Manchmal können wenige Sekunden über Glück und Unglück entscheiden. Ein Fahrradsturz veränderte das Leben des Architekten Bernd Decker von Grund auf. Mit eisernem Willen kämpfte er sich zurück in die Normalität.
Der 5. April 2015 ist ein besonderer Tag, Ostersonntag. Wie jedes Wochenende schwingt sich Bernd Decker nach dem Frühstück auf sein Rennrad. Der Sulzbacher will sich den Wind um die Nase wehen lassen, will kräftig in die Pedale treten, sich körperlich fit halten und seine Alltagsgedanken schweifen lassen. Der damals 49-jährige Architekt kann nämlich herrlich gut nachdenken und sich von der Natur anregen lassen, wenn er mit seinem Rennrad rund 100 Kilometer durch die Kurven flitzt.
Seit seiner Jugend genießt der durchtrainierte versierte Radfahrer seine Freizeit im Rennsattel. Pünktlich zur Mittagszeit will Bernd Decker wieder zurück sein. Er und seine Frau sind zum Essen verabredet.
Vier Wochen später blickt Bernd Decker in das Gesicht seiner Frau. Ihr laufen dicke Tränen über die Wangen, sie hält seine Hand und flüstert: „Bernd, du bist im Krankenhaus. Du hattest einen Unfall. Aber jetzt wird alles gut."
Fast einen ganzen Monat hatte der Leiter eines zehnköpfigen Architekturbüros im April 2015 im Koma gelegen. Erinnerungen an seinen Sturz hat er keine. „Ein Lkw-Fahrer hat mich nur unweit von meinem Wohnort entfernt im Straßengraben gefunden. Er alarmierte Polizei und Notarzt. Untersuchungen ergaben, dass ich wohl auf einem partiell gefrorenen Stück eisglatter Straße weggerutscht bin. Mein Helm war gebrochen. Sichtbare Verletzungen hatte ich keine, aber ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Da ich keine Ausweispapiere bei mir hatte, dauerte es eine Zeit lang, bis meine Identität festgestellt werden konnte."
Als er gegen Mittag noch nicht zu Hause angekommen ist, versucht seine Frau ihn mehrmals erfolglos über sein Handy zu erreichen. „Ein Oberarzt der neurologischen Intensivstation der Winterbergkliniken sah die Anrufe auf meinem Handy", erzählt Bernd Decker. „Er konnte somit die Telefonnummer meiner Frau zurückverfolgen und verständigte sie mit den Worten: ‚Wir haben hier einen Verunfallten, sie kommen besser schnell.‘ Da wusste sie, dass es ernst sein musste."
Starke Blutungen im Gehirn und halbseitig gelähmt
Der Sturz hatte starke Blutungen im Gehirn von Bernd Decker ausgelöst, seine rechte Körperhälfte war gelähmt. Vier bange Wochen hielt seine Familie am Krankenbett Wache. Ob er je wieder aufwachen würde? Welche Areale seines Gehirns waren geschädigt? Wird er wieder reden können? Wird er in sein bisheriges Leben zurückkehren können? Quälende Fragen, keine Antworten. Vier Wochen lang. Ein echter Alptraum. Für ihn selbst, seine Familie, Freunde, Geschäftspartner und Mitarbeiter.
„Meine Frau redete auf Anraten der Ärzte viel mit mir, erzählte mir aus meinem Leben, streichelte meine Hände. Das war sehr schlimm für meine Frau, sie konnte nichts tun für mich, sie sah mich nur einfach im Bett liegen, ich zeigte keine Reaktion."
Umso größer die Freude, als er Anfang Mai die Augen öffnete und aus dem Koma erwachte. Der erste Schritt auf dem langen Weg der Genesung war geschafft. „Schnell zeigte sich, dass er im Kopf klar war", erzählt seine Frau. Sie fragte ihn gewisse Dinge, die nur er beantworten konnte. „Da wusste ich, dass wir den Rest auch wieder hinbekommen."
Die Zeit auf der neurologischen Intensivstation war gekennzeichnet von komabedingten Komplikationen. Durch den Muskelabbau kam es zu verstärktem Eiweißabbau, was ein Nierenversagen nach sich zog. Bernd Decker musste an die Dialyse. Durch die mehrwöchige Beatmung mit einer Trachealkanüle zog er sich eine Lungenentzündung zu. „Als ich nach vielen Wochen meinen Entlassungsbericht vom Winterbergklinikum gelesen habe, wurde mir klar, dass es beachtlich ist, dass ich überlebt habe."
Zur Früh-Rehabilitation kam Bernd Decker auf den Saarbrücker Sonnenberg, daran schloss sich eine mehrmonatige Reha in der Fachklinik St. Hedwig in Illingen an, hier ist man spezialisiert auf neurologische Fälle. „Sechs Monate saß ich im Rollstuhl. Ich bin so gestrickt, dass ich mir Ziele setze. Und mein großes Ziel war es, da wieder rauszukommen."
Auf dem Weg zum ganz großen Ziel setzte sich Bernd Decker – ganz der Radprofi – kleine Etappenziele. Als ihm die Reha-Klinik nach drei Monaten anbot, versuchsweise im Rollstuhl ein Wochenende zu Hause zu verbringen, lehnte er ab und sagte dem verblüfften Arzt: „Ich gehe hier nicht eher raus, bis ich selbst gehen kann." Jede Gelegenheit nutzte Bernd Decker, um an der Gangmaschine zu trainieren. Dabei werden die Beine mechanisch bewegt, um die im Gehirn abgespeicherten typischen Abläufe beim Gehen zu simulieren. Die Nerven werden dadurch reaktiviert. „Irgendwann konnte ich zwei bis drei Schritte alleine machen. Die Klinik bot mir einen Rollator an. Ich wollte aber Krücken. Mich am Rollator zu sehen, das hätte mein Selbstbildnis zu sehr gekränkt."
„Sechs Monate saß ich im Rollstuhl"
Neben dem Gehen musste Bernd Decker auch den gelähmten rechten Arm trainieren. Schließlich ist der Architekt Rechtshänder und wollte in seinem leidenschaftlich ausgeübten Beruf wieder arbeiten. Und dafür musste er wieder zeichnen und schreiben können.
„Die Ergotherapeutin fragte mich, ob ich lernen möchte, mit links zu schreiben. ‚Nein‘, sagte ich, ‚solange die Chance besteht, dass ich wieder mit rechts schreiben kann, will ich mich darauf konzentrieren.‘ Ich habe daraufhin unentwegt Fingerübungen gemacht. Und auch da erging es mir ähnlich wie mit den Beinen: Irgendwann spürte ich, da geht was, ich kann kleine kreisende Bewegungen machen, die Hand heben und schließlich übte ich Schreiben mittels Kreuzworträtseln."
Einer der Ärzte meinte voller Anerkennung: „Wenn ich gewusst hätte, wie schnell sie regenerieren, hätte ich einen Film darüber gedreht."
Ende Oktober 2015 war es dann so weit: Bernd Decker wechselte in die ambulante Reha und konnte so täglich nach Hause. Seinen Arm konnte er schon wieder gut bewegen, nur sein Bein funktionierte noch nicht so gut, wie er es sich wünschte.
„Mein Hausarzt machte mich auf den Physiotherapeuten Jörg Becker aus Neuweiler aufmerksam. Er hatte selbst auf einer Motorradtour vor Jahren einen Schlaganfall erlitten und sich dank seiner Körperkenntnisse so gut therapiert, dass er wieder arbeiten konnte. Abends stand Jörg Becker vor meiner Haustür, sah mich an, studierte meine Akte und meinte dann ganz zuversichtlich: ‚Das bekommen wir zusammen wieder hin. Irgendwann fahren wir beide wieder Fahrrad.‘ Geholfen hat mir auch mein Ergotherapeut Stefan Spaniol. Um meinen Ehrgeiz noch mehr anzustacheln, hat er eines Tages sein Motorrad in den Übungsraum geschoben. Ich musste aufsteigen und damit Gleichgewichtsübungen machen. Dann besorgte er eines Tages ein tolles Liegerad mit drei Rädern. Damit konnte ich wieder schnell um die Kurven flitzen. Das motivierte mich unheimlich."
Als Etappenziel peilte Bernd Decker seine Rückkehr in den Beruf an. „Ich hatte mir geschworen, nicht länger als ein Jahr krank zu sein. Am 4. April 2016, also nach 364 Tagen, bin ich das erste Mal wieder ins Büro nach meinem Unfall. Das war sehr anstrengend, aber ich habe es geschafft."
Nach eineinhalb Jahren bestieg Bernd Decker wieder alleine ein Auto. „Ich war es richtig leid, dass ich ständig auf andere angewiesen war, wenn ich irgendwohin wollte. Als meine Neurologin im Herbst 2016 schließlich bestätigte, dass ich es wieder versuchen könnte, habe ich mir sofort ein Auto mit DSG-Getriebe gekauft und fahre seitdem wieder selbstständig Auto. Ein herrliches Gefühl von Freiheit."
Sein Vater geht mit ihm zum Lauftraining
Bernd Decker hat sich so Schritt für Schritt in sein altes Leben zurückgekämpft. Geholfen haben ihm seine Familie, Freunde, viele Ärzte, Therapeuten und eine Reihe Vorbilder aus seiner Umgebung, wie sein Mitarbeiter Markus Hetrich, der lange Jahre zuvor, als er noch nicht für sein Büro arbeitete, bei einer Baustellenbegehung durch ein Dach fiel. Die Diagnose lautete ebenso: schweres Schädelhirntrauma. Er wurde wieder ganz gesund.
„Vor allem hat ihm sein eigener eiserner Wille geholfen", sagt Bernd Decker. „Ich habe mir immer gesagt, ich will wieder selbstständig leben, ich will mich wieder alleine anziehen können, alleine gehen, alleine Autofahren. Ich will wieder arbeiten, ich will diesen Kontrollverlust über mein Leben nicht hinnehmen, ich gebe mich mit Einschränkungen nicht zufrieden. Ich sage selten: ‚Kann mir jemand mal etwas bringen‘, ich stehe lieber selber auf und gehe es holen."
Motiviert hat ihn auch sein Verantwortungsbewusstsein gegenüber seinen Mitarbeitern. „Während meiner Krankenhaus- und Rehazeit hat mein Geschäftspartner Manfred Schaus mit seinen 78 Jahren das Büro auf Kurs gehalten. Meine Frau, die im Büro mitarbeitet, und alle Mitarbeiter haben gemeinsam den Karren gezogen. Ich wusste dadurch, es läuft in dieser Zeit, ich brauche mir keine Sorgen zu machen." Das ließ Bernd Decker die Luft, sich auf seine Genesung zu konzentrieren.
„Geholfen hat mir auch die ehrliche Anteilnahme von Freunden, Nachbarn, Kollegen, Mitarbeitern und Auftraggebern. Mein Vater, der immerhin schon 74 Jahre alt ist, geht jedes Wochenende mit mir zum Lauftraining. Er meinte: ‚Ich habe dir schon als Kind das Laufen beigebracht, dann schaffe ich das heute auch wieder.‘"
Sein Leben lang sei er schnell unterwegs gewesen, meint Bernd Decker. „Der Sturz hat mich ausgebremst, ich kann vieles nur noch mit halber Geschwindigkeit machen. Das ärgert mich. Aber ich arbeite täglich daran, bald mal wieder zwei Stufen auf einmal in unser Büro zu nehmen. Mit meinem Schicksal will ich anderen Betroffenen Mut machen, niemals die Hoffnung auf Besserung aufzugeben und immer nach vorne zu blicken, ganz gleich, wie schwer es ist."