Kopfschütteln auf dem Deutschen Pflegetag in Berlin über die neue Bundesregierung: Die im Koalitionsvertrag vereinbarten 8.000 zusätzlichen Pflegestellen werden als Affront gegenüber der Branche gewertet. Langfristig fehlen mindestens 100.000 Kräfte, so Franz Wagner, Präsident des deutschen Pflegerates.
Herr Wagner, seit Jahren doktern diverse Regierungen am Pflegestärkungsgesetz herum. Doch statt dass es besser wird, wird der Notstand zur Dauereinrichtung …
Das ist richtig. Wir haben viel zu wenig Personal, und das hat verschiedene Ursachen. Zum einen natürlich den steigenden Bedarf: Es gibt immer mehr alte und damit pflegebedürftige Menschen. Parallel dazu haben wir es aber auch lange versäumt, in die Pflege zu investieren, Leute auszubilden und dafür zu sorgen, dass die Pflege ein attraktiver Beruf ist. Und dann haben wir da die demografische Entwicklung – das heißt auch bei uns: immer weniger Auszubildende.
Im Koalitionsvertrag stehen 8.000 zusätzliche Pflegkräfte, die sofort eingestellt werden sollen. Ist das nicht eher ein Witz?
Das ist tatsächlich völlig unzureichend, denn Sie müssen diese angekündigten 8.000 Pflegekräfte nämlich auf 13.600 Altenheime verteilen. Da kommen sie dann pro Einrichtung auf einen Wert von 0,6. Also eine gute halbe Stelle mehr wird da dann tatsächlich geschaffen. Der deutsche Pflegerat ist der Meinung, wir brauchen in der ambulanten und stationären Pflege kurzfristig mindestens 50.000 Stellen mehr. Und langfristig sprechen wir von einem Mehrbedarf von 100.000 Stellen. In dieser Rechnung sind noch nicht mal die Überstunden mit berücksichtigt.
Wie viele sind das denn?
Das sind nochmal 9,5 Millionen Überstunden im Jahr. Wenn Sie nur die Überstunden mit einem Schlag abbauen wollten, dann müssten akut 5.000 Kräfte eingestellt werden.
Dann bleiben von den 8.000 angekündigten zusätzlichen Stellen noch genau 3.000 übrig.
Wechseldienst, auch an Feiertagen, eine bescheidene Bezahlung – was kann den Beruf attraktiver machen?
Der Beruf als solcher ist attraktiv, Sie helfen anderen Menschen. Aber die Rahmenbedingungen sind nicht sonderlich gut, und da muss sich deutlich was verändern. Dieser Beruf ist zum Beispiel sehr schwer zu vereinbaren mit den eigenen Kindern. Wenn ich andere pflege, muss ich irgendwie mein Kind unterbringen können, und zwar auch am Wochenende. Und wir brauchen auch mehr Karrieremöglichkeiten, die Mitarbeiter wollen sich auch weiterentwickeln. Auch bei der Bezahlung muss etwas passieren, wobei die Bezahlung bundesweit sehr unterschiedlich ist.
Von der Politik wird immer wieder angekündigt, mehr Pfleger international, also aus ganz Europa und dem Rest der Welt zu holen. Aber das scheint gar nicht so einfach zu sein, oder?
Natürlich wird seit Jahren versucht, Pflegekräfte aus allen Teilen der Welt nach Deutschland zu bekommen. Da gibt es fachliche Anforderungen: Sie müssen von der Qualifikation mit unserer vergleichbar sein, sie müssen Deutsch können. Das wird oft kritisiert, weil das ein relativ aufwendiges Verfahren ist und jedes Bundesland dies für sich macht. Deutschland ist aber auch nicht unbedingt wettbewerbsfähig, weil in anderen Ländern tatsächlich bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege herrschen als bei uns. Wenn da jemand von den Philippinen oder Vietnam kommt, ist es dem völlig egal, ob er nun Deutsch oder Schwedisch lernt. Wenn er in Schweden wesentlich bessere Arbeitsbedingungen hat, wird er wohl eher deren Sprache lernen. Das heißt: Nur weil jemand aus dem Ausland kommt, ist er deswegen nicht gleich billiger.
Warum gibt es eigentlich immer noch keinen flächendeckenden Tarifvertrag für Pflegekräfte?
Das liegt daran, dass wir eine große Vielfalt von Trägern haben, die dann in den einzelnen Bundesländern noch unterschiedlich organisiert sind. Da gibt es den öffentlichen Dienst, die Kirchen, Wohlfahrtsverbände und viele Private, die da unterwegs sind. Die haben zum Teil Tarifverträge, zum Teil auch nicht. Und wenn sie welche haben, unterscheiden die sich auch sehr. Bisher hat es der Gesetzgeber nicht geschafft, diese zu bündeln. Es gibt zwar einen Mindestlohn in der Pflege, aber einen flächendeckenden Tarifvertrag haben Bund und Länder noch nicht umsetzen können. Insofern wäre es ein großer Fortschritt, wenn die neue Bundesregierung einen solchen einheitlichen Tarifvertrag angehen würde: Damit würde der Beruf wettbewerbsfähiger werden.
Heißt das auch, die Pflege gehört eigentlich von einer Bundesbehörde zentral gesteuert, von einer Art Bundespflegekammer?
Mehr zentrale Steuerung wäre auf jeden Fall wünschenswert, aber das stößt ganz schnell an die föderalen Grenzen unseres Landes, ähnlich wie beim flächendeckenden Tarifvertrag. Denn grundsätzlich sind für Gesundheit – und damit auch für Pflege – in vielen Fällen die Länder zuständig. Ein erster Schritt auf so einem Weg wäre es, wenn wir einfach mal zentral Zahlenmaterial sammeln würden, also mehr statistisches Material hätten. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie viele Pflegekräfte in den nächsten 15 Jahren in Rente gehen – wir haben Schätzungen, aber keine belegbaren Zahlen. Mit statistischem Material kann man dann auch besser planen. Abhilfe können hier die ersten Pflegekammern schaffen, die jetzt in einigen Bundesländern errichtet werden. Diese werden, ähnlich wie die Ärztekammern, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts sein, in der alle Berufsangehörigen zusammengefasst und ihre Interessen dann vertreten werden.
Das Pflegepersonal selbst würde oft gern mehr Verantwortung und auch heilkundliche Tätigkeiten übernehmen. In den skandinavischen und angelsächsischen Ländern ist das Berufsbild längst in diesem Sinne geändert worden, warum nicht in Deutschland?
Das stimmt, Pfleger bei uns stoßen oft an juristische Grenzen, weil sie Dinge, die sie können, nicht ausführen dürfen – wie heilkundliche Tätigkeiten. Das hat man in anderen europäischen Staaten tatsächlich anders geregelt, das geht mithin bis zur Verordnung von Medikamenten durch den Pfleger.
Bei uns darf dies nur der Arzt. Das wäre ein großes Potenzial, den Beruf attraktiver zu machen. Aber da gibt es großen Widerstand aus der Ärzteschaft, wobei praktizierende Ärzte froh wären, an dieser Stelle entlastet zu werden. Die Standesorganisation tut sich schwer, hier Verantwortung abzugeben; immer mit dem Hinweis: Wer haftet dann für mögliche Schäden?
Würden die heilkundlichen Tätigkeiten auf die Pfleger übertragen, käme das nicht preiswerter als bisher durch einen Arzt?
Dieses Argument wird zwar gern ins Feld geführt, aber ich weiß aus internationalen Studien, dass dieser Effekt so nicht eintritt. Es wird aber auch nicht teurer – und die Qualität, das ist ja das Entscheidende, wird auf jeden Fall besser. Aber auf das Einsparen kommt es bei der Pflege auch nicht an, sondern die Menschen sollen besser versorgt werden. Es erhebt sich auch die Frage: Wenn eine Leistung entsprechend der Anforderung vergütet wird, soll die pflegerische Kraft weniger dafür bekommen als der Arzt, obwohl sie dasselbe macht?
Wir wollen eine gute Qualität in der Versorgung und müssen schauen: Wer kann das am effizientesten machen? Das ist der klare Ansatz des Deutschen Pflegerates.