Kirgisistan nach den ersten friedlichen demokratischen Wahlen im Oktober 2017: Mit mehr als einer Million Euro fördert die EU die Etablierung eines Öffentliche-Räte-Systems in der Hauptstadt Bischkek und den Regionen. Das ist Bürgerbeteiligung in Aktion. Ehrenamtliche sollen den Behörden auf die Finger schauen und sie beraten.
Plaza Hotel Bischkek, April 2018. Die güldene Ornamentenpforte öffnet sich, der rote Teppich liegt dick und schwer auf den weißen Marmorstufen, Pagen rollen rotgoldene Koffer-Etageren an. Doch die Gäste der heutigen Konferenz haben meist nur Handgepäck. Eine resolute Dame mit einem rosa akzentuierten Haarkranz à la Julia Timoschenko eilt im grauen Flanellkleid die Stufen hinauf. Ihr folgen zwei Frauen mit bunten Kopftüchern und großen Sonnenbrillen. Ein Mann im Anzug mit gestärktem Hemd und traditionell besticktem weißen Filzhut betritt ebenfalls das Foyer. Moderne, junge Bischkekerinnen in Flatterkleidern begrüßen die Ankömmlinge. Aus allen Regionen Kirgisistans sind mehr als 70 Teilnehmer angereist. Im Hotel Plaza, wo sonst Businessmen, Politiker und reiche Russen unterkommen, gilt es bei dieser ersten übergreifenden Konferenz, die Weichen für den weiteren demokratischen Umbau der Ex-UdSSR-Republik zu stellen. Und zwar unter Beteiligung der Bürger – ein Projekt, das der Europäischen Union über eine Million Euro wert ist und eine persönliche Eröffnung durch Nicola Scaramuzzo, dem EU-Delegierten für die Kirgisische Republik.
„Kirgisistan ist mehr als Bischkek", sagt Swetlana Baschtowenko, die Frau mit dem rosa Haarkranz. Sie ist Präsidentin des „Zentrums für Senioren". Sie hat dieses erste Treffen mit den sieben Regionen Kirgisistans ins Leben gerufen, damit sich die „kleinen" öffentlichen Räte aus den Regionen und Gemeinden des Landes mit den öffentlichen Räten der Verwaltungshauptstadt Bischkek, die nationale Behörden wie Ministerien und Staatsagenturen beraten, austauschen können. Sie alle haben ein Ziel: die Korruption bekämpfen – und der Bevölkerung, auch weit weg von Bischkek, etwa in den „Himmlischen Bergen" oder am Yssykköl-See an der Seidenstraße, eine Stimme zu verleihen und die Arbeit und Angebote der örtlichen Behörden zu verbessern. Nach einer mehrjährigen Pilotphase wurde am 24. Mai 2014 das Gesetz „Öffentliche Räte für staatliche Behörden" verabschiedet. Es verankert diese Räte – eine Art Mischung aus Bürgerbotschaftern und Aufsichtsgremium – im System, regelt die Zusammenarbeit mit Behörden, legt Anforderungen an Vorsitzende und Mitglieder fest und hat einen nationalen Koordinierungsrat etabliert.
Arbeit der örtlichen Behörden verbessern
Laut Transparency International hat Kirgisistan in den vergangenen Jahren viel getan, um der weit verbreiteten Korruption im Staatsapparat und in der Wirtschaft entgegenzuwirken. Die Korruption war 2010 Anlass für einen Volksaufstand, der zu einem Verfassungsreferendum führte. Kirgisistan wurde erste parlamentarische Demokratie in Zentralasien. Gemäß Korruptionswahrnehmungsindex 2017 liegt Kirgisistan auf Rang 135 von 180 Ländern. Die Platzierung hat sich damit unter dem vorherigen Präsidenten Almasbek Atambajew (2011 bis 2017) um 29 Plätze etwas verbessert (Rang 164 im Jahr 2010). Allerdings trat auch Atambajew im Umfeld der Wahlen 2017 durch Zensur und Verleumdungsklagen gegen Journalisten in Erscheinung – die auch der neue Präsident Sooronbai Dscheenbekow noch nicht revidiert hat.
Ernst blickt Swetlana Baschtowenko über die weißen Liliengestecke auf dem Konferenztisch hinweg. So feierlich wie im Plaza Hotel wird sonst allenfalls für Hochzeiten gedeckt. Die Bevölkerung des Landes hat drängendere Probleme: Armut, Arbeitsmigration und ein nicht wirklich funktionierendes Gesundheitssystem. Dazu kommen Umweltskandale und Grundstücksenteignungen in der Seenregion.
Am Vortag der Konferenz treffen wir die stellvertretende Vorsitzende des öffentlichen Rates, der bei der Staatsagentur für Umweltschutz und Forstwirtschaft auf Ministerialebene angesiedelt ist, an ihrem ehrenamtlichen Arbeitsplatz. Kalija Moldogasiewa (65) ist Humanökologin und hat zuvor am Internationalen Institut für Hochgebirgsphysiologie der Kirgisischen Akademie der Wissenschaften gearbeitet. Schon 1996 hat sie die Nichtregierungsorganisation „Tree of Life" gegründet, die sich für ökologische Nachhaltigkeit und gegen Industrieverschmutzungen einsetzt. Ihre Heimatregion, die „Himmlischen Berge", sind Unesco-Weltnaturerbe und liegen ihr als Öffentlicher Rätin besonders am Herzen: „Reiche arabische Geschäftsleute entdecken die Naturreservate am Yssykköl-See und in den Bergen für die Jagd. Sie wollten das Land in dieser Region aufkaufen und die Bewohner vertreiben. Oft sind die örtlichen Behörden korrupt, in den Regionen herrschen noch die Clans", berichtet Moldogasiewa. „Deshalb haben die Bewohner uns einen Brief geschrieben und wir als Öffentlicher Rat haben das Problem mit der Staatsagentur für Umweltschutz besprochen. Daraufhin haben die nationalen Behörden eingegriffen und diese illegalen Verkäufe verhindert. Die Menschen konnten in ihren Häusern bleiben", so Moldogasiewa zu einem der ersten Erfolgen des neuen Rätesystems.
Die Kandidatur für den Vorsitz eines öffentlichen Rates ist offen für alle. Doch oft melden sich diejenigen, die sich schon immer engagierten. Viele Vorsitze, insbesondere in den Regionen, sind noch unbesetzt. Auch das ist ein Grund, weshalb die EU und das unabhängige und überparteiliche Gustav-Stresemann-Institut die Werbetrommel rühren. Es gebe noch viel zu tun in Kirgisistan, sagt Moldogazieva: „Jeder muss sich ums eigene Überleben kümmern. Den Staat, der alles organisiert, gibt es nicht mehr." Renten und Gehälter reichten nur für das Nötigste. Die Gesundheitsversorgung sei schwierig: Obwohl offiziell kostenlos, müsse man Krankenschwestern und Ärzte inoffiziell bezahlen, um eine gute Behandlung zu bekommen.
Schmiergelder regeln die Versorgung
Davon wissen auch die Räte aus den Regionen zu berichten. Mukhaio Djoroboewa, eine der beiden Frauen mit Kopftuch, ist Mitglied des lokalen öffentlichen Rates und Schulsozialarbeiterin im südlichen Osch, mit etwa 250.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes. „Das größte Problem ist die Arbeitsmigration. Viele Kirgisen stehen auf der schwarzen Liste und bekommen keine Arbeitserlaubnis mehr für Russland, weil sie aus Unkenntnis oder aus Kostengründen gegen die Vorschriften verstoßen haben." Sie könnten ihre Familien nicht mehr ernähren; manche schickten ihre Kinder nicht mehr zur Schule, weil sie kein Geld für die Kleidung hätten. Für diese Familien biete der Rat nun Trainings an, wie sie das kleine Stückchen Land, das die meisten besitzen, so bewirtschaften, dass sie davon leben können. „Aber auch die Lage der Kinder der Kirgisen, die in Russland arbeiten dürfen, ist problematisch. Viele wachsen bei den Großeltern oder entfernten Verwandten auf oder sind sogar auf sich allein gestellt", berichtet sie. Deshalb habe der Rat ein leerstehendes öffentliches Gebäude mit Hilfe privater Sponsoren zum Kindergarten umfunktioniert. Die Bürger der Gemeinde renovierten es mit eigener Hand.
Auch Temirbek Sydykow, einer der Männer mit Filzhut und Vorsitzender des lokalen öffentlichen Rates in At-Bashi, hoch in den Bergen an der Seidenstraße, berichtet von bitterer Armut: „Besonders Rentner und Invaliden haben große finanzielle Probleme. Wir als Rat sind die erste Anlaufstelle, die ihnen sagt, wo sie Kredite, Förderprogramme und erste Hilfe bekommen können." Zwar böten auch die Moscheen in Notfällen Hilfe, aber nicht kontinuierlich. Sydykow ist zunächst sehr zurückhaltend. Schließlich möchte er aber doch wissen: „Was ist anders an den Menschen in Deutschland? Gibt es Unterschiede?" Auch nach längerem Nachdenken fallen mir, abgesehen vom Äußeren, keine großen Unterschiede ein. Aber eins ist dann doch anders als in manch anderem Land: Die Kirgisen sind offen und freundlich, wenn sie mit Fremden in Kontakt kommen – ein Relikt der jahrtausendealten Kontakte mit anderen und der Handelsbeziehungen entlang der Seidenstraße?
Die in westlichen Medien dominierenden Themen wie Islamisierung, Anwerbung von Kirgisen für den IS oder Brautraub gegen den Willen junger Frauen sind auf der Konferenz, aber auch in den Regionen vor Ort, offenbar kein Thema. Sicher gebe es Brautraub vereinzelt im muslimischen Süden, in den Bergen und unter den ungebildeten Leuten, sagen Dolmetscherin, Fotograf und das kirgisische EU-Team unisono, aber lachend. In Bischkek jedoch arrangiere so manche moderne Frau den Brautraub selbst. Etwa wenn die Eltern den Auserwählten nicht akzeptierten oder er die Aussteuer nicht aufbringen könne. Ein größeres Problem sei, dass die Eltern noch häufig den Ehepartner bestimmten. Aber: „Hier in Bischkek haben die Frauen die Hosen an. Wie schon in der UdSSR!" Die russischstämmige Dolmetscherin und der kirgisische Kameramann sind sich darin einig.
Bischkek gibt sich international
In der Tat fällt auf, wie viele Frauen sich in den öffentlichen Räten engagieren. Und auch, wie international Bischkek sich gibt: Neben russischen und chinesischen Restaurants sind amerikanische Cocktailbars und italienische Restaurants angesagt. Vor dem Nationalmuseum und unter der Staatsflagge tanzt die Jugend zu Smartphone-Musik auf Elektro-Skateboards. Vergnügungen, die sich nur wenige leisten können und Indikatoren für das Entstehen einer noch kleinen, aber schon sichtbaren Mittelschicht. Die Mitglieder der öffentlichen Räte auf Landesebene, in den Regionen und Gemeinden setzen sich auch für ein besseres Leben für alle Menschen in einem von Armut und noch immer von Clans und Korruption geprägten Land ein. Es gibt noch viel zu tun: Laut Bundesministerium für wirtschaftiche Zusammenarbeit und Entwicklung leben mehr als 30 Prozent der Kirgisen unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Das jährliche Bruttonationaleinkommen pro Kopf lag im Jahr 2015 bei nur 1.170 US-Dollar.
In der demokratischsten der zentralasiatischen Ex-Sowjet-Republiken zwischen Russland und China schaut man deshalb schon lange auf die EU – und nach Deutschland. Und umgekehrt. Erst 2016 war Angela Merkel als erster deutscher Regierungschef überhaupt dort. Manch ein westliches Medium kommentierte das mit Spott und Häme: Ob die Kanzlerin nichts Besseres zu tun habe? Doch Deutschland arbeitet bereits seit 1993 mit Kirgisistan zusammen und zählt mit 38 Millionen Euro allein für die Jahre 2015 und 2016 zu den größten bilateralen Geberländern.
Am Ende eines langen Konferenztages haben zwei Dutzend der öffentlichen Räte aus ihren Regionen berichtet. Noch sind viele Fragen offen: Wer soll die ehrenamtlichen Räte finanziell unterstützen? Wie können sie ihrer beratenden Funktion Behörden gegenüber mehr Gewicht verleihen? Wie wird die weitere Zusammenarbeit von Bischkek mit den Regionen in der Praxis aussehen?
Das in einen blauen Einband gebundene und mit EU-Sternen verzierte „Memorandum zur intensiveren Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen Räten aller Landesteile" dokumentiert die Konferenzergebnisse. Sie wurden beinah einstimmig unterzeichnet.
Noch kann es sich kaum jemand der 70 Angereisten aus den Regionen leisten, über Nacht im Plaza Hotel Bischkek zu bleiben und sich „als Teil der High Society zu fühlen", wie dessen Homepage es verspricht. Die öffentlichen Räte sehen in ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag für Kirgisistans Zukunft. Sie erhoffen sich mit Rückendeckung der Europäischen Union und Deutschlands mehr Einfluss auf die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung ihres Landes.
Die Reise fand auf Einladung des Gustav-Stresemann-Instituts statt.