Am 25. April 1983 präsentierte der „Stern" die angeblichen Hitler-Tagebücher. Experten hatten von Anfang an Zweifel an der Echtheit der Dokumente, die von den Verantwortlichen ignoriert wurden. Nicht einmal zwei Wochen später stand fest, dass es sich um Fälschungen handelte.
Es war als Sensation angepriesen worden, stattdessen wurde es die größte Blamage der deutschen Mediengeschichte: Am 25. April 1983 präsentierte der „Stern" in Hamburg die angeblichen Hitler-Tagebücher. Bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bestanden große Zweifel an der Echtheit der Dokumente, die von den Verantwortlichen des Verlags in ihrer Sensationsgier jedoch geflissentlich ignoriert wurden. Großspurig hatte man verkündet, die Biografie des Diktators und die Geschichte des Dritten Reiches müsse „in großen Teilen neu geschrieben werden". Elf Tage später stand fest, dass es sich um Fälschungen handelte – und nicht einmal um besonders gute. „Stern"-Gründer Henri Nannen erklärte in der „Tagesschau": „Wir haben Grund, uns vor unseren Lesern zu schämen."
Es sollte 30 Jahre dauern, ehe aus den vermeintlichen Aufzeichnungen des Führers doch noch das wurde, als was sie der „Stern" schon 1983 verkaufen wollte: ein Dokument der Zeitgeschichte. 2013, zum 30. Jahrestag der Affäre, überließ der zuständige Verlag Gruner + Jahr die gefälschten Dokumente dem Bundesarchiv in Koblenz. „Die gefälschten Tagebücher sind ein Teil der Geschichte des ,Stern‘. Wir wollen das nicht wegdrücken, sondern damit angemessen und vor allem sachlich umgehen", sagte der damalige Chefredakteur Dominik Wichmann.
Diese Sorgfalt ließ das Magazin 1983 vermissen. Der damalige Leiter des Deutschland-Ressorts, Michael Seufert, der später mit der Aufklärung des Skandals betraut worden war, stellte fest, die Welt im Verlagshaus sei damals „auf den Kopf gestellt" worden. Er schreibt: „Alle Kontrollmechanismen zwischen Redaktion und Verlag waren außer Kraft gesetzt. Die Katastrophe war programmiert." Hauptdarsteller in diesem Drama waren der Kunstfälscher Konrad Kujau und „Stern"-Reporter Gerd Heidemann. Dieser galt eigentlich als einer der findigsten Rechercheure des Blattes; Henri Nannen selbst nannte ihn einmal „den besten Spürhund des ,Stern‘". Heidemann hatte sich intensiv mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt; das Hamburger Landgericht bescheinigte ihm 1985 sogar, vom diesem Thema regelrecht besessen zu sein. Er kaufte für viel Geld die Yacht des früheren Reichsfeldmarschalls Hermann Göring und hatte auch fünf Jahre lang, von 1976 bis 1981, eine Beziehung mit dessen Tochter Edda. Über einen anderen Sammler, der ebenfalls gefälschte Devotionalien von Kujau erworben hatte, bekam Heidemann 1980 erstmals Kenntnis von den vermeintlichen Tagebüchern Adolf Hitlers. Kujau hatte schon 1975 einen ersten Halbjahresband verfasst, der den Zeitraum Januar bis Juni 1935 umfasste. Als Heidemann von der Existenz des Tagebuchs erfuhr, war er sofort berauscht. Kurzzeitig erwog er eine eigenständige Vermarktung ohne den „Stern", doch Thomas Walde, der Leiter des Ressorts Zeitgeschichte, überzeugte ihn davon, die Tagebücher für und mit dem Magazin zu beschaffen. Er nahm Kontakt zu Kujau auf, der sich ihm gegenüber immer nur als Konrad Fischer vorstellte. Die Chefredaktion des „Stern" war zu diesem Zeitpunkt noch nicht über das Vorgehen informiert, weil Heidemann und Walde ihre Vorgesetzten übergangen und sich direkt an die Verlagsleitung gewandt hatten. Erst ab Mai 1981 waren auch die Chefredakteure im Bild – und trugen die Geschichte trotz aller Zweifel mit.
Angeblich in der DDR gefunden
Die Hitler-Tagebücher sollten angeblich aus der DDR stammen. Nach dem Absturz von Hitlers Kurierflugzeug sollen die Dokumente 1945 in Börnersdorf in der Sächsischen Schweiz geborgen worden sein. Konrad Kujau behauptete, ein Bruder vom ihm, vorgeblich ein General, würde sie besitzen und könne sie in den Westen schmuggeln. In Wirklichkeit arbeitete sein Bruder lediglich als Gepäckträger bei der DDR-Reichsbahn. Den Absturz in Börnersdorf gab es dagegen wirklich, was Gerd Heidemann und Thomas Walde als Beweis für die Echtheit von Kujaus Darstellung genügte, wenngleich historisch nicht verbürgt ist, was genau sich in dem abgestürzten Flugzeug befunden hat. Das störte die beiden jedoch ebenso wenig wie die Tatsache, dass sich Historiker weitgehend einig sind, dass Adolf Hitler nie Tagebuch geschrieben hat. Keiner seiner Vertrauten hat je davon berichtet. Der Führer soll schreibfaul gewesen sein, zudem habe er vermutlich gar keine Zeit gehabt, um persönliche Aufzeichnungen anzulegen. Hinzu kommt, dass er wohl an der Parkinsonschen Krankheit gelitten hat und von 1944 an gar keine Texte mehr zu Papier bringen konnte.
Der „Stern" ignorierte diese Hinweise. Es wunderte auch niemanden, dass statt der versprochenen 27 am Ende 62 Bände aus Hitlers Feder auftauchten, oder dass auf dem Einband als Initialien nicht AH stand, sondern FH – weil Kujau in dem passenden Schrifttypensatz der Buchstabe A fehlte. FH stünde für Führerhauptquartier oder für Führer Hitler, behauptete der „Stern". Die Verantwortlichen wurden auch nicht skeptisch, als schon 1981 in einer Fachzeitschrift erste Hinweise auf Fälschungen auftauchten. „Sie hatten ihre eigene Geschichte, ihre eigene Lüge glauben wollen, und darin liegt das Verhängnis", sagte 2003 der Journalist Johannes Leyendecker im „Deutschlandfunk". „Bei so einer Geschichte hätte man eine vernünftige Dokumentation, wie es der ,New Yorker‘ oder auch der ,Spiegel‘ hat, nehmen müssen. Die hätte sich hingesetzt, Experten dazugeholt und das noch mal Stück für Stück überprüft. Das war ja auch keine Geschichte, die kaputtgehen konnte auf die Weise, dass ein anderer sie hat. Man hatte Zeit, man musste das überprüfen, wenn man so einen ungeheuerlichen Vorgang hat, und dass man das nicht machte, zeigt natürlich, dass man eine gewisse Gier hatte, mit einer Sensation rauszukommen und damit der Größte und Beste zu sein."
Miserable Recherche
Was den Inhalt der vermeintlichen Tagebücher angeht, so ergab sich darin ein verzerrtes Geschichtsbild. Hitler gab darin teilweise die Verantwortung für die Greueltaten an seine Gefolgsleute ab. Über die Pogrome in der Reichskristallnacht sollte er angeblich gesagt haben: „Es geht nicht, dass unserer Wirtschaft durch einige Hitzköpfe Millionen- und Aber-Millionenwerte vernichtet werden, allein schon an Glas […]. Sind diese Leute denn verrückt geworden? Was soll das Ausland dazu sagen? Werde sofort die nötigen Befehle herausgeben." Der größte Teil des Inhalts war jedoch platt, banal und langweilig, wie selbst Henri Nannen frühzeitig anmerkte. Durch den Film „Schtonk", in dem der Fall später verarbeitet wurde, ist vor allem ein Zitat berühmt geworden: „Die übermenschlichen Anstrengungen der letzten Zeit verursachen mir Blähungen im Darmbereich und Eva [Braun] sagt, ich habe Mundgeruch."
Dennoch wurde die Story gedruckt. Der „Stern" stand auch schon in Verhandlungen mit zahlreichen ausländischen Medien, die die Geschichte ebenfalls aufgreifen wollten, als kurz darauf am 6. Mai 1983 der Betrug aufflog. Die Gutachten des Bundeskriminalamts und der Bundesanstalt für Materialprüfung hatten zweifelsfrei ergeben, dass die bei der Bindung verwendeten Materialien erst nach dem Zweiten Weltkrieg hergestellt worden waren – es musste sich also um Fälschungen handeln. Experten hatten den „Stern" bereits Ende März 1983, also noch vor der Veröffentlichung, darauf hingewiesen, doch ihre Bedenken waren weggewischt worden. Die Zeitschrift vertraute auf einen Schriftvergleich zweier Wissenschaftler, ohne zu wissen, dass das angebliche Hitler-Dokument, mit dem die Tagebucheinträge verglichen wurden, ebenfalls von Konrad Kujau gefälscht worden war. Ansonsten hatte er sich allerdings nicht sonderlich Mühe gegeben: Große Teile des Textes waren zum Teil seitenweise aus Fachbüchern und aus Reden Hitlers abgeschrieben worden; Historikern fiel es nicht schwer, die entsprechenden Quellen aufzudecken. Nur einen Tag nach Bekanntwerden der Fälschungen wurde Kujau enttarnt.
Chefredaktion trat zurück
Für den „Stern" wurden die Tagebücher zum Fiasko. Die Chefredaktion musste geschlossen zurücktreten; die Auflage brach ein; vor allem aber litt das Magazin jahrelang an einem Verlust der Glaubwürdigkeit. Zudem hatte der Verlag viel Geld verloren: 9,3 Millionen Mark hatte man Gerd Heidemann gezahlt, um die Tagebücher zu besorgen, von denen der größte Teil bis heute verschwunden ist. Mindestens 4,39 Millionen Mark soll der Reporter laut Urteil des Hamburger Landgerichts unterschlagen haben, was er jedoch bis heute bestreitet. Er wurde zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt und damit sogar noch härter bestraft als der Fälscher Konrad Kujau. Dieser wurde wegen Betrugs und Urkundenfälschung ursprünglich zu vier Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, kam aber schon nach drei Jahren wieder frei.