Montreal, Chicago, die New York Rangers: Wenn Mitte April in der nordamerikanischen Eishockey-Profiliga NHL die Play-offs beginnen, sind einige der großen Clubs dieses Mal nur Zuschauer. Stattdessen haben mit den Vegas Golden Knights und den Winnipeg Jets zwei Underdogs gute Chancen.
Irgendwie ist es logisch, dass diese Geschichte über das Eishockeyteam aus Las Vegas mit Glücksspiel beginnt. Wer vor dem Start der neuen Saison in der nordamerikanischen Profiliga NHL (National Hockey League) zehn Euro auf einen Stanley-Cup-Sieg der Vegas Golden Knights gesetzt hatte, dem versprachen die Buchmacher damals einen satten Gewinn von 5.000 US-Dollar. Die Vegas Golden Knights galten als der größte Außenseiter der ganzen Liga. Immerhin hatte das Expansionsteam bei der Zusammenstellung des Kaders fast ausschließlich auf Personal zurückgreifen können, das bei den anderen Mannschaften kaum über die Rolle eines Ergänzungsspielers hinausgekommen war. Selbst Trainer Gerard Gallant musste eingestehen, dass er zunächst ziemlich erschrocken gewesen war, als er hörte, dass sich der Club dennoch die Play-off-Teilnahme binnen drei Jahren und die Meisterschaft binnen sechs Jahren vorgenommen hatte. „Das hat mir anfangs schon ein bisschen Angst gemacht", sagte Gallant.
Inzwischen ist die Quote für einen Titelgewinn der Golden Knights auf 7:1 gesunken; für einen Einsatz von zehn US-Dollar würde man mittlerweile also gerade einmal 70 Dollar wiederbekommen. Denn was niemand für möglich gehalten hätte, ist tatsächlich eingetroffen: Las Vegas zählt gleich in seiner ersten Saison in der NHL zu den absoluten Spitzenteams. Wenn am 11. April die Play-offs beginnen, dann zählt das Team aus der Weltunterhaltungshauptstadt auf einmal zu den Mitfavoriten. Und so sagte Torwart Marc-André Fleury, als er unlängst auf den ursprünglichen Sechs-Jahres-Plan bis zur Meisterschaft angesprochen wurde: „Warum so lange warten? Lasst es uns früher machen."
Fleury als dreifacher Stanley-Cup-Sieger mit den Pittsburgh Penguins ist wohl der bekannteste Spieler einer Mannschaft, die ansonsten eher eine Ansammlung zweit- und drittklassiger Spieler zu sein schien. Beim sogenannten Expansion-Draft im Sommer hatte General Manager George McPhee jeweils einen Spieler von den anderen 30 NHL-Teams aussuchen dürfen, allerdings konnte die Konkurrenz ihre besten Spieler und Talente vor dem Zugriff der Golden Knights schützen. „Wir sind eine Gruppe von goldenen Außenseitern", sagte Stürmer William Karlsson. „Wir sind aber auch ein Haufen Jungs, der etwas beweisen will."
Trotzdem traute der Mannschaft zunächst kaum jemand etwas zu. Und ein Blick in die Historie schien die anfängliche Skepsis zu bestätigen: Bislang hatten sich die Expansionsteams stets schwer getan; die Nashville Predators etwa brauchten 13 Jahre, bis sie ihre erste Play-off-Serie gewinnen konnten; die Columbus Blue Jackets benötigen ebenso lange, um sich überhaupt das erste Mal für die Endrunde zu qualifizieren. Zumindest Letzteres hat Las Vegas nun gleich im ersten Anlauf geschafft und damit Geschichte geschrieben. Nie zuvor hatte ein neu dazugestoßenes Team in seiner Premierensaison auf Anhieb eine positive Bilanz erreicht, also mehr Siege als Niederlagen – weder in der NHL noch in den anderen drei nordamerikanischen Profiligen NFL (American Football), NBA (Basketball) und MLB (Baseball).
Die besondere Stärke der Mannschaft ist ihre Ausgeglichenheit. In der Scorerliste der National Hockey League findet sich der erste Spieler der Golden Knights – Jonathan Marchessault – erst auf Rang 24, doch dafür haben gleich fünf Spieler mehr als 50 Scorerpunkte gesammelt. Einer von ihnen ist Erik Haula: „Wir arbeiten hart, jeder kümmert sich um jeden", sagte er. „Ein gutes Team besteht nicht aus der Leistung eines guten Individualisten. Es beinhaltet gute Gruppen- und Teamarbeit." So konnte der Club auch zahlreiche Ausfälle wegen Verletzungen ohne größere Einbußen überstehen. Verteidiger Luca Sbisa meinte: „Wir sind die am härtesten arbeitende Mannschaft der NHL."
„Wir sind die am härtesten arbeitende Mannschaft der NHL"
Ein weiterer Faktor waren wohl auch die traurigen Umstände des Saisonstarts. Nur wenige Tage zuvor hatte ein Amokläufer bei einem Country-Festival 58 Menschen getötet und 851 weitere verletzt. Nach diesem Massaker stand das erste Heimspiel der Golden Knights deshalb unter besonderer Beobachtung. „Es ging nicht einfach darum, ob wir gewinnen. Es ging darum, wie unsere Stadt auf die Tragödie reagiert", so Trainer Gerard Gallant. Die erfrischenden Auftritte ihrer Eishockeymannschaft haben den Menschen in Las Vegas ihre Freude zurückgegeben. „Ich habe den Eindruck, dass wir mit der Stadt dadurch sehr eng verbunden sind", meinte auch Teameigner Bill Foley. Gerade in eigener Halle sind die Golden Knights so kaum zu schlagen. Die Arena ist fast immer ausverkauft, nur Chicago und Minnesota können eine noch bessere Auslastung vorweisen. In der Vergangenheit hatten die großen nordamerikanischen Ligen schon häufiger versucht, in Las Vegas Fuß zu fassen, doch mehrere Versuche waren gescheitert. Bis 2017 war die Stadtregion mit ihren rund zwei Millionen Einwohnern deshalb einer der größten amerikanischen Märkte ohne eigenes Profiteam gewesen. Doch die Zweifel, ob in der Stadt des Glücksspiels auch Profisport eine Zukunft hat, scheinen durch den Erfolg der Golden Knights nun endgültig ausgeräumt.
Ein Titelgewinn wäre dennoch eine Sensation. Das gilt auch für die zweite Überraschungsmannschaft der Saison, die Winnipeg Jets, die trotz aller Erfolge von vielen noch immer nicht für voll genommen wird. Vielleicht liegt das auch an der Stadt, aus der sie kommen – schließlich ist Winnipeg im Vergleich zu anderen NHL-Städten wie Los Angeles, New York, Toronto oder eben Las Vegas eine absolut graue Maus. Gerade erst haben drei Spieler der San José Sharks die Stadt anlässlich eines Auswärtsspiels als den schlimmsten aller NHL-Standorte bezeichnet. Kalt und dunkel sei es dort und nicht einmal das Internet funktioniere vernünftig. „Wer Palmen sucht, für den ist es vielleicht nicht der richtige Ort", meinte Winnipegs General Manager Kevin Cheveldayoff. „Aber wer eine fanatische Fangemeinde will, für die die Jets nach ihrer Familie das Wichtigste im Leben sind, für den gibt es keinen besseren Ort als diesen."
Auf ihre treuen Anhänger können sich die Jets verlassen. Die Stimmung in der Arena sucht in der NHL ihresgleichen. In den 80er-Jahren hatten die Fans die Tradition des „White Out" begründet, die mittlerweile an vielen anderen NHL-Standorten kopiert worden ist. Zu allen Play-off-Partien erschienen die Zuschauer komplett in Weiß gekleidet – ein beeindruckendes Bild. Allerdings tat sich der Club zunehmend schwer, mit der finanzstärkeren Konkurrenz mitzuhalten. Winnipeg ist die einzige Stadt mit einem NHL-Club mit weniger als einer Million Einwohnern und aufgrund dessen auch ein entsprechend schwieriger Markt, was Sponsoren, Merchandising und Fernsehgelder angeht. 1996 musste das Team deshalb nach Phoenix umziehen. Doch 2011 kehrte mit den früheren Atlanta Thrashers eine neue Franchise in den hohen Norden zurück, die sich seither heimlich, still und leise bis in die Spitzengruppe der NHL vorgekämpft hat.
Mit einer physisch starken Abwehr und dem überragenden Torwart Connor Hellebuyck machen die Winnipeg Jets ihren Gegnern das Leben schwer. Aus einer ausgeglichenen Offensive mit insgesamt fünf Stürmern mit mehr als 50 Scorerpunkten ragen Blake Wheeler und der Finne Patrick Laine heraus, der mit seinen erst 19 Jahren schon jetzt der zweitbeste Torjäger der Liga ist. Allerdings fehlt es Laine – wie dem gesamten Team – an Play-off-Erfahrung. Denn seit 2011 waren die Winnipeg Jets zuvor erst einmal in der Endrunde vertreten und unterlagen dort gleich in der ersten Runde den Anaheim Ducks glatt in vier Spielen mit 0:4.
Trotzdem tragen die Jets die Hoffnungen einer ganzen Nation. Sie sind Kanadas beste Chance auf einen Titel. Seit mittlerweile 25 Jahren wartet das Mutterland des Eishockeys auf einen erneuten Stanley Cup. Die Montréal Canadiens hatten ihn 1993 letztmals nach Kanada entführt, seither gewannen nur noch amerikanische Clubs. Winnipeg soll der Durststrecke ein Ende setzen. Die Fachzeitschrift „Hockey News" prognostizierte schon vor einigen Jahren, dass die Jets bald Meister werden würden, genauer im Jahr 2019 – das wäre die nächste Saison. Für diese Voraussage hätte es damals ebenfalls eine gute Quote gegeben. Doch wie im Fall der Vegas Golden Knights ist es mittlerweile längst kein so gewagter Tipp mehr.