Bilder von randalierenden Chaoten gibt es immer wieder. Wie viel Gewalt steckt aber wirklich im deutschen Fußball?
Da steigt mit dem 1. FC Magdeburg einer der traditionsreichsten Vereine in Deutschland in die 2. Fußball-Bundesliga auf – und wie lauteten die Schlagzeilen am Tag danach? „Schwere Ausschreitungen bei Aufstiegsfeier" oder „Chaoten feiern Randale-Party". Die hässlichen Szenen am Magdeburger Hasselbachplatz, bei denen Polizisten mit Steinen und Flaschen beworfen, Feuer gezündet und alles durch die Gegend geworfen wurde, was nicht niet- und nagelfest war, überschatteten den sportlichen Erfolg des einzigen Europapokal-Siegers der ehemaligen DDR.
„Dann läuft etwas gehörig schief"
„Wenn Freudenstimmung in blinder Zerstörungswut und Gewalt endet, dann läuft etwas gehörig schief", sagte Sachsen-Anhalts Sport- und Innenminister Holger Stahlknecht (CDU), und er betonte: „Das hat nichts mit Fankultur zu tun." Zumindest nicht mit der Idealvorstellung von Fankultur. Ausschreitungen gab es im Fußball eigentlich schon immer, er scheint für manche ein ideales Ventil zu sein, Alltags-Aggressionen abzubauen. Die zunehmende Medienpräsenz hat das Thema jedoch noch öffentlicher gemacht. Wie viel Gewalt steckt also heute im deutschen Profifußball?
Gar nicht so viel wie allgemein angenommen wird, behauptet Gunter A. Pilz. Der Soziologe, der seit mehr als vier Jahrzehnten das Fanverhalten erforscht, sagte auf FORUM-Anfrage zum Status quo: „Wenn man sich an die Straßenschlachten zu Hochzeiten der Hooligans vor 20 Jahren zurückerinnert, dann leben wir heute fast in paradiesischen Zuständen."
Die Gründe für weniger Gewaltexzesse seien unter anderem verschärfte Sicherheitsbedingungen und der Alterungsprozess der damals aktiven Hooligans. Gegen Pilz’ These spricht jedoch folgende Statistik: Nach Polizeiangaben (bezogen auf die Saison 2016/17) stieg die Zahl der gewaltbereiten Fans der Ersten, Zweiten und Dritten Liga um 4,1 Prozent auf 14.210 an. Dabei unterscheidet die Polizei Anhänger der Kategorie B (gewaltsuchend/10.655) und Kategorie C (gewaltneigend/3.643). „Eine Trendwende ist weiterhin nicht erkennbar", schreibt die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) in ihrem Jahresbericht.
Gewalt wird nie ganz verschwinden
Pilz betont auch, dass Gewalt nie ganz aus den Profiligen verschwinden werde: „Der Fußball bietet ein sehr attraktives Feld für Gewalt." Die mediale Aufmerksamkeit, die Rivalität mit anderen Leuten, die Anonymität der Gruppe – all das seien „anziehende Faktoren für Knallköpfe, die auf Krawall aus sind", sagt der Fanforscher. Das schärfste Schwert, um genau diese Klientel zumindest vom Stadion fernzuhalten, ist für den organisierten Fußball das Stadionverbot. Und in dieser Hinsicht haben der Deutsche Fußball-Bund (DFB) und die Deutsche Fußball Liga (DFL) vor ein paar Wochen einen Sieg errungen.
Das Bundesverfassungsgericht entschied Ende April, dass bundesweite Stadionverbote zulässig sind. Die Richter hatten sich mit der Thematik beschäftigt, weil ein Anhänger des Rekordmeisters FC Bayern München eine Verfassungsbeschwerde eingereicht hatte.
Der damals 16-Jährige befand sich bei einem Heimspiel der Bayern 2006 beim MSV Duisburg in einer Fangruppe, die eine Auseinandersetzung mit einer anderen hatte. Obwohl das Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch gegen den Jugendlichen wegen Geringfügigkeit eingestellt wurde, hielt Duisburg das bundesweite Stadionverbot bis 2008 gegen ihm aufrecht.
Der BGH kam zu der Ansicht: Es reicht schon die Sorge eines Vereins, dass eine Person aufgrund seines Verhaltens künftig eine Gewalttat ausüben könnte, um ihn bundesweit zu sperren. Es müsse aber, wie in dem verhandelten Fall, ein „sachlicher Grund" vorliegen. Willkür soll weiterhin ausgeschlossen sein.
Sind Stadionverbote ein wirksames Mittel?
„Ich finde das gut, dass Maßnahmen ergriffen werden, damit solche Chaoten vom Stadion ferngehalten werden. Ich unterstütze solche Maßnahmen ganz extrem", sagte Bayern-Trainer Jupp Heynckes als Reaktion auf den Fall. Die Arbeitsgemeinschaft Fananwälte sieht das völlig anders, sie hält bundesweite Stadionverbote für „rechtsstaatlich bedenklich" und erachtet soziale Arbeitsstunden oder pädagogische Bewährungsauflagen für deutlich sinnvoller.
Auch Heribert Bruchhagen, langjähriger Vorstandschef von Eintracht Frankfurt und dem Hamburger SV, sagt: „Ich glaube nicht an rigide Strafen."
Der Hoffenheimer Coach Julian Nagelsmann wünscht sich dagegen ein noch härteres Durchgreifen gegen ProblemFans. „Der Fußball ist kein rechtsfreier Raum", sagte der 30-Jährige. „Es ist ein Sport für alle. Kinder und Familien sollen sich wohlfühlen – und nicht gucken müssen, ob da von irgendwo eine Faust geflogen kommt."
Die Klientel in der Bundesliga hat sich stark verändert. War der Stadionbesuch früher eine reine Männerdomäne, gleicht er heute einem Familienausflug. Durch die Modernisierung der Stadien und die Eventisierung rund um die 90 Minuten auf dem Rasen ist die Besucherzahl von Frauen, Kindern und Jugendlichen stark angestiegen. Auch deshalb sind die Sicherheitsvorkehrungen in den modernen Arenen so umfangreich wie nie.
Doch die Ultras beweisen fast Woche für Woche, dass die Sicherheit nicht lückenlos ist. Sie schleusen Pyrotechnik in die Stadien und gefährden mit dem Anzünden andere Besucher, sagen Kritiker. Der Verband reagiert mit harten Strafen, die Ultras mit noch mehr Bengalos und Hass. Ein negativer Kreislauf. Eine Annäherung beider Parteien, die die Gewaltspirale stoppen könnte, ist nicht in Sicht. Die Fronten sind verhärtet.
Fan-Forscher Pilz behauptet, das Abbrennen von Pyrotechnik sei „keine Form der Gewalt", sondern „ein Stilmittel, eine Ausdrucksform und auch ein Protest gegenüber den Verbänden". Doch spätestens wenn die brennenden Fackeln oder Böller Richtung gegnerische Fans oder aufs Spielfeld geworfen werden, beginnt die Gewalt. Diese Szenen sind zum Glück selten, aber sie gibt es in der Bundesliga. Auch der martialische Auftritt von Ultras des Zweitligisten Dynamo Dresden, die bei einem Auswärtsspiel im Militär-Look und mit teils vermummten Gesichtern provozierten, Pyrotechnik abfackelten und dem DFB auf einem Plakat den Krieg erklärten, hatte mit einem friedlichen Fanverhalten nichts zu tun. Ebenso wenig das Verhalten einiger HSV-Anhänger nach dem ersten Bundesliga-Abstieg der Vereinsgeschichte am vergangenen Wochenende.
In der sehr heterogenen Gruppe der Ultras gilt ein Teil als gewaltbereit. In der Szene wird von den sogenannten Hooltras gesprochen, „die sich von ihrer Kerngruppe Ultras abspalten, weil die gewalttätige Auseinandersetzung einen höheren Stellenwert gewinnt als das klassische Ultrawesen", erklärt Björn Menzel, Leiter des Bereichs Sportgewalt beim Landeskriminalamt Berlin.
Von den Hooltras dürften auch die meisten Aktionen ausgehen, die mindestens eine indirekte Gewalt darstellen. So wie die Hass-Plakate gegen Hoffenheims Mäzen Dietmar Hopp, der abgetrennte Bullen-Kopf vor der Fankurve von Dynamo Dresden im Pokal-Duell gegen den verhassten Rivalen RB Leipzig oder die am Trainingsgelände des Hamburger SV aufgestellten Grabkreuze mit einer deutlichen Warnung an das Team („Wir kriegen euch alle!").
Auch die direkte körperliche Gewalt ist nicht aus dem Fußball verschwunden. Wenn es knallt, dann meistens bei der An- und Abreise der Gästefans. Um diese Routen zu sichern, „müssen wir immer mehr Beamte einsetzen", sagt Jörg Radek, stellvertretender Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP). „Denn wenn es zur Gewalt kommt, wird diese immer brutaler."
Wer soll die Polizeieinsätze bezahlen?
Das wirft die Frage auf: Wer soll für die Polizeieinsätze aufkommen? Die Vereine oder die Steuerzahler? Diese Frage werden die Gerichte beantworten. Die Stadt Bremen hat der DFL für das brisante Nordderby Werder Bremen gegen den Hamburger SV im Jahr 2015 eine Gebührenrechnung in Höhe von 425.000 Euro in Rechnung gestellt. Die DFL verweigerte die Zahlung mit der Begründung, die Gewährleistung der Sicherheit im öffentlichen Raum sei eine Kernaufgabe des Staates. Das Bremer Oberverwaltungsgericht gab jedoch der Hansestadt weitgehend Recht, der Fall liegt nun beim Bundesverwaltungsgericht.
Das Thema birgt viel Brisanz. Die „Zeit" schätzte die Kosten für die Polizeieinsätze zur Sicherung der ersten drei Ligen anhand der Personalstunden für die Saison 2016/17 auf mindestens 68,2 Millionen Euro. „Der Fußball ist nicht Verursacher der Gewalt", betont die DFL – und sie erhält Unterstützung von der Polizei. „Fußballgewalttäter müssen von den Stadien weggehalten werden. Das funktioniert nicht mit dem Taschenrechner", sagt Polizei-Gewerkschaftschef Oliver Malchow.
Er hege Zweifel, ob mögliche Vereinszahlungen auch tatsächlich der inneren Sicherheit zugutekämen.
Völlig schutzlos sind dagegen die Schiedsrichter in den unteren Spielklassen der Gewalt ausgesetzt. Ob von Spielern, Trainern oder aufgebrachten Fans – immer wieder müssen die Unparteiischen als Prügelknabe für den Frust herhalten. Und das oft im wahrsten Sinne des Wortes. Erst vor wenigen Wochen gingen die Schiedsrichter im Kreis Frankfurt/Main in den Streik, rund 150 Jugend-Spiele fielen deswegen ins Wasser. Die Übergriffe gegenüber Schiedsrichtern hätten „eine neue Dimension erreicht", begründete der Kreisschiedsrichterausschuss den Streik.
Einen folgenschweren Bierbecherwurf auf einen Schiedsrichter gab es auch schon in der Bundesliga (2011 beim FC St. Pauli). Sicher, es ist schwer vorstellbar, dass es hierzulande Szenen geben wird wie im griechischen Fußball, wo ein Clubpräsident mit einer Pistole am Gürtel den Platz stürmte. Doch die Gewalt bleibt auch im deutschen Fußball ein Problem.