In Amerika werben Städte bereits am Ortseingang mit ihrem volldigitalisierten Krankenhaus. In Deutschland dagegen verläuft der auch im Gesundheitswesen dringend benötigte Breitbandausbau schleppend. Politische Versprechen bleiben vage. Und die zuständige Staatssekretärin Dorothee Bär (CSU) träumt vom Flugtaxi. Den digitalen Fortschritt treiben bisher vor allem Start-ups der Branche voran.
Das Engagement für die Digitalisierung muss schon ein sehr ernstes sein, wenn man sein Event ausgerechnet zu Altweiberfastnacht in Düsseldorf veranstaltet. Die „Entscheiderfabrik", eine Initiative zur Digitalisierung im Gesundheitswesen, tut genau das. Mittlerweile haben sich ihr 33 Verbände, Kliniken mit mehr als 800 Standorten, mehr als 120 Industrie-Unternehmen und von den Verbänden gewählte Beratungshäuser angeschlossen. Seit mehr als zwölf Jahren setzt sie sich dafür ein, konkrete Lösungen für Herausforderungen in den Geschäftsprozessen zu erarbeiten. Anfang jedes Jahres wählen Krankenhausvertreter auf dem sogenannten Digitalisierungsgipfel der Gesundheitswirtschaft fünf Themen, die von Industrie, Beratern und Krankenhäusern als besonders brisant für Patienten, Personal und Prozesse gewertet werden. Im Fokus stehen Wirtschaftlichkeit der Krankenhäuser und Verbesserung der Behandlungsqualität der Patienten. Das Besondere: Innovatoren können ihre Digitalisierungsprojekte nun zwölf Monate unter realen Bedingungen testen. Für die beteiligten Kliniken ist das kostenfrei und vermeidet Fehlinvestitionen. Dies ist die beste Voraussetzung zur Entwicklung sinnvoller Produktideen und Anwendungen zur Optimierung von Klinikprozessen sowie zur Qualitätssicherung, Erlössicherung und Kostenreduktion. Sieger in diesem Jahr: „Beseitigung des ‚WhatsApp-Dilemmas‘ durch sichere mobile Krankenhaus-Kommunikationslösung." Dahinter verbirgt sich ein Projekt am Klinikum Oldenburg, das eine schnelle und datensichere Kommunikation in der Patientenversorgung gewährleisten soll.
Heutzutage tauscht das Krankenhauspersonal dringend benötigte Informationen zu Patienten meist über Chat Messaging Dienste wie WhatsApp aus. Das Problem: Die Apps sind unsicher, und es entsteht eine sogenannte Schatten-IT, die von den Kliniken nicht kontrolliert werden kann. Dies stellt nicht nur einen Verstoß der Datenschutzverordnung patientenbezogener Daten dar. Der Austausch oft lebenswichtiger Informationen kann nicht archiviert und nachgewiesen werden, geht also für den weiteren Behandlungsprozess verloren. Mithilfe des sicheren mobilen Nachrichtendienstes „NetSfere" des Unternehmens Infinite Convergence Solutions soll das Problem gelöst werden. Braucht ein Assistenzarzt im Hintergrunddienst zum Beispiel schnelle Hilfe vom Oberarzt, können beide über den Dienst chatten und sogar Fotos sowie Videos austauschen. Die gesamte Kommunikation inklusive der Daten wird über die hauseigene IT sicher archiviert.
Das System hilft auch bei den kleinsten Patienten. Bekommt ein Kind unregelmäßige Krämpfe im Schlaf, kann der akute Krampfzustand über ein Smartphone-Video von den Eltern an den Arzt gesendet werden. Ein sogenannter NetSfere -Chat-Container ermöglicht die exklusive Kommunikation.
Der digitale Gesundheitsmarkt wächst
Eine aktuelle Roland-Berger-Studie prognostiziert, dass von 2015 bis 2020 der digitale Gesundheitsmarkt von knapp 80 auf über 200 Milliarden Dollar wachsen wird. Alle Marktteilnehmer entlang der Wertschöpfungskette sind von der Digitalisierung betroffen. Große Technologiekonzerne und branchenfremde Anbieter drängen mit innovativen Geschäftsmodellen auf den Markt. Traditionelle Marktteilnehmer wie Krankenhäuser oder Pflegeheime sollten sich der Digitalisierung kulturell und strukturell öffnen, rät das Beratungsunternehmen. Eine weitere Studie von PricewaterhouseCoopers Strategy im Auftrag der Compugroup-Medical SE und des Bundesverbands Gesundheits-IT beziffert das enorme wirtschaftliche Potential von E-Health-Lösungen in Deutschland: Allein durch den konsequenten Einsatz von E-Health wäre in Deutschland ein Effizienzpotenzial von rund 39 Milliarden Euro jährlich zu erreichen.
„Politik ist gefordert, die Treiber des Fortschritts durch geeignete gesetzliche Rahmenbedingungen und die Schaffung einer auf Nachhaltigkeit angelegten funktionalen Infrastruktur zu unterstützen. Jetzt gilt es, vorhandene Ideen in der Praxis umsetzen zu können und die deutsche Gesundheitswirtschaft auch digital weltweit konkurrenzfähig zu machen", betont Peter Asché, der Sprecher der Entscheiderfabrik sowie Vizepräsident des Verbandes der Krankenhausdirektoren und Kaufmännischer Direktor im Vorstand der Uniklinik der RWTH Aachen. Anlass zu dieser Erklärung gibt die Ernennung Gottfried Ludewigs zum Leiter einer aufgewerteten Abteilung für Digitalisierung im Bundesgesundheitsministerium durch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Die Initiative hofft, dass dies dabei hilft, bestehende Barrieren zu überwinden. Das gilt vor allem für den transparenten Informationsfluss der Patientendaten beziehungsweise die Interaktion mit individuellen Gesundheitsakten und institutionellen Patientenakten ohne Schnittstellenschranken. Besonders für Kliniken werden eine gute Digitalisierungsstrategie auf der einen Seite und eine gute operative IT auf der anderen Seite den Unterschied machen und ein kritischer Erfolgsfaktor werden, sagt Asché.
Politik reagiert weiterhin verhalten
Doch die Politik bleibt vage. Auch wenn der Bundesgesundheitsminister die Digitalisierung im Gesundheitswesen zu einem seiner drei Schwerpunkte in den kommenden Jahren machen will und sagt: „Mit dem E-Health-Gesetz sind erste wichtige Schritte erfolgt. Es passiert so wahnsinnig viel in dem Bereich, dass es richtig ist, einen stärkeren Fokus auf dieses Politikfeld zu legen." Spahn will einmal im Quartal Start-ups in sein Ministerium einladen, „um ein Gefühl dafür zu bekommen, was sich dort alles bewegt". Konkrete Investitionszahlen aber nennt er nicht.
Die elektronische Gesundheitskarte, als IT-Großprojekt mit Milliarden gefördert, kommt nicht wirklich von der Stelle. Die damit verbundene Hoffnung auf mehr Effizienz im Gesundheitswesen und bessere Patientenversorgung musste erst einmal ad acta gelegt werden. Auch die neue Besetzungsliste der GroKo unterstreicht nicht gerade den Stellenwert: rund 39 Staatssekretäre und 15 Minister, aber kein Digitalisierungsminister. Zwar soll sich Dorothee Bär (CSU) als Staatssekretärin im Kanzleramt künftig um das Thema Digitalisierung kümmern. Aber Staatsministerinnen vergeben kein Geld. Ihre Kompetenz schließlich stellte Bär selbst infrage, als sie von dem akuten und sehr konkreten Glasfaser-Problem dazu überleitete, künftig Flugtaxis nutzen zu wollen. Eine Technologie, die nicht zeitnah etabliert sein wird und erst recht keinen Nutzen für die breite Masse aufweist.
In der Pflicht stehen auch die etablierten Akteure im Gesundheitswesen. „Die Gesundheitswirtschaft hat die digitale Entwicklung bislang weitgehend verschlafen. Die Aufwertung der Abteilung Digitalisierung ist ein wichtiges Zeichen in die Selbstverwaltung und ein starker Impuls für Anbieter digitaler Lösungen der Informations-, Kommunikations- Leit- und Medizintechnik und Kliniken", erklärt der stellvertretende Sprecher der Entscheiderfabrik, Dr. Pierre Michael Meier. Bei der Digitalisierung der Gesundheitsdaten hinke Deutschland anderen Ländern hinterher und müsse neue Wege beschreiten.
Digitaler Highway
Amerikanische Kliniken werben gerne mit ihrem digitalen Durchdringungsgrad, bewertet nach dem Electronic Medical Record Adoption Model (Emram). Dieses Evaluationsmodell analysiert die Reife von klinischen Systemen in Krankenhäusern und erlaubt dadurch Benchmarking und Vergleiche mit ähnlichen Krankenhäusern. Hierzu gehört eine siebenstufige Bewertungsskala, an deren Spitze eine lückenlose elektronische Patientenakte steht, die alle klinischen Bereiche integriert und alle medizinischen Papierakten ersetzt. Gewährleistet sein muss auch der Einsatz von Standards zum Datenaustausch für die integrierte Versorgung. Doch während in Amerika selbst Kleinstädte mit dem höchsten digitalen Durchdringungsgrad ihrer Krankenhäuser werben, bewegen sich bundesdeutsche Kliniken im Schnitt auf einem Level von 1,8 der Emram-Skala. Nur das Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf schafft Level sieben und ist damit in Deutschland allein auf weiter Flur.
Neue Wege ins Krankenhaus der Wahl
Hierzulande ist vielen Patienten nicht einmal bewusst, dass sie sich selbst für die Klinik entscheiden können, in der sie behandelt werden wollen. Viele glauben, sie müssten in das nächstgelegene Krankenhaus gehen. Und sowieso bestimme das der Haus- oder Facharzt. „Wir haben in Deutschland eine freie Arzt- und Krankenhauswahl. Patienten können und sollten sich selbst informieren, wo sie am besten behandelt werden", sagt der Mediziner und Start-up-Unternehmer Dr. Nikolai von Schroeders. Das sei zwar nicht ganz einfach, das Internet biete aber inzwischen so umfangreiche Informationen, dass mit ein bisschen Zeit und Geduld gute Informationen zu erlangen seien.
Um die Wahl zu erleichtern, hat von Schroeders die Internetplattform www.krankenhaus.de entwickelt. „Wichtig ist erst einmal das Kriterium der Häufigkeit des Eingriffes. Dies lässt sich auf unserem Internetauftritt leicht über die Suche nach einer Erkrankung, kombiniert mit der eigenen Postleitzahl, herausfinden", erläutert von Schroeders. Zwar gibt es dort keine festgeschriebene Anzahl von Operationen, mit denen eine gute Qualität vermutet werden kann. Relativ einleuchtend ist aber: Wenn jemand eine Erkrankung sehr selten behandelt oder operiert, verfügt er über weniger Erfahrung als im umgekehrten Fall.
Von Schroeders empfiehlt außerdem, spezialisierten Krankenhäusern den Vorzug zu geben. Gerade wenn in komplizierten Fällen nur sehr wenige Patienten im Jahr behandelt werden. Neben diesem Kriterium sind Erfahrungsberichte anderer Patienten wertvoll. Auch die Internetseite des jeweiligen Krankenhauses gibt Auskunft zu Versorgungsangeboten und besonderen Stärken eines Krankenhauses.
Haben sich die Suchenden für ein Krankenhaus entschieden, können sie über einen entsprechendes Anfragefeld zu jeder Tages- und Nachtzeit an die Klinik ihrer Wahl schreiben, warum sie behandelt werden möchten und zu welchem Datum das für sie am besten passen würde. Öffnungszeiten der Sekretariate und lange Warteschleifen werden so vermieden. Am nächsten Tag meldet sich die Klinik bei den möglichen Patienten telefonisch, erklärt, was vor einer Aufnahme an Voruntersuchungen noch zu erledigen ist und plant mit dem Patienten in spe direkt den Aufnahmetermin.
Portale wie www.krankenhaus.de sind alles andere als eine Luftnummer. Von ihnen profitieren Patient und Klinik. Es sei denn, man wartet zum Einweisungstermin auf das Flugtaxi.