Am 19. Mai gastiert die Formel E auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin. Nach anfänglichen Zweifeln hat sich die Elektrorennserie inzwischen etabliert. Und gerade die deutschen Fahrer stehen in diesem Jahr mehr denn je im Mittelpunkt.
André Lotterer konnte einem schon ein wenig leidtun. Nach dem jüngsten Formel-E-Rennen in Paris saßen die drei Sieger in der Pressekonferenz und schimpften über die aus ihrer Sicht viel zu aggressive Fahrweise des Deutschen. Dieser konnte sich nicht verteidigen, saß er doch zur gleichen Zeit gerade bei den Stewards, die sich die strittigen Szenen noch einmal gemeinsam mit ihm anschauen wollten. Auf den letzten Metern war Lotterer mit dem Briten Sam Bird kollidiert, der daraufhin nur noch auf drei Rädern ins Ziel rollte; zuvor hatte er sich auch schon mit WM-Titelverteidiger Lucas di Grassi (Brasilien) ein hartes Duell geliefert. „Das war völlig unprofessionell. Ich glaube nicht, dass man sich auf der Strecke noch schlechter benehmen kann", wetterte di Grassi anschließend in Richtung Lotterer. Dieser hatte zuvor wenigstens im Fernsehen seine Sicht der Dinge darstellen können und darauf bestanden, dass alles sauber gelaufen war. Letztlich durfte er seinen sechsten Platz zwar behalten, wurde aber für das nächste Rennen am Pfingstsamstag auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin um zehn Startplätze strafversetzt.
Zwei Dinge zeigten sich in Paris. Zum einen, dass die deutschen Fahrer in der Formel E mehr denn je im Fokus stehen. Schon vier Mal landete einer von ihnen in dieser Saison auf dem Podium: André Lotterer vom Techeetah-Team war bislang einmal Zweiter und einmal Dritter; Ex-Formel-1-Pilot Nick Heidfeld (Mahindra Racing) wurde gleich zum Auftakt in Hongkong ebenfalls einmal Dritter; zudem fuhr Maro Engel (Venturi) in Paris als Vierter nur knapp am Treppchen vorbei.
Die Krönung war jedoch in Rom der erste Erfolg eines deutschen Formel-E-Fahrers durch Daniel Abt (Audi Sport ABT Schaeffler) gewesen. Es hätte sogar schon der zweite Sieg sein können, schließlich war Abt auch schon in Hongkong als Erster ins Ziel gefahren. Nachdem die Rennkommissare jedoch Unregelmäßigkeiten an seinem Wagen festgestellt hatten, war er dort noch nachträglich disqualifiziert worden.
Zum anderen zerstreute die Episode aus Paris wohl auch die letzten Zweifel, ob die Formel E wirklich eine ernsthafte Rennserie ist. In der Anfangsphase nach der Gründung hatte man zeitweise noch den Eindruck gehabt, es gehe den Beteiligten lediglich darum, die Elektromobilität voranzutreiben. Auch André Lotterer hatte vor ein paar Jahren einen Wechsel in die Formel E mit den Worten abgelehnt, dass er sie für zu „politisch" und für eine „Philosophie" halte. Heute sagt er: „Fahrerisch ist die Formel E eine riesige Herausforderung. Es gibt sehr viele Topfahrer in der Serie, und die Autos werden immer schneller und besser. Die Formel E hat sich etabliert und ihren festen Platz im Motorsport gefunden."
„Komplett auf uns selbst angewiesen"
Dieser Platz ist in den Innenstädten. Während sich die meisten klassischen Rennstrecken oft fernab der Großstädte befinden, weil der Lärm der Motoren sonst gar nicht auszuhalten wäre, geht die Formel E von Anfang an ins Zentrum der großen Metropolen. Rom, Paris, New York oder eben am 19. Mai Berlin heißen die Stationen der Serie. André Lotterer hätte das damals schon gerne so gehabt, als er als Jugendlicher mit dem Motorsport begann. „Wenn ich ein paar Mädels auf die Rennstrecke einladen wollte, haben sie meistens gesagt, dass es ihnen zu weit weg sei", erzählt er. „Aber jetzt sind wir mitten in der Stadt, und es ist viel einfacher." Die Formel E wartet nicht, bis die Menschen zu ihr kommen – sie kommt zu den Menschen und hat dadurch ganz neue Zielgruppen für den Motorsport erschlossen.
Zwar wird die Formel E von einigen noch immer belächelt. Kritiker stören sich am seltsamen Surren der Elektrorennwagen und an der geringeren Geschwindigkeit, die bei Weitem nicht an das Tempo der Formel-1-Autos heranreicht. Dass die Fahrzeuge deshalb leichter zu beherrschen sind, sei jedoch ein Irrglaube, sagt André Lotterer. Er ist in der Vergangenheit schon in der Super GT gefahren und in der FIA-Langstrecken-Weltmeisterschaft (WEC), er hat das legendäre 24-Stunden-Rennen von Le Mans gewonnen und es bis in die Formel 1 geschafft. Doch keine dieser Serien sei mit der Formel E vergleichbar. „Die Gewichtsverteilung, die Reifen, die Bremsen, in all diesen Dingen unterscheidet sich die Formel E von allen anderen Rennserien", sagt er. Im Unterschied zur Formel 1 fahren die Fahrer gänzlich ohne Telemetrie, das heißt, es erfolgt keine Datenübertragung aus dem fahrenden Auto an die Renningenieure in der Boxengasse. „Wir sind also komplett auf uns selbst angewiesen", erklärt Lotterer. „Der Fahrer spielt deshalb eine viel größere Rolle als normalerweise im Rennsport."
Die Herausforderung liegt vor allem darin, mit der Energie hauszuhalten, damit das Auto nicht vor dem Ziel liegen bleibt. Dafür stehen den Fahrern verschiedene Energierückgewinnungssysteme zur Verfügung. So wird beim Bremsen an der Vorderachse kinetische in elektrische Energie umgewandelt, die beim nächsten Gasgeben direkt wieder zur Verfügung steht – die sogenannte Rekuperation. Dadurch ändert sich jedoch die Balance des Fahrzeugs. „Das macht das Auto für uns so unberechenbar", sagt Lotterer. Auf den engen Stadtkursen kann deshalb schon der kleinste Fehler in der Mauer enden. Schlecht für die Fahrer, aber äußerst unterhaltsam für die Fans. Und anders als in der Formel 1 lässt sich der Sieger kaum vorhersehen: In den ersten acht Rennen der laufenden Saison konnte bisher kein Fahrer mehr als zwei Rennen für sich entscheiden. Bereits elf verschiedene Fahrer fuhren bislang aufs Podium.
„Es ist eine große Show", meint André Lotterer. Er kann sich deshalb durchaus vorstellen, dass eines Tages nicht mehr die Formel 1 das ultimative Ziel junger Motorsportler sein wird, sondern stattdessen die erst vor vier Jahren gegründete Elektrorennserie. „Ich glaube, dass die Formel E eine tolle Zukunft hat. Ich will nicht sagen, dass die klassischen Rennstrecken ausgereizt sind, aber doch inzwischen etabliert", sagt er. „Die Formel E steht dagegen erst ganz am Anfang ihrer Entwicklung. Wir können jetzt eine komplett neue Motorsportgeschichte schreiben."