20 Millionen Deutsche leiden unter chronischen Schmerzen. Viele pflegen sie durch Schlucken rezeptfreier Präparate in Eigenmedikation zu bekämpfen – obwohl dies erhebliche Gesundheitsrisiken birgt und jährlich Tausende Menschen hierzulande daran sterben.
Viele Patienten schlucken ASS, Ibuprofen oder Diclofenac so unbekümmert wie Smarties – viel zu oft und über einen viel zu langen Zeitraum. Und keiner denkt an die langfristigen Schäden", erklärt der renommierte Experte und leitende Arzt am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg Prof. Dr. Sven Gottschling. „Es gibt Leute, die nehmen jahrzehntelang Ibuprofen gegen chronische Gelenkschmerzen. Sie riskieren Magen- und Darmblutungen, Nierenschäden und haben ein hohes Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall."
Offensichtlich macht sich hierzulande kaum jemand ernsthaft Gedanken darüber, welche teils erheblichen Gesundheitsgefahren die unkontrollierte, überdosierte und kontinuierliche Anwendung dieser in den Apotheken frei verkäuflichen Medikamente mit sich bringen können. Nach Schätzungen Sven Gottschlings, der sich auch in seinem 2017 erschienenen Sachbuch „Schmerz los werden" mit der Problematik auseinandersetzte, sterben in der Bundesrepublik jährlich rund 4.000 Menschen durch innere Blutungen infolge von Schmerzmittelgebrauch. „Das sind mehr Todesopfer als durch Verkehrsunfälle."
Kein Wunder, dass viele Experten schon seit Jahren die Einführung einer Rezeptpflicht für die wichtigsten frei verkäuflichen Schmerzmittel oder zumindest eine deutliche Verkleinerung der Packungsgrößen fordern – und sich nicht nur auf die Aufklärung des Patienten durch den Apotheker verlassen wollen.
In deutschen Pharmazien gehen jährlich rund drei Milliarden Einzeldosen Schmerzmittel über den Ladentisch. Genug, um zehn Millionen Bundesbürger an jedem Tag des Jahres mit einer Tablette zu versorgen. Die fünf wesentlichen Schmerzmittel-Wirkstoffe Ibuprofen, Paracetamol, Acetylsalicylsäure, Diclofenac und Naproxen zählen zu den „nichtsteroidalen Antirheumatika" (NSAR), worunter Präparate mit schmerzstillenden, fiebersenkenden und entzündungshemmenden Eigenschaften zusammengefasst werden. Die Hersteller versuchen dem Verbraucher mithilfe von millionenschweren Werbekampagnen zu suggerieren, dass die Pillen wie angesagte Lifestyle-Produkte fit machen und quasi in jeder erdenklichen Lebenslage hilfreich sein können. Dagegen weisen Mediziner wie Sven Gottschling oder der ärztliche Leiter des Schmerzzentrums Berlin Jan-Peter Jansen eindringlich daraufhin, dass aus ihrer Sicht der langfristige Konsum von NSARs gesundheitsschädlicher sein kann als das Schlucken von Opioiden. Gottschling erklärt: „Die meisten Ärzte und Patienten haben eine Heidenangst vor Opioiden gegen Schmerzen. Ich plädiere dagegen für einen viel häufigeren Einsatz von Morphin und ähnlichen stark wirkenden Schmerzstillern. Morphin ist für Patienten auf Dauer weniger gefährlich als Ibuprofen oder Diclofenac. Ein Opioid können chronisch Kranke ein Leben lang ohne gesundheitliche Folgen nehmen, die Schmerztabletten eher nicht."
Natürlich ist auch aus medizinischer Sicht nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand bei akuten Beschwerden ein starkes Schmerzmittel einnimmt. Nur langfristiger Konsum sollte vermieden werden. Als Orientierungspunkt verweisen Experten auf die „Zehnerregel": Wer an mehr als zehn Tagen pro Monat Ibuprofen oder ähnliche Mittel nimmt, sollte sich an einen Arzt wenden. Sonst ist das Auftreten von Nebenwirkungen nicht auszuschließen. Selbst höhere Dosen können kurzfristig eingenommen werden. „Bei einem Spannungskopfschmerz oder bei einer Sportverletzung zum Beispiel kann man schon einmal ein paar Tage klotzen, aber nicht länger als drei bis sieben Tage. Wer regelmäßig an mehr als fünf Tagen Medikamente gegen Schmerzen braucht, sollte weg von den frei verkäuflichen Mitteln", betont Gottschling.
Frauen greifen besonders oft zu
Vor allem Frauen greifen hierzulande laut einer Studie des Berliner RobertKoch-Instituts gerne zu Schmerzmitteln. „Sie nehmen diese oft, um zu funktionieren", sagt der renommierte Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelversorgungsforschung am Zentrum für Sozialpolitik der Uni Bremen. Eine 2016 vom Pharmaunternehmen Bayer in Auftrag gegebene Umfrage scheint diese Einschätzung zu bestätigen. Demnach hatten 50 Prozent der befragten Frauen bekundet, dass sie Schmerzmittel ganz bewusst genutzt hatten, um alltägliche Aufgaben bewältigen zu können, 44 Prozent, um für einen wichtigen Termin fit zu sein.
Wer gelegentlich Schmerzmittel schluckt, muss sich keine gesundheitlichen Sorgen machen. Eine dauerhafte Einnahme hingegen ist mit erheblichen Gefahren verbunden. Bis auf Paracetamol greifen fast alle auf dem Markt erhältliche Präparate die Magenschleimhaut an – und sämtliche Wirkstoffe können die Nieren schädigen. Überdosiertes Paracetamol kann sogar Leberversagen verursachen. Eine 2017 veröffentlichte dänische Studie machte auf einen etwaigen Zusammenhang zwischen der Einnahme von rezeptfreien Schmerzmitteln und einem erhöhten Risiko für Herzstillstand aufmerksam. Die Wissenschaftler rieten vor allem bei den Wirkstoffen Diclofenac und Ibuprofen zu erhöhter Vorsicht. ASS kann bei Asthma-Patienten Attacken von Atemnot auslösen, außerdem hemmt es die Blutgerinnung in mehr als beträchtlichem Ausmaß. Eine in der US-Fachzeitschrift „PNAS" Anfang Januar veröffentlichte Studie hält es für möglich, dass bei unkontrollierter Einnahme von Ibuprofen die Zeugungsfähigkeit von Männern beeinträchtigt werden könnte. Schwangere Frauen dürfen Ibuprofen und Acetylsalicylsäure nur in den ersten zwei Dritteln der Schwangerschaft einnehmen, das Schlucken von Paracetamol gilt für sie bislang noch als unbedenklich.
Zum Lieblings-Schmerzmittel der Bundesbürger ist inzwischen Ibuprofen aufgestiegen. Die Präparate mit diesem Wirkstoff machen mehr als die Hälfte der Schmerzmittel aus, die ohne Rezept über Apothekentresen gehen. Allein zwischen 2007 und 2016 hat sich die Menge der verkauften Packungen fast verdoppelt. Auch bei Verschreibungen höherer Dosierungen in Arztpraxen liegt es vorne. Der Anteil von Ibuprofen am Schmerzmittelmarkt erhöhte sich zwischen 1990 und 2016 von rund sechs Prozent auf fast ein Drittel – zulasten von Klassikern wie Paracetamol und Acetylsalicylsäure, Diclofenac und Naproxen. Das mag damit zusammenhängen, dass Ibuprofen bei Schmerzen am breitesten einsatzfähig ist.
„Mischprodukte sind Unfug"
Ob Ibuprofen deutlich sicherer ist als Paracetamol, das zweitmeistverkaufte Schmerzmittel, oder Diclofenac, die Nummer vier hinter Acetylsalicylsäure, lässt sich laut Jan-Peter Jansen wissenschaftlich nicht nachweisen. Manche Analysen legten das nahe, in anderen Untersuchungen hätten sich die Wirkstoffe nicht viel genommen. Naproxen wird als fast ähnlich vielseitig einsetzbar wie Ibuprofen eingestuft, es wird zusätzlich aber auch gegen Regelbeschwerden empfohlen. Und es wirkt bei lang andauernden Kreuzschmerzen deutlich besser als Ibuprofen oder Acetylsalicylsäure, die beide wiederum die klar bessere Lösung bei kurzen Kopfschmerzattacken darstellen. Diclofenac kann sich exzellent in entzündetem Gewebe anreichern und wird daher häufig bei Sportverletzungen oder Gelenkschmerzen mit Schwellungen eingesetzt. Alle drei Wirkstoffe wirken hemmen zwar auf die Blutgerinnung, aber bei Weitem nicht so stark wie Acetylsalicylsäure, das den drei Konkurrenten zwar in Sachen Schmerzstillung in nichts nachsteht, aber dafür ernsthafte Probleme vor anstehenden Operationen bereiten kann.
Paracetamol wird in Expertenkreisen gering geschätzt. Schon 2014 hatten Forscher nachgewiesen, dass der Wirkstoff bei akuten Rückenschmerzen nicht besser als ein Placebo wirkt. „Auch bei Migräne und Kopfschmerzen hat Paracetamol laut Studienlage kaum einen Effekt, bei Gelenkverschleiß, Nervenschmerzen oder Schmerzen nach Operationen wirkt es nach aktuellen Analysen gar nicht", berichtet der Leiter der Schmerzklinik Kiel Professor Dr. Hartmut Göbel.
Bedenklich, wenn nicht gar gefährlich sind Kombinationspräparate. „Diese Mischprodukte sind Unfug", erklärt der vormals an der Universität Erlangen-Nürnberg tätige Pharmakologie-Spezialist Kay Brune. „Sie addieren selten die positiven Effekte, jedoch die Risiken der einzelnen Wirkstoffe." Zudem könnten Patienten hier kaum den Überblick darüber behalten, welche Wirkstoffe in welchen Mengen sie zu sich genommen haben.