Mit dem Wechsel des Bundesnachrichtendienstes in die neue Zentrale in Berlin erhofft man sich eine bessere Kooperation mit der Politik. Das stellt den BND jedoch vor Herausforderungen: Er wird sich im europaweiten „Spionage-Hotspot" selbst besser schützen müssen als bislang in Pullach.
Der Mann verschwand am helllichten Tag. Laut Augenzeugen soll Trinh Xuan Thanh am 23. Juli 2017 im Berliner Tiergarten, also aus einem Park, in einen Wagen gezerrt und weggebracht worden sein. Das Auswärtige Amt sprach von Entführung und beschuldigte den vietnamesischen Geheimdienst als Drahtzieher. Kurz nach seiner mutmaßlichen Verschleppung aus Berlin tauchte der 51-jährige Geschäftsmann in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi auf, wo er vor Gericht gestellt und nach zwei Prozessen im Januar und Februar wegen Korruption zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.
Der Vorfall warf ein Schlaglicht auf die Umtriebe der Geheimdienste in Berlin und weckt Erinnerungen an den Kalten Krieg. Damals galt die geteilte Stadt als Hochburg der Spione: Nirgendwo anders standen sich die zwei rivalisierenden Supermächte und deren Verbündete auf engstem Raum so nahe gegenüber wie in Berlin.
Zwei Monate vor Thanhs Verschwinden, im Mai 2017, bezeichnete der Berliner Staatssekretär Torsten Akmann Berlin als europaweiten „Spionage-Hotspot". Bereits vier Jahre zuvor ließ sich Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, von der „Welt am Sonntag" mit diesen Worten zitieren: „Berlin ist die europäische Hauptstadt der Agenten."
Attraktiv für fremde Dienste
Mit mehr als 150 Auslandsvertretungen ist die deutsche Hauptstadt ein Refugium für Spione aus aller Welt. So gut wie in allen Botschaften oder Konsulaten sind als Diplomatinnen und Diplomaten getarnte Agentinnen und Agenten mit der offenen oder geheimen Informationsbeschaffung für ausländische Nachrichtendienste beschäftigt. Als weltpolitischer Akteur, Mitglied der Nato und der EU sowie als hochentwickelter Wirtschafts- und Forschungsstandort ist Deutschland für Spionage besonders anfällig. Berlin ist nicht nur Regierungssitz, sondern auch Standort vieler Unternehmen und Organisationen, renommierter Hochschulen und Forschungseinrichtungen. „Berlin ist ein fantastischer Ort für Spione", sagt der Berliner Politikwissenschaftler Helmut Müller-Enbergs, der als Professor für Nachrichtendienstgeschichte an der dänischen Syddansk Universitet lehrt. „Wer in Berlin spioniert, weiß gleichzeitig über mehrere Länder Bescheid."
Ausländische Dienste richten ihre Ausforschungen nicht nur gegen deutsche Ziele, sondern auch gegen oppositionelle Gruppen aus ihren Heimatländern. Oder sie sammeln Informationen über verdächtige Personen, gegnerische Dienste oder verfeindete Staaten. Bei der Informationsbeschaffung ist die elektronische Aufklärung von großer Bedeutung. „Die ausländischen Geheimdienste haben in den vergangenen Jahren technisch stark aufgerüstet", sagt der Geheimdienstexperte und Publizist Erich Schmidt-Eenboom. In den Botschaften seien die Abhöranlagen so getarnt, dass sie von außen nicht erkennbar seien.
Laut Verfassungsschutzbericht 2016 gehören Russland, China und Iran zu den Hauptakteuren der gegen Deutschland gerichteten Spionageaktivitäten. Darüber hinaus spielen weitere, auch westliche Staaten eine zunehmende Rolle. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die amerikanischen, britischen und französischen Nachrichtendienste in der technischen Aufklärung, bei der Überwachung der Kommunikationsströme und elektronischer Medien, sehr aktiv sind.
2.000 BND-Leute arbeiten in Berlin
Ein Gerichtsfall aus dem vergangenen Jahr zeigt, wie intensiv beispielsweise die iranischen Spionageaktivitäten in Deutschland sind. Ein aus Pakistan stammender iranischer Agent soll den ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten und Wehrbeauftragten Reinhold Robbe wegen dessen engen Verbindungen zu Israel ausgespäht haben. Er wurde dafür vom Berliner Kammergericht zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Die Bundesanwaltschaft hat im vergangenen Jahr 35 Ermittlungsverfahren wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit oder sonstigen Spionagedelikten eingeleitet.
Der Umzug der BND-Zentrale vom bayerischen Pullach nach Berlin macht es für ausländische Nachrichtendienste noch interessanter, in der deutschen Hauptstadt zu operieren. Der Bund hat die Präsenz der Sicherheitsbehörden in Berlin in der Vergangenheit bereits erheblich verstärkt. Seit 2004 kooperieren im gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum in Berlin-Treptow 40 nationale Behörden aus dem Bereich der inneren Sicherheit, darunter der Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und der Bundesnachrichtendienst (BND). Nach Auskunft der BND-Pressestelle arbeiten derzeit etwa 2.000 BND-Leute in Berlin. Das ergibt eine hohe Konzentration an sensiblen Informationen.
Experten gehen daher davon aus, dass die ausländischen Nachrichtendienste ihre Kapazitäten in der deutschen Hauptstadt ausbauen werden. „Ausländische Agenten werden den BND stärker ins Fadenkreuz nehmen", ist Schmidt-Eenboom überzeugt. Generell betrachtet, bestehe in Berlin eine potenziell größere Gefahrenlage als in Pullach, denn in einer Großstadt fallen Observationen im öffentlichen Raum kaum auf, im Gegensatz zum beschaulichen Pullach.
Die deutsche Spionageabwehr werde ihre Observations- und Abwehrkapazitäten deshalb hochfahren müssen. Mit der Razzia gegen mutmaßliche iranische Agenten im Januar habe Deutschland ein Exempel statuiert, mit einer klaren Botschaft an die Adresse Irans: „Wir lassen uns nicht alles bieten!" Vor dem Hintergrund weltweit wachsender Spannungen und Konflikte werden nachrichtendienstliche Aktivitäten in jedem Fall zunehmen. Und das nicht nur in Berlin.
Der Fall des mutmaßlich gekidnappten Vietnamesen Trinh Xuan Thanh weckt Erinnerungen an den Kalten Krieg: In den 50er- und 60er-Jahren waren etwa 400 Personen aus der Bundesrepublik und aus Westberlin in die DDR verschleppt und dort inhaftiert worden. Dahinter steckte fast immer die ostdeutsche Geheimpolizei, die Stasi. Zu solchen Auswüchsen wie damals während des Kalten Krieges wird es nach Einschätzung des Historikers Christopher Nehring, Leiter Forschung im Deutschen Spionagemuseum in Berlin, nicht mehr kommen. „Entführungen und andere ‚scharfe Maßnahmen‘ bergen ein hohes Risiko. Da müssen Geheimdienste schon ernste politische Konsequenzen in Kauf nehmen wollen."
Trotz der exponierten Lage am neuen Standort in Berlin sei der Umzug in die Hauptstadt ein sinnvoller Entscheid gewesen, sind sich die befragten Geheimdienstexperten einig. „Von der räumlichen Nähe des BND zur Bundesregierung und den einzelnen Ministerien werden beide Seiten profitieren", sagt Schmidt-Eenboom. Er erwartet einen intensiveren Informationsaustausch und eine stärkere Fokussierung auf die Bedürfnisse der „Kunden" in der Regierung und den Ministerien. „Die häufigeren persönlichen Begegnungen zwischen Beamten, Abgeordneten und BND-Mitarbeitern werden das gegenseitige Misstrauen abbauen", meint der frühere BND-Präsident Hansjörg Geiger. Die Nähe zu Regierung, Parlament und Medien werde es dem BND zudem erlauben, eine wirkungsvollere Lobbyarbeit in eigener Sache zu betreiben, so Müller-Enbergs.
Der Neubau wertet das Viertel auf
Aus Sicht von Wolfgang Wieland, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Berliner Grünen, ist der Ortswechsel auch Ausdruck eines Gesinnungswandels innerhalb des BND. Wieland ist Mitglied der G10-Kommission, die die Überwachungsmaßnahmen der drei deutschen Geheimdienste BND, Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst im Kommunikationsbereich kontrolliert. Er sagt: „Mit dem Umzug nach Berlin ist der Nazi-Geist endgültig vertrieben worden." Er verweist auf den ersten Chef des BND, Reinhard Gehlen. Der ehemalige Wehrmachtsgeneral baute im Auftrag der Amerikaner den deutschen Auslandsgeheimdienst nach dem Krieg auf, gestützt auf ein Netzwerk hochrangiger Ex-Wehrmachts-Offiziere. Dieser Wandel, weg von einer verschworenen Gemeinschaft hin zu einem modernen und dienstleistungsorientierten Nachrichtendienst, lasse sich nicht zuletzt an der Zusammensetzung der Bediensteten ablesen, so Wieland: jünger, weiblicher, urbaner, vereinzelt auch mit Migrationshintergrund.
Die neue BND-Zentrale hat das Gesicht des Viertels, durch das einst die Berliner Mauer führte, sichtbar verändert. Nach dem Abbruch des „Stadions der Weltjugend", der größten Sportstätte Ostberlins, klaffte dort jahrelang eine Brache. „Der BND hat dem früher industriell geprägten Kiez zu einem Modernisierungsschub verholfen", sagt der Berliner Stadtplaner Christian Hajer. Das Viertel durchlief in den vergangenen zehn Jahren einen enormen Wandel. Neue Wohnungen, teilweise im oberen Preissegment, sind gebaut worden, hippe Cafés, Restaurants und Geschäfte haben eröffnet.
Ob der Kiez dadurch auch sicherer geworden ist, wie manche behaupten, ist indes fraglich. Angesichts der vielen Überwachungskameras, die jeden Winkel des weitläufigen BND-Areals im Blick haben, dürfte bei dem einen oder anderen Anwohner das Gefühl, unter ständiger Beobachtung zu stehen, überwiegen. Eine Geheimdienstzentrale ist ein potenzielles Ziel terroristischer Anschläge. Für Wolfgang Wieland ist deshalb klar: Die Terrorgefahr hat in Berlin zugenommen.
Dieser Beitrag erschien auch in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ).