Volksbegehren – und ihre gelegentlichen Sprösslinge, die Volksentscheide – sind eine tolle Sache für Berlin. Nimm einen kleinen Schuss Anarchie dazu, und auf einmal macht es wieder Spaß, mit Leuten über Politik zu debattieren. Eine Liebeserklärung.
Klar, bei Volksentscheiden gibt es auch tragische Verlierer. Denken Sie nur mal an die Leute mit Grundstücken in der Einflugschneise von Tegel. Oder die guten Christen vom Pro Reli-Verein, die 2009 daran scheiterten, Religion als Pflichtfach im Schulgesetz zu verankern. Oder an all die Bauherren, denen beim Anblick des Tempelhofer Felds noch immer das Wasser im Munde zusammenläuft.
Die direkte Demokratie, die seit einer bahnbrechenden Gesetzesänderung 2008 in Berlin möglich ist, bringt Schwung in die Zivilgesellschaft: Rechnet man die noch ungelöste Tegel-Frage dazu, kommt Berlin auf sechs noch offene Verfahren, die derzeit brodeln: von einem Volksbegehren zur Auflösung des Senats durch die Senioren-Partei „Die Grauen“ über eine Initiative für mehr Videoüberwachung bis hin zu einem Volksbegehren gegen die geplante Vergabe von Schul-Neubau an die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Howoge. Dessen Teilnehmer befürchten, dass die Howoge privatisiert werden könnte, und damit auch öffentliche Schulgebäude. Jedenfalls: Bei so einer Bandbreite geht wohl kaum einer leer aus. Und ob Ur-Einwohner, Neu-Berliner oder Ex-Pat, jeder kann dazu eine Meinung haben – und sich bedenkenlos darüber austauschen. Beispiel Tegel: Egal, wo man selbst politisch steht – der von den Liberalen vorgetragene Plan war populistisch genug, um 56 Prozent der Wähler zu mobilisieren. Am Ende kam nur ein „runder Tisch“ dabei raus – ja und? Vielleicht besser, so seinen Unmut zu verkünden, als rechten Möchtegern-Führern nachzuplappern. Davon abgesehen: Die offene Tegel-Frage ist ja in Wirklichkeit eine BER-Frage, weswegen bloß Hellseher sich noch zu dem Thema äußern sollten.
Ein anderes Volksbegehren feierte im Januar einen späten Sieg: Die rot-rot-grüne Regierung verabschiedete ein lange ersehntes „Mobilitäts“-Gesetz, das gute 80 bis 90 Prozent aller Wünsche der „Initiative Radentscheid“ erfüllte – ein Plan, der seit 2015 reifen musste. Die Radfahrer-Initiative konnte zwar nicht genug Unterstützer finden, um einen Volksentscheid zu erzwingen – fand in der neuen Regierungskoalition aber offene Ohren.
Vergleichsweise kleine Wellen schlägt derweil die Initiative „Berlin Werbefrei“, die seit Mitte Januar auf der Jagd nach Stimmen ist. Klingt zunächst einmal klasse – entpuppt sich dann aber bei genauerem Hinsehen als Gender-Mogelpackung mit konsumkritischem Feigenblatt. Zitat: „Fastfood, Smartphones und Models in Unterwäsche werden fast vollständig aus dem Straßenbild verschwinden. Fußballspiele, Konzerte, Kunstausstellungen und Straßenfeste erhalten dagegen mehr Aufmerksamkeit, ebenso wie Einzelhändler und Fachgeschäfte.“ Klingt ja fast nach mehr Werbung als zuvor. Und was wird dann aus dem Dildo-King? Und warum Werbung an Schulen verbieten, aber „transparentes Sponsoring“ explizit erlauben? Fragen über Fragen. Direkte Demokratie eben.
Akut geht es derzeit aber in der Pflege zu, genauer gesagt: in den Kliniken Berlins. Im Februar startete das „Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus“ zusammen mit der Gewerkschaft Verdi ein Volksbegehren. Lucy Redler, eine der Sprecherinnen, sagt: „In Berlins Kliniken fehlen etwa 3.000 Pflegestellen.“ Krankenschwestern und Pfleger, aber auch Ärzte wollen diese Missstände nicht länger hinnehmen. „Wenn der Gesetzgeber nicht handelt, tun wir es“, unterstreicht Redler.
Die Politik gibt zwar Rückenwind, aber das Ganze wird auch nicht billig: Jedes Volksbegehren kommt mit einem Preisschild, damit der Unterschreiber auch weiß, was er da absegnet. Im Falle des „Pflegenotstands“ gehen erste Schätzungen von 160 Millionen Euro pro Jahr aus, allein für die öffentliche Hand.
Das letzte Hemd hat nun mal keine Taschen. Man sieht: Es ist für jeden etwas dabei im Haifischbecken der Polit-Begehren – ob jung oder alt, rechts oder links, gender-gemainstreamt oder altmodisch. Hand aufs Herz: Die meisten, die für den Erhalt vom Flughafen Tegel stimmten, taten dies doch nur aus morbider Neugierde, um herauszufinden, was passieren würde. Selbst wenn die FDP dahintersteckt. Denn für kleine politische Abenteuer verlässt dann doch mal jeder seine eigene Komfortzone.