Unter dem Motto „Würde" finden momentan die diesjährigen „Movimentos"-Festwochen in Wolfsburg statt. Der zentrale Aufführungsort – das Kraftwerk des VW-Konzerns – steht allerdings zum letzten Mal als Bühne für die Tanz-Gastspiele zur Verfügung.
Körper, die aus der Senkrechte kippen, nur um blitzschnell wieder zurück in die Balance zu finden. Posen, die nur den Bruchteil einer Sekunde gehalten werden, um sich sofort wieder aufzulösen. Gliedmaßen, die sich umeinander schlingen, dann wieder in eine überlange Linie übergehen. In atemberaubendem Tempo folgt in „Autobiography" ein choreografischer Einfall dem nächsten.
Wayne McGregor, Londoner Starchoreograf, entwickelte das Stück im vergangenen Jahr. Es ist im wörtlichen Sinn autobiografisch – McGregor lässt hier nämlich seine DNA „ver-tanzen". Logisch ist die Choreografie daher in 23 Sequenzen unterteilt, was dem menschlichen Chromosomensatz entspricht. Und diese 23 Parts werden bei jeder Aufführung nach einem Algorithmus neu zusammengesetzt, sprich jede Aufführung ist einzigartig.
Seinen zehn technisch hervorragend ausgebildeten Tänzern hat McGregor also 23 Szenen auf die virtuosen Tanzkörper choreografiert, die die Kapitel eines Lebens mal energiegeladen akrobatisch, dann wieder in konzentriertem Pas de deux widerspiegeln. Eine metallene Deckenkonstruktion senkt sich zu Elektrobeats gefährlich dicht auf die Tänzer herab, die hier gerade noch den Raum finden, sich über den Boden zu kugeln, um den Spitzen auszuweichen. Dann wieder blenden gleißende Lichtkegel die Zuschauer, sodass nur Teile des Geschehens auf der Bühne sichtbar bleiben. Sound, Lichttechnik und Tanz entfalten auf der riesigen Bühne des VW-Kraftwerks in Wolfsburg eine Gesamtwirkung, der man sich kaum entziehen kann. Auch wenn manche Licht-Klang-Kombination an dem 80 Minuten langen Abend die Grenzen des Erträglichen zu überschreiten droht.
Das Gastspiel von Wayne McGregor und seiner Company ist nur eines der Highlights der diesjährigen „Movimentos"-Festwochen der Autostadt Wolfsburg. 2003 wurde das Festival als Plattform für hochkarätige Tanzproduktionen aus aller Welt ins Leben gerufen – veranstaltet und subventioniert von der Autostadt. Drei Jahre später kamen dann auch Theaterinszenierungen, Konzerte, Lesungen hinzu – mittlerweile nimmt sich das nuancenreiche Programm fast wie ein kleiner Katalog aus. Von Anbeginn aber war das ehemalige Heizkraftwerk des Volkswagenwerks der zentrale Aufführungsort – jedes Mal wurde eine Tribünenkonstruktion in die riesige Halle hineingesetzt. Ein Veranstaltungsort, der seinesgleichen in der deutschen Festival- und Theaterlandschaft sucht.
Schon der Weg dorthin ist Teil der Inszenierung. Die markanten Schornsteine des Kraftwerks im Blick, läuft der Besucher über eine Brücke, die über das Hafenbecken gezogen wurde. In der Nähe dümpelt ein alter Lastkahn auf dem Wasser. Durch ein großes Tor geht es ins Halleninnere, die Betonwände leuchten tiefrot oder dunkelblau im Scheinwerferlicht. Und dann erst der Blick aus dem 1.000 Sitze umfassenden Zuschauerraum auf die Bühne! Die Platz für die wirklich „großen" Tanz-Compagnien bietet, welche man oft – auch aus finanziellen Gründen – noch nicht einmal in Berlin zu sehen bekommt.
Auch der künstlerische Leiter der „Movimentos"-Festwochen kann nach all den Jahren immer noch schwärmen. Ganz klar, der Ort und der Tanz in Kombination, das sei doch geradezu ein Gesamtkunstwerk, sagt Bernd Kauffmann. Umso bedauerlicher, dass dieser Ort in diesem Jahr zum letzten Mal für die Tanzvorstellungen der Festwochen genutzt werden kann. Der VW-Konzern will das Kraftwerk für den Umstieg von Kohle auf Gas aufwendig umbauen und modernisieren. Der Einbau von Gas- und Dampfturbinen soll eine Kohlendioxid-Ersparnis von 1,5 Millionen Tonnen bringen. Ein Bekenntnis zur sauberen Luft über Wolfsburg – aber gegen das etablierte Festivalformat? Keinesfalls, hieß es an den ersten Premierenabenden des Festivals, doch noch ist unklar, wo genau gerade die „großen Tanzformate" eine neue Bühne finden werden. Und ob es sie dann im Rahmen des „Movimentos"-Festivals überhaupt noch in gewohnter Weise geben kann.
Bereits 2016 wurde das Budget des Festivals wegen der Abgas-Krise bei VW um 20 Prozent gekürzt, was dem Festivalprogramm – darauf ist Bernd Kauffmann stolz – nicht anzumerken war. Denn gerade in diesen Wochen kommt nach Wolfsburg, was tänzerisch Rang und Namen hat – vom kanadischen „Ballet BC" aus Vancouver über die „Sydney Dance Company" bis hin zum „Cloud Gate Dance Theatre" aus Taiwan. Es gibt Bekanntes neu zu entdecken – so die brasilianische Compagnie „Grupo Corpo", die einstmals das Festival im Gründungsjahr eröffnete und die Saison beschließt. Im Festivalsegment „Schauspiel und Literatur" geben sich unter anderen Wolfram Koch, Boris Aljinovic und Claudia Michelsen die Klinke in die Hand – dazu kommen Konzerte von Klassik bis Jazz. In diesem Jahr ist beispielsweise Gregory Porter zu Gast. Ein Programm, das vielfältiger nicht sein könnte und zudem mit Künstlern bekannt macht, die demnächst wohl häufiger auf deutschen Bühnen zu sehen sein werden.
Der gefeierte britische Choreograf Wayne McGregor zum Beispiel eröffnete erst vor wenigen Tagen mit einem dreiteiligen Abend die Ballett-Festwoche an der Bayerischen Staatsoper in München. Und wird vermutlich auch im Herbst mit seiner Compagnie in Berlin zu sehen sein.