. So wie’s im Garten geerntet wurde oder auf der Weide stand, soll es erkennbar sein."
„Wir kochen, wie Mutti kocht"
Stimmt. Scheiben von Benser-Blutwurst aus Neukölln lagern auf einem Kartoffel-Nussbutter-Püree. Karotten und Perlzwiebeln dazu, Röstzwiebeln drüber „und fertig." Vor allem das Püree mit dem wohligen Schmelz der gebräunten Butter schmeichelt uns an.
„Das müsst ihr auch noch probieren", ruft uns Marco Müller zu, als er wieder in die Küche entschwindet. Wir bekommen ein Schälchen cremigen Grünkohl mit einem Scheibchen Neuköllner Knacker, ebenso von der Metzgerei Benser. Der grüne Kohl hat – obschon weich und eintopfig gekocht – noch Textur und geradezu ein bisschen Biss. „Mutti" kann was!
Nun hat Marco Müller keineswegs den Grünkohl neu gezüchtet, aber er achtet auf Güte und Herkunft seiner Produkte und kennt die Erzeuger. „Das ‚Rutz‘ ist in der Zeit entstanden, als man zum Österreicher gehen musste, wenn man gut Deutsch essen wollte", sagt er. 2001 eröffnete, damals noch unter Küchenchef Ralf Zacherl, das „Rutz" an der Chausseestraße. 2004 übernahm Marco Müller. Jene Zeiten sind längst passé, und das mit den zwei oder drei Flaschen guten Weins, die zwanglos zu einem Klassiker der deutschen Tellerkultur genossen werden können, schätzen viele Gäste. Wir werden von Julius Lemp, der „rechten Hand von Barchef Felix Hocke", geradezu aufrührerisch bedient. Die „Rutz Rebell"-Kaltgetränke – Weine, Biere und Brände – sind Kreationen, die eigens fürs „Rutz" gekeltert, angesetzt, destilliert oder gebraut wurden. Wir starten mit einem „sauren Vollbier", das die „Brewbaker" aus Moabit rebellisch brauten, zum selbst gemachten Baguette und zum Sauerteigbrot von der Bäckerei Pawlik aus Wilhelmsruh. Leicht gesalzene und aufgeschlagene Butter, ein weiches, süffiges Bio-Leinöl aus Berlin sowie Salz und Pfeffer werden gereicht.
Schon gibt das mit hoher Stammwürze und Weinhefe gebraute Bier im Stielglas sein „weiniges Aroma", wie Julius Lemp ankündigte, an uns ab. Aber selbst Salz und Pfeffer sind eine Erwähnung wert: Das Salz ist dem englischen Meer entsprungen und hat sich mit Chilischote zusammengetan. Der grob gestoßene Pfeffer dagegen ist eine Mixtur aus schwarzem, grünem, weißem, langem, Berg- und Kubebenpfeffer. So ziemlich alles, was aus der Familie Piper und deren Anverwandten Rang und Namen hat, hat sich eingefunden. Kardamom und Piment kommen ebenfalls dazu. Das mag sich überkandidelt anhören, ist aber lediglich konsequent durchdacht. Die verbindliche, harmonische Mischung bereichern Leinöl und Butter zum Brot mit eigener Note. Vom Einfachen kommt in der „Weinbar Rutz" stets das Beste auf den Tisch. Und weil das Einfache von echten Menschen mit viel Arbeit und Liebe erzeugt wird, werden eben auch der Name der Produzenten und der Herkunftsort genannt.
Wer indes keine Lust auf Meditationen über Pfeffersorten oder Meersalzflocken hat, der lässt es sich einfach schmecken. Missioniert wird in der „Weinbar Rutz" nämlich nicht. Natürlich sind alle im Team leidenschaftlich dabei, uns alles über den Speckstaub zum handgeschnittenen Jungbullen-Tartar vom Öhe-Rind – „nicht aus dem Filet! Das ist wichtig!"– und zur im Vakuum gegarten und geflämmten Landgurke zu erzählen. Oder über Winzer Dominique Huber, der seinen 2012er „Rutz Rebell" Terra de Cuques aus der katalonischen Region Priorat in großen Flaschen liefert, hinter denen die Begleiterin beinah verschwindet. Hat da ein Port mitgespielt, mit dieser spitzen, leicht sprittigen Note?
„Der Wein ist tatsächlich mit Pedro Ximénez versetzt", verrät Julius Lemp, mit einer sehr süßen, weißen Traubensorte, mit der Sherry abgerundet wird.
Der Wein wird immer weicher und breiter, je länger er im Glas atmen darf. Seine Intensität verdankt er nicht zuletzt den sechs Monaten Zeit, die er auf der Maische reifen durfte. Der Priorat hält auch einem Rindvieh stand – dem Aubrac-Rind aus dem Barnim. Die Rinder dürfen bei Ben Schlemmermeier 365 Tage im Jahr auf der Weide stehen und werden dort von einem Metzger aus der Region geschossen. Anschließend landen sie gut gebräunt und in diesem Falle als Rib-Eye-Steak auf unserem Teller.
Selbst Kutteln werden zum eleganten Genuss
Übrigens ist das Durchprobieren durch die Gläser oder Flaschen kein hochexklusives Vergnügen: Die Preise sind mit 18 Euro Korkgeld pro Flasche oder mit sechs oder 7,50 Euro je 0,1er-Glas in dieser Liga sehr fair kalkuliert. Gleiches gilt fürs Essen. Ein kleines Brot mit „Pfälzer Leberworscht" von Hambel gibt’s schon für 7,50 Euro; die Rippchen für 19,50 Euro und einen großen Salat vom Babyspinat mit Haselnüssen und Grapefruit etwa für 16,50 Euro. Viele Gerichte sind zudem in großer oder kleiner Ausgabe wählbar. Kein Wunder, dass der Guide Michelin 2018 die Weinbar für ihre „sorgfältig zubereiteten Speisen zu einem besonders guten Preis-Leistungs-Verhältnis" mit dem „Bib Gourmand" erneut auszeichnete.
Wir probieren jetzt alles, auch das Gericht mit der interessanten Textur. „Gezupftes Geflügel in geradezu süffiger Tunke", mutmaße ich mit einem Bissen vom cremefarbenen Ragout im Mund. Aber nein. Es sind Kutteln in Rieslingsoße. Ach, ist das nicht der Rinderpansen, der gemeinhin heutzutage ans Haustier verfüttert wird? Das Gericht ist einmal mehr ein Lehrstückchen zum Thema Locker-Machen, Probieren und Vorurteile abbauen. „Es ist schwierig, Kutteln elegant darzustellen", merkt Marco Müller an. Kein Zweifel, er kann das. „Der Riesling bringt eine ordentliche Säurestruktur rein." Auch Estragonöl spielt mit.
Wie konnte es eigentlich kommen, dass wir uns so inniglich mit dem Essen befassen, obwohl wir eine Weinbar besuchen? Ist das eine subversive Häppchen- und Happen-Attacke von Chef und Küche? Keine Frage, Weine und Speisen sind einander ebenbürtig. Das ist nicht anders zu erwarten bei dem geballten Weinverstand des Teams im „Rutz". Außerdem steht der „Weinladen Schmidt" hinter den Lokalen und sorgt oben wie unten für gut gefüllte Regale und Gläser. Es ist also relativ egal, ob eine „gute Flasche" oder die gute deutsche Küche der Grund für den Besuch sind: Der Abend wird sowieso wohlschmeckend ausgehen. Wer spontan hereinschaut, ergattert wahrscheinlich sogar einen der 35 Plätze an den Tischen. In der Weinbar kann, aber muss keineswegs unbedingt reserviert werden.
Das Dessert ist das hübscheste ever: purpurfarben! „Berlin Cheesecake à la Rutz" mit dunkelvioletten Tupfern aus Gelee von eingelegten Kirschen und Heidelbeeren. Der Geschmack hält mit der Optik mit: Ein fein aromatisches Kiefernnadel-Eis lässt einen Hauch Nadelwald im Frühling übers schicke Schälchen schweben. Marco Müller sternt uns auf den letzten Metern noch mal kurz von oben an, so scheint’s. Der Sommelier schenkt eine flotte „Erwachsenenlimonade", einen 2015er Riesling Kabinett von Maximilian von Kunow vom Weingut von Hövel an der Saar, dazu ein – süß, aber mit wenig Alkohol. Ach, es kann so schön sein, schlicht und unkompliziert zu essen und zu trinken. Ganz en passant Vorbehalte abzubauen und so fröhlich angefüttert wiederum über die Fütterung des Sparschweins für einen Besuch oben, mit Sternchen und Schnörkeln, nachzudenken.