Deutsche Schulen müssen digitaler werden, fordern Politiker. Viele Bundesländer investieren in Smartboards, Online-Kurse und schnelles Internet. Aber es regt sich auch Widerstand gegen zunehmend technisierten Unterricht.
Prozentrechnung um 8 Uhr morgens, das ist geistiger Frühsport. Mit müden Augen sitzen die Schülerinnen und Schüler der 7b auf ihren Stühlen. Draußen ist es noch dunkel, nur das Smartboard erstrahlt schon in voller Lichtstärke. Mathematik-Lehrer Dietmar Kück schreibt eine Aufgabe an: „10 Prozent der Jungs haben ein Fahrrad, das sind 15 Jungs. Wie viele Jungs haben kein Fahrrad?“ Kaum steht die Frage an der digitalen Tafel, meldet sich ein Schüler: „Herr Kück, mein Tablet ist plötzlich auf Bulgarisch gestellt. Was soll ich machen?“ Jetzt muss der 45-Jährige sich auf zwei Dinge gleichzeitig einstellen: auf eine mathematische Gleichung. Und auf ein technisches Problem.
Die Stadtteilschule Oldenfelde in Hamburg ist eine der digitalsten Schulen Deutschlands. Etwa 850 Kinder und Jugendliche erleben dort einen Unterricht, in dem Smartboards, Smartphones und Tablets genauso selbstverständlich genutzt werden wie Bücher oder Hefte. Überall im Gebäude ist drahtloses Internet verfügbar; die Schülerinnen und Schüler bearbeiten ihre Aufgaben in einer schuleigenen Cloud. Jeder darf sein eigenes Gerät mit in den Unterricht nehmen. „Bring your own device“ lautet das Motto, kurz: BYOD.
Youtube-Dreh im Unterricht
An diesem Morgen ruft Kück ein Youtube-Video auf, in dem die Prozentrechnung erklärt wird. Als nächste Aufgabe sollen die Schüler ihr eigenes Erklär-Video drehen. Wie genau das geht? Sagt Kück nicht. Herumprobieren, ein Drehbuch entwerfen, die passende App finden: All das gehört zum Konzept. Einfach mal machen. „Alter, ich bin ein Youtuber!“, ruft ein Schüler und springt vor Freude vom Stuhl. „Ihr dürft auch in die Mensa gehen, um eure Videos zu drehen“, ermuntert Kück. Eigeninitiative ist ihm wichtig.
Obwohl die Szene anfangs etwas chaotisch wirkt, ist die 7b nach wenigen Minuten im Youtube-Fieber. Allerdings muss man dazu sagen, dass die Jugendlichen ihre Videos nicht wirklich bei Youtube hochladen. Vielmehr sollen sie in ein gesichertes Netzwerk gestellt werden, auf das nur Lehrer und Schüler zugreifen können. So herrschen an der Stadtteilschule Oldenfelde nicht nur die normalen Schulregeln. Zusätzlich hängt an der Wand ein Plakat mit „Klassenregeln für digitale Medien“: Keine Passwörter weitergeben. Persönlichkeitsrechte beachten. Fotos und Videos nur dann weiterleiten, wenn es die andere Person erlaubt.
Für Dietmar Kück ist allein das schon ein Grund, Smartphones im Unterricht zu benutzen. „Wenn man die Geräte gar nicht einsetzt, sind die Schüler sich selbst überlassen“, sagt der Lehrer. „Dann zeigt ihnen niemand, wie man Youtube zum Lernen nutzt oder Webseiten kritisch hinterfragt.“ Genau dieser Herausforderung müssten sich die Schulen heutzutage stellen, zumindest im richtigen Maß: „Wir benutzen nicht jede Stunde ständig das Tablet oder Smartphone“, sagt Kück. „Wir verwenden genauso das Lehrbuch wie das digitale Lehrbuch. Immer so, wie es zum Unterricht passt.“
Wie gut die Digitalisierung funktioniert, wird in Deutschland leidenschaftlich diskutiert. Kritiker verweisen gern auf die sogenannte ICILS-Studie, die 2014 veröffentlicht wurde. In diesem „Computer-Pisa“ wurden die digitalen Fähigkeiten von Achtklässlern in aller Welt getestet. Deutschland erreichte einen Platz unter dem Durchschnitt. So konnten etwa 37 Prozent der tschechischen Achtklässler gezielt Informationen im Internet finden – in Deutschland hingegen nur 25 Prozent. Als Reaktion versprachen viele Politiker eine stärkere Digitalisierung der Schulen; wobei die Umsetzung recht unterschiedlich klappt, schließlich sind in Deutschland die einzelnen Länder für Schulpolitik zuständig. Die FDP druckte im Bundestagswahlkampf ein süffisantes Plakat. Aufschrift: „Das Digitalste an Schulen darf nicht die Pause sein.“
In Hamburg startete im Schuljahr 2014/15 ein zweijähriges Pilotprojekt, in dem die Digitalisierung getestet werden sollte. Sechs Schulen erklärten sich bereit, bestimmte Lernplattformen zu benutzen und ein W-Lan-Netz aufzubauen. Außerdem sollte es Schülern erlaubt sein, ihre eigenen Geräte mit in den Unterricht zu bringen. Als Dietmar Kück davon hörte, war er sofort begeistert. Auch 91 Prozent der Eltern votierten laut Kück für das Projekt. Trotzdem gab es Vorbehalte, auch innerhalb des Kollegiums: „Von allein passiert gar nichts“, meint Kück. „Wenn überall W-Lan verfügbar ist, heißt das noch lange nicht, dass alle Lehrer es nutzen.“
Als Digitalbeauftragter seiner Schule ist Kück von den Chancen überzeugt, die die Technik bietet. „Vielen Schülern helfen die Lernvideos“, sagt der Lehrer. „Sie können lernen, wann und wo sie wollen – in der Pause, an der Bushaltestelle, zwischendurch. Das Smartphone wird zum digitalen Assistenten.“ Doch lernen die Jugendlichen dadurch auch mehr? „Natürlich haben wir den Dreisatz auch zu meiner Schulzeit gelernt“, sagt Kück. „Aber die Welt verändert sich eben.“ Zugleich räumt er ein, dass der Erfolg nur schwer messbar sei. Die Universität Hamburg, die das Pilotprojekt wissenschaftlich begleitet hat, kommt zum gleichen Schluss: „Aus Sicht der Evaluation ist die Laufzeit des Projektes nicht ausreichend, um die Eignung des Ansatzes abschließend zu beurteilen“, heißt es im Abschlussbericht.
Qualität statt zu viel Technik
Weit kritischer sieht Ralf Lankau die Sache. Der Professor für Mediengestaltung und Medientheorie hat ein Buch geschrieben, in dem er mit der digitalisierten Bildungswelt abrechnet („Kein Mensch lernt digital“, Beltz-Verlag). „Die Geräteausstattung sagt überhaupt nichts über die Qualität des Unterrichts“, sagt Lankau. „Trotzdem wird immer mehr Technik in den Unterricht reingedrückt. Da geht es allein um wirtschaftliche Interessen.“ Während in Berufsschulen der Einsatz von Smartphones oder Tablets noch seine Berechtigung habe, hätten sie in Grundschulen nichts zu suchen. Um über Datenschutz und Medienkompetenz zu reden, müsse man Schüler nicht zwanghaft vor den Bildschirm setzen: „Bei der Suchtprävention schenken wir doch auch keinen Alkohol aus, um möglichst nah dran zu sein.“
Der Medienwissenschaftler spitzt gern zu, doch seine Kritik kommt nicht von ungefähr. Zum einen warnt er vor der Macht von Weltkonzernen wie Google oder Facebook, die schon die Jüngsten als Zielgruppe begreifen. Zum anderen lenkt er die Aufmerksamkeit auf gesundheitliche Folgen. So verweist Lankau auf die sogenannte Blikk-Studie, bei der Kinderärzte rund 5.500 Kinder und Jugendliche in Deutschland untersucht haben. Demnach sind Kinder bis zum sechsten Lebensjahr besonders anfällig für Hyperaktivität und Sprach-Entwicklungsstörungen, wenn sie intensiv digitale Medien nutzen. Schon 70 Prozent der Kindergartenkinder spielen laut der Studie täglich über 30 Minuten mit dem Smartphone ihrer Eltern.
Auch Dietmar Kück hat die Gegenargumente schon oft gehört. Beirren lässt er sich davon nicht. „Natürlich gibt es Eltern, die das nicht wollen“, sagt Kück. „Dann frage ich: ,Wollen Sie auch, dass Ihr Kind kein Buch liest?‘“ Durch den Einsatz der Smartphones und Tablets seien seine Schüler auch nicht zappeliger als vorher. Zumal gerade die Medienkompetenz eine wichtige Rolle spiele: „Am Gymnasium nebenan wird gar nicht mit Smartphones gearbeitet“, sagt Kück, „aber da gibt’s natürlich auch Cybermobbing. Genau wie an jeder Schule. Nur wir können darüber reden, weil es im Unterricht zum Thema wird.“
In der 7b schreitet die erste Stunde voran. Die meisten Schüler sind damit beschäftigt, ihr Lernvideo zu drehen. Manche filmen sich gegenseitig, andere machen eine Nahaufnahme ihrer Hefte. Was muss ich sagen, damit mich Gleichaltrige verstehen? Wo ist das Licht am besten? Wie lang darf das Video maximal sein? Alles Fragen, mit denen sich die Jugendlichen auseinandersetzen sollen. In der Realität klappt das nicht immer. Manche entwerfen ein eigenes Drehbuch, andere betrachten Fotos auf ihren Bildschirmen. „Guck mal, das ist mein Freund“, sagt ein Mädchen und kichert. „Der hat nicht mal Whatsapp.“ Bei einer anderen Schülerin klingelt plötzlich das Handy: „Ey Mann, das ist meine Mutter. Die soll mich doch nicht einfach anrufen!“
Ausstattung sehr unterschiedlich
Digital-Befürworter Kück findet, durch die Technik werde die Schule ein Stück weit demokratisiert. „Manchmal frage ich meine Schüler, mit welcher App sie ein Video drehen“, sagt der Lehrer. „Das wissen die zum Teil besser als ich. Dadurch entsteht eine ganz andere Arbeitsbeziehung, nämlich auf Augenhöhe.“ Umgekehrt nutze auch er die neuen Möglichkeiten, um Informationen schnell zu finden. „Wenn mich ein Schüler fragt, wann genau Kopernikus lebte –natürlich schaue ich dann im Smartphone nach. Ich bin doch kein wandelndes Lexikon.“ Im Prinzip könne man die digitalen Helfer in jedem Fach einsetzen, sogar im Sportunterricht: „Hochsprung filmen, im Zeitraffer anschauen, Körperhaltung analysieren.“
Die Lehrer-Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vertritt einen Mittelweg. „Die Digitalisierung kommt sowieso“, sagt GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann. „Deshalb müssen die Schulen ihre Schüler auch darauf vorbereiten.“ Innerhalb der Lehrerschaft gebe es beide Fraktionen: Befürworter und Gegner der Digitalisierung. „Wir teilen nicht den Optimismus, dass man allein durch Online-Kurse soziale Benachteiligung ausgleichen kann“, betont Hoffmann. Gerade schwache Schüler bräuchten analoge Hilfe durch den Lehrer. Heiß diskutiert werde innerhalb der Gewerkschaft die Frage, ob Schüler ihre eigenen Geräte mitbringen sollten. „Ich persönlich plädiere für Tablets, die als Klassensatz angeschafft werden“, sagt Hoffmann. Andernfalls könne es zur sozialen Selektion kommen – und zur Mehrarbeit für Lehrer, die Software auf allen möglichen Geräten installieren müssten.
Kommt die Digitalisierung also voran? Oder ist das digitalste an der Schule eben doch der Pausenhof? „Die Ausstattung ist sehr unterschiedlich“, meint Hoffmann, und das sogar innerhalb eines Bundeslandes. In manchen Schulen spendeten Eltern Computer für eine ganze Klasse, in anderen brächten Lehrer ihre eigenen ausrangierten Geräte mit. „Natürlich gibt es auch Schulen, die auf Sponsoring setzen“, sagt Hoffmann. „Das sehen wir aber kritisch.“
Auch in der 7b gehen die Meinungen durchaus auseinander. So gerne die Schüler mit ihren Handys spielen, so gerne legen sie ihre Geräte auch mal zur Seite. „Mit dem Handy arbeite ich besser“, findet der 13-jährige Mecit. „Beim echten Schreiben tut mir der Arm immer weh.“ Vasillea, ebenfalls 13 Jahre alt, schreibt hingegen lieber mit Stift und Papier, während es bei Max auf den Tag ankommt: „Der Touchscreen geht nicht immer. Dann nehme ich lieber das Heft. Zum Glück dürfen wir uns das aussuchen.“
Dietmar Kück ist eine Rückmeldung wichtig. „Geht mal auf die Lernplattform und gebt euer Feedback ab“, sagt er am Ende des Unterrichts. „Die Stunde war scheiße“, brüllt eine aufgekratzte Schülerin. Kück kontert: „Dann schreib’s in die Lernplattform.“ Fünf Minuten später, in der Pause, ist die 7b kaum zu bremsen. Mehrere Kinder fahren mit dem Tretroller über den Schulhof. Zwei Jungs prügeln sich. Die anderen spielen Softball. Nur die Handys, die hat in diesem Moment niemand in der Hand. „Die haben sich schon im Unterricht genug damit beschäftigt“, sagt Dietmar Kück. Er sieht sich bestätigt: Die digitale Schule funktioniert.