Die Immunonkologie steckt noch in den Kinderschuhen. Die Krebsspezialisten Dr. Martina Treiber und Prof. Dr. Michael Clemens über Nebenwirkungen, Chancen und Fortschritte der neuen Krebsmedizin.
Herr Professor Clemens, auf der Immunonkologie ruhen viele Hoffnungen bei der Krebstherapie. 2015 würdigte die Jury des Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preises diese Disziplin als neue Säule der Krebstherapie. Ist der Krebs jetzt endlich besiegt?
Clemens: Das hinter der Immunonkologie stehende Prinzip ist historisch betrachtet schon wesentlich älter, schlagkräftige Medikamente für ergänzende Therapie-
optionen gibt es allerdings erst seit wenigen Jahren. Beim schwarzem Hautkrebs haben wir beispielsweise schon seit Langem einen immuntherapeutischen Ansatz. Wir verfuhren schon in den 90er Jahren damit, dass wir die betroffene Haut einritzten und dann einen Tuberkuloseimpfstoff gespritzt haben, um das Immunsystem der Patienten anzuregen. Das hat in einigen Fällen ganz gut funktioniert, wenn auch nur kurzfristig. Der Mehrzahl der Patienten brachte dieser eher unspezifische Ansatz leider gar nichts. Etwas ganz ähnliches der spontanen Wirkung nach vermutet man hinter einer Beobachtung aus dem Jahre 1857. An der Chirurgischen Universitätsklinik Bonn wurde damals eine krebskranke Patientin in das leere Bett eines Wundrose-Patienten gelegt. Wenig später begann ihr Tumor zu schrumpfen. Offenbar führte der Kontakt mit den Bakterien der Hautinfektion bei der Krebspatientin zu einer Aktivierung des Immunsystems, das den Tumor angriff. Eine Erklärung dafür hatte man damals natürlich noch nicht. Die Prozesse, durch die im Körper Krebszellen und Tumore entstehen, sind biochemisch hochkomplex und weiterhin Gegenstand umfassender Forschung. Die Immunonkologie entwickelt sich zu einem weiteren wichtigen Baustein in der Therapie vieler Krebserkrankungen. Wir können heute durch all unser Können schon 60 Prozent unserer Patienten heilen oder ihren Krebs zumindest so in Schach halten, dass ein alltägliches Leben möglich ist. Von wahren Wundern sind wir aber weiterhin noch sehr entfernt.
Es wirkt nüchtern, wenn Sie das so sagen. Zumal ja immer noch vier von zehn Patienten irgendwann sterben im Laufe der eingesetzten Therapie.
Clemens: Die Prognosen sind sehr unterschiedlich, weil hierbei viele Faktoren eine Rolle spielen. In welchem Stadium wurde der Krebs des Patienten entdeckt, welches Gewebe oder Organ ist betroffen, gibt es schon Metastasen oder begleitende Erkrankungen, die eine Genesung erschweren? Auch das Alter spielt eine Rolle und das soziale Umfeld des Patienten. Deswegen sind individualisierte Therapiekonzepte auch so wichtig, wie wir sie an vielen Krebszentren in Deutschland in Tumorkonferenzen entwickeln. Bei der Immunonkologie ist die Autoimmunreaktion immer noch etwas, das schwer beherrschbar und kaum vorhersagbar ist. Nebeneffekte wie eine Entzündung der Hypophyse im Gehirn oder eine Schilddrüsenvergrößerung sind nichts, was wir unseren Patienten wünschen – aber sie kommen gehäuft vor. Es gibt de facto keinen immunonkologischen Ansatz, bei dem keine Autoimmunreaktion auftreten kann. An diesen Phänomenen lässt sich gut ablesen, dass wir hier noch mit einer recht jungen Technik verfahren und unser Wissen im Einzelnen noch wachsen muss.
Das hört sich ungemütlich an, Sie reden über den Bereich der Nebenwirkungen. Wie beherrschbar ist das derzeit?
Clemens: Unser Wunsch nach Kontrolle und Heilung wird noch zu oft enttäuscht. Ein gutes Beispiel ist der Wirkstoff Alphainterferon. Interferone sind körpereigene Zytokine und somit an der Regulation von Immunreaktionen sowie der Blutbildung beteiligt. Die antivirale und immunmodulatorische Wirkung von Interferon-Alpha und -Beta kann therapeutisch durch die Gabe von rekombinanten Interferonen genutzt werden. Wir haben das länger verabreicht, wussten aber letztlich nicht konkret, wann es funktioniert und wann nicht. Es stellte sich dann heraus, dass es nur bei den Menschen gut wirkte, die Antikörper bei der Schilddrüse gebildet hatten. Die Schilddrüse als Organ ist neben der Haut, dem Darm und den Schleimhäuten die Zielregion, bei denen immunonkologische Verfahren heutzutage am besten wirken. Autoimmunpatienten haben aber nicht automatisch einen besseren Wirkungsgrad bei der Bekämpfung der Krankheit. Diese brauchen oft hochdosiert Kortison, insbesondere, wenn an anderen Stellen durch die Therapie Tumore entstehen. Um es in ein Bild zu bringen: Sie beginnen, einen Brandherd zu löschen und erkennen währenddessen, dass an anderer Stelle schon ein neuer entsteht.
Nach Heilung klingt das nun nicht gerade. Worin liegt dann der Vorteil der Therapie?
Treiber: Unter der Immuntherapie verschaffen wir, oftmals in der Verbindung mit anderen therapeutischen Optionen wie der Chemotherapie, den Patienten eine längere Lebenszeit. Dies in Verbindung mit einer zielführenden Schmerztherapie gibt unmittelbar wieder mehr Lebensqualität. Aber, und das ist leider der Fall, es entstehen im späteren Verlauf auch gehäuft andere Tumore. Das ist der Preis. Wir machen den Primärtumor sozusagen platt, dafür entwickeln sich neue Herausforderungen. Dass nach einigen Jahren Zweit- oder Drittkarzinome entstehen, ist bisher oft alternativlos. Was wir noch nicht konkret wissen: Warum funktioniert es bei einigen Patienten sehr gut und bei bestimmten Krankheitsbildern besser als bei anderen? Und warum bei anderen wiederum überhaupt nicht, wenn wir immunonkologisch eine Therapie aufsetzen? Mittlerweile schauen wir prädiktiv immer nach individuellen Biomarkern, um die möglichst beste Therapieoption zu finden. Biomarker klären wir diagnostisch schon seit Längerem ab, das ist übrigens genauso obligatorisch wie auch kostenintensiv.
Die Immunonkologie heutiger Prägung ist eine neue Option, aber Sie als Ärzte müssen damit über noch mehr Wissen verfügen. Wie schaffen Sie das neben Ihrer kurativen Tätigkeit überhaupt?
Treiber: Sie sprechen indirekt den immensen Fortschritt in der Forschung an, hier tut sich in der Tat sehr viel, klinisch wie auch mikrobiologisch in der Grundlagenforschung sowie im Bereich der Pharmakologie. Die Kollegen und ich nehmen regelmäßig an Symposien und Kongressen teil, das ist äußerst wichtig in der Onkologie. Gleichzeitig ist das Gebiet der Krebstherapie so groß und segmentiert, dass nicht jeder alles wissen kann. Deswegen legen wir sehr viel Wert auf den Austausch untereinander über Disziplingrenzen hinweg. Mit unseren interdisziplinären Tumorkonferenzen haben wir ein etabliertes Instrument für uns Ärzte, um sich neues Wissen anzueignen, Erfahrungen auszutauschen und andere Meinungen zu Krankheitsverläufen einzuholen. Man vertieft automatisch sein Wissen oder erkennt, was man vielleicht besser nochmals nachlesen sollte.
Die Medikamente sind ja nur ein Baustein bei all dem. Was gilt es noch zu beachten?
Clemens: Gerade bei der wachsenden Anzahl der Therapeutika ist es wichtig, sich immer wieder mal einzulesen bei den neuen Wirkstoffen und mit Kollegen darüber zu sprechen. Auch die Diagnostik entwickelt sich in der Onkologie quasi jedes Quartal weiter, weil neue Biomarker gefunden werden, die wir mitberücksichtigen sollen. Der Aspekt der Molekularpathologie spielt darüber hinaus eine zunehmend wichtigere Rolle bei unserer Arbeit. In Deutschland können wir weiterhin alles einsetzen, was therapeutisch sinnvoll ist. Bei gesetzlich versicherten Patienten übrigens genauso wie bei privaten. Es gibt dabei keinen Unterschied für uns oder die so oft zitierte Zweiklassenmedizin.