Er gilt als einer der größten Fachmänner unter den deutschen Trainern. Deshalb wollen ihn fast alle Vereine haben. Aber er gilt auch als schwierig. Deshalb zauderte der FC Bayern – und Thomas Tuchel geht nun nach Paris.
Es ist schon ein wenig kurios. Thomas Tuchel ist 44 Jahre alt, in seiner Karriere-Statistik als Trainer stehen zwei Vereine, ein Titel – und nun schon zwei Sabbatjahre. Wie nach seinem Engagement in Mainz nahm Tuchel auch nach seinen zwei aufreibenden Jahren bei Borussia Dortmund wieder eine Saison Auszeit. Wieder größtenteils freiwillig. Und im Gegensatz zu vielen anderen Trainern verschwand er in diesem Jahr nicht aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. Im Gegenteil: Er war allgegenwärtig. Für den „Spiegel" verbrachte er gar „Ein Jahr als Phantom".
Denn immer, wenn in diesem Jahr irgendwo ein Trainer gesucht wurde, fiel sein Name. Als Spekulation, als Wunschtraum von Fans oder Verantwortlichen oder vereinzelt auch als ein „bitte nicht". Denn Tuchels Ruf in der Öffentlichkeit ist sehr ambivalent. Er gilt als Fachmann, als Taktik-Genie, aber auch als verbissener Trainer, der seinen Spielern in seinem Perfektionismus keinen Spaß gönnt – und nicht einmal etwas Anständiges zu essen.
Das ist natürlich klischeehaft und übertrieben, doch alles hat seine Geschichte. Fakt ist: Die Vereine, bei denen Tuchel in seinen Auszeiten im Gespräch war, haben sich von 2015 bis 2018 entscheidend verändert. Angeblich soll Tuchel sich damals selbst beim VfB Stuttgart angeboten haben. RB Leipzig, damals noch Zweitligist, wollte ihn unbedingt. Tuchel verhandelte, die Leipziger fühlten sich lange Zeit ihrer Sache sicher, doch dann sagte der Trainer ab. Noch dichter stand Tuchel damals vor einem Engagement beim Hamburger SV, dem er bereits zugesagt haben soll. Vorstandschef Dietmar Beiersdorfer stürzte später unter anderem darüber, dass er sich zu lange auf Thomas Tuchels vermeintliche Zusage für die neue Saison verließ, während der HSV in der aktuellen durch Flickschusterei mehr und mehr dem Abstieg entgegentaumelte. Doch dann stieg Jürgen Klopp in Dortmund aus, und Tuchel sagte dort zu. „Ich war damals sehr aufgebracht", sagte Beiersdorfer später und sprach von einer „ligenunabhängigen Zusage des Kandidaten".
Diesmal, bei der zweiten Auszeit, hießen die Kandidaten dann nicht mehr Stuttgart oder Hamburg, sondern Bayern München, FC Arsenal, FC Chelsea oder Paris Saint-Germain. Dazu stand Tuchel bei quasi sämtlichen kleineren Clubs der Premier League auf dem Zettel – von Leicester City bis zu West Ham United. Der FC Bayern hätte ihn wohl schon im Herbst haben können, entschied sich damals aber für Jupp Heynckes. Präsident Uli Hoeneß war im Gegensatz zu Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge offenbar nicht von Tuchel überzeugt und versuchte den 72-Jährigen Heynckes deshalb mit einer „Charme-Offensive" zu einer weiteren Saison zu überreden. Das klappte allerdings nicht, und als der FC Bayern schließlich doch offiziell bei Tuchel nachfragte, teilte dieser mit, er habe schon bei einem anderen Verein zugesagt. Ersten Gerüchten zufolge sollte es sich um den FC Arsenal London handeln, im Endeffekt wird Tuchels neuer Arbeitgeber aber wohl PSG heißen.
Ärger beim HSV wegen Absage
Bei den neureichen Franzosen zu landen, die im Vorjahr insgesamt rund 400 Millionen Euro für Neymar und den französischen Jung-Star Kylian Mbappé ausgegeben haben, ist definitiv ein weiterer Karrieresprung für Thomas Tuchel. Und es zeigt seinen Mut, denn die Aufgabe in Paris ist trotz der finanziellen Mittel undankbar. Die Meisterschaft gilt als Pflichtaufgabe, nicht als Erfolg. Und in der Champions League zeigte sich bisher regelmäßig, dass Geld eben keine Titel kauft. Im Vorjahr fegte PSG den FC Barcelona im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League mit 4:0 aus dem Stadion – um eine Woche später durch ein schon heute legendäres 1:6 in Katalonien doch noch auszuscheiden. Und auch diese Saison war schon im Achtelfinale Schluss. Sollte Tuchel diesem teuren, talentierten, aber dann irgendwo doch zusammengewürfelten Team zum Durchbruch in der Königsklasse verhelfen, würde das auch ihn endgültig in die erste Klasse der weltweiten Top-Trainer führen. So oder so hat der Coach aus dem bayerisch-schwäbischen Krumbach eine unglaubliche Karriere hingelegt.
Als Spieler kam er bei den Stuttgarter Kickers zunächst nur zu acht Zweitliga-Spielen, ging dann zurück in die Regionalliga nach Ulm und musste nach dem Zweitliga-Aufstieg als Abwehr-Stammspieler unter Trainer Ralf Rangnick seine Karriere wegen einer Knorpelverletzung aufgeben. Als Jugend-Trainer in Stuttgart, Mainz und Augsburg erwarb er sich schnell einen guten Ruf. Mit der A-Jugend des VfB um die späteren Nationalspieler Andreas Beck oder Serdar Tasci wurde er 2005 als Co-Trainer Deutscher Meister. Vier Jahre später führte er die U19 aus Mainz zum Meistertitel – sein Team um André Schürrle besiegte im Finale den BVB mit einem gewissen Mario Götze.
Dieser Titel war sein Ticket in die große Fußball-Welt. Der mutige Mainzer Manager Christian Heidel entließ nach dem Aufstieg in die Erste Liga Trainer Jörn Andersen, weil er das Gefühl hatte, dass es zwischen Trainer und Mannschaft nicht mehr passte. Den bis dahin unbekannten A-Jugend-Trainer Tuchel eine Woche vor dem Saisonstart zu befördern, war ein Risiko Heidels. Doch in den fünf Jahren unter Tuchel standen die Rheinhessen kein einziges Mal auf einem Abstiegsplatz, zwischendurch schrieben sie sogar Bundesliga-Geschichte, als die „Bruchweg-Boys" mit sieben Siegen zum Liga-Start 2010 einen Rekord aufstellten.
Bayern war nicht ganz überzeugt
Im Sommer 2014 verließ Tuchel Mainz dann plötzlich. Er sah die Möglichkeiten in Mainz ausgereizt. Beim FSV waren sie pikiert. Zum zweiten Mal nach Jürgen Klopp schienen sie den idealen Trainer gefunden zu haben. Zum zweiten Mal ging er ihnen nach langen Jahren des Erfolges von der Fahne. Vereinspräsident Harald Strutz erklärte im „Kicker", Tuchels Verhalten sei „aus persönlicher Sicht enttäuschend" und „sehr grenzwertig" gewesen. In der „Bild" sagte er sogar: „Wir haben völlig unterschiedliche Auffassungen von Respekt, Loyalität und Vertrauen."
Zwischendurch hatten auch immer mal enttäuschte Spieler ihrem Ärger über Tuchel öffentlich Luft gemacht. Mario Gavranovic bezeichnete ihn in der „Bild" als „hinterhältig" und „falsch". Torhüter Heinz Müller nannte ihn im „Kicker" einen „Diktator", der ihn „gemobbt" habe. Als Tuchel im Sommer 2015 in Dortmund anfing, wussten die Fans nicht so recht, was sie davon halten sollten. Einerseits hatten sie das Gefühl, den fachlich besten Trainer auf dem Markt zu bekommen. Andererseits wussten sie nicht so recht, ob er denn zum Verein passt. Denn nur erfolgreich sein reicht in Dortmund nicht, der Menschenfänger Klopp war die Benchmark. An diesem unentschiedenen Gefühl hat sich bis zum Schluss nichts geändert. Die „Süddeutsche Zeitung" zitierte nach dem Abschied jemanden „aus dem inneren Kreis des Vereins" mit den Worten: „Wir sind vorher aus Mainz gewarnt worden, dass es schwierig werden dürfte. Wir haben darauf nicht gehört. Ein halbes Jahr ging alles gut. Dann war alles wie aus Mainz vorhergesagt." Irgendwie schien aber vergessen, dass Tuchel in Mainz nicht nur erfolgreich arbeitete, sondern eben auch fünf Jahre lang. Dort wusste man ihn, sein Genie und die damit verbundenen Macken zu nehmen und entsprechend positiv einzusetzen.
In Dortmund dauerte die Zusammenarbeit nur zwei Jahre lang. Trotz zweier direkter Qualifikationen für die Champions League, trotz des DFB-Pokalsiegs und trotz des mit 2,09 Zählern besten Punkteschnitt aller BVB-Trainer. Doch es passte nicht zwischen Tuchel, Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke und Michael Zorc. Und auch nicht zwischen ihm und einem zumindest einflussreichen Teil der Mannschaft.
In Dortmund machte er sich wenige Freunde
Entscheidend entzweit haben beide Seiten die Folgen des Bombenanschlags auf den BVB-Mannschaftsbus im April 2017. Tuchel erklärte kürzlich bei seiner Aussage vor Gericht: „Es gab dadurch einen großen Dissens zwischen mir und Aki Watzke. Der größte Dissens war wahrscheinlich, dass ich im Bus gesessen habe und er nicht." Auf die Frage, ob er glaubt, dass er ohne den Anschlag noch heute Trainer bei BVB wäre, antwortete Tuchel mit „Ja".
Nach der Trennung war Tuchel wieder fast überall im Gespräch. Gerüchte gab es über ein Engagement in Leverkusen und auch auf Schalke, wo sein alter Mainzer Vertrauter Heidel inzwischen Manager ist. Doch Schalke-Präsident Tönnies sagte: „Tuchel ist ein überragender Trainer, völlig klar. Aber ich weiß nicht, ob das jetzt gepasst hätte zu diesem Zeitpunkt, ihn so frisch von Dortmund zum Erzrivalen zu holen. Ich weiß nicht, ob wir uns damit nicht allesamt überfordert hätten."
So folgte ein zweites Sabbatjahr. Und nun wohl der Schritt nach Paris. Dort wird Tuchel mit etwas weniger Vorurteilen arbeiten können, in einem Verein, dem Erfolg wichtiger ist als alles andere. Und nicht wenige glauben, dass er dort mit den Millionen aus Katar vielleicht doch einen Champions-League-Sieger formen kann.