Elf Städte des Riesenreichs Russland empfangen die Fans der Fußball-Weltmeisterschaft. Bei einer Reise in die vier WM-Städte Kasan und Königsberg, Moskau und Sankt Petersburg lernt man die Vielfalt des größten Landes der Erde kennen. Denn jenseits der Stadien gibt es viel zu entdecken.
In der Nacht ist Kasan am schönsten. Scheinwerfer beleuchten die weiße Moschee, die auf einem Hügel thront und wirkt wie der prächtige Palast eines Sultans aus Tausendundeiner Nacht. Die kleinen Halbmonde auf den schlanken, türkis schimmernden Minaretten scheinen fast den Sternenhimmel zu berühren. Doch schon vorher wohnt diesem Ort ein Zauber inne, wenn die Sommersonne tief steht und ihr warmes Licht hinter den Schäfchenwolken jenseits der Wolga hinüberblinzelt. Dann strahlen direkt neben der Moschee die blauen Zwiebeltürmchen der Kathedrale, und die Kuppel des Gotteshauses funkelt wie ein großes Goldstück. Vor Einbruch der Dämmerung erglüht auch der Backstein des Sujumbike-Turms, um den sich romantisch-tragische Legenden ranken wie andernorts das Efeu.
Exzentriker baut „Tempel aller Religionen"
Russische Touristen, die den Kultur-Mix der Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan erkunden, gibt es busgruppenweise. Doch jenseits der Landesgrenzen kennt kaum einer diese Millionenmetropole – nur jene Reisende, die mit der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs sind oder sich bei einer Flusskreuzfahrt die Wolga entlang schippern lassen. Doch wer gibt hier, wo Asien und Europa aufeinander stoßen und sich dabei vermischen, den Ton an? Gewinner und Verlierer scheint es keine zu geben. Und das ist eigentlich ganz gut so.
In einem Vorort von Kasan baut ein exzentrischer Philosoph und angeblicher Wunderheiler seit ein paar Jahren an einem „Tempel aller Religionen", dessen wilde Architektur immerhin 16 Glaubensrichtungen repräsentieren soll. Auf Straßenschildern wäre eine solche Vielfalt dann doch etwas unübersichtlich, sie sind mit Russisch und Tatarisch aber immerhin zweisprachig. Der Muezzin und der orthodoxe Priester singen ihre Gebete ebenfalls parallel, der eine in der neu erbauten Kul-Scharif-Moschee, der andere in der ein paar Jahrhunderte älteren Mariä-Verkündigungs-Kathedrale. Beide Gotteshäuser darf besichtigen, wer nicht allzu viel Haut zeigt – auch bei den Kleidervorschriften ist man sich einig. Der gesamte Komplex zählt heute zum Unesco-Weltkulturerbe.
Hinter den meterdicken Mauern der Zitadelle erwartet einen im Kasaner Kreml also eine Schatztruhe, prall gefüllt mit Kunstwerken. Manche, wie die Ikone von der „Gottesmutter von Kasan", können angeblich Wunder vollbringen: Nicht nur zu den Gottesdiensten, sondern den ganzen Tag über versammeln sich Gläubige zum Beten. Die Festung entpuppt sich aber auch als eine Burg der Geheimnisse und Geschichten. Denn viele Jahrhunderte lang lag hier entlang des Handelswegs von Asien nach Nordeuropa das Machtzentrum eines muslimischen Khanats.
Die Tataren waren dem Mongolen Dschingis Khan gefolgt und hatten westlich des Urals einen Staat gegründet, den man als Goldene Horde bezeichnet. Bis Iwan der Schreckliche im Jahr 1552 die Moschee zerstörte und alles dem Erdboden gleichmachte: Mit der Eroberung der Hauptstadt des Turkvolkes machte er sich zum ersten Zar, und es begann Russlands Weg zur Weltmacht. Mit ein wenig Fantasie spürt man noch heute einen Hauch der vergangenen Zeit – nicht nur, weil die damals zerstörte Moschee nun wiederaufgebaut ist. Der Einfluss des Orients zeigt sich auch in den Gesichtern der Passanten. Und in dem fantastischen Märchen, das man sich über den Sujumbike-Turm erzählt.
Turm als Zeichen der Freiheit
„Schön und klug zugleich soll Sujumbike gewesen sein: Niemand konnte der letzten Herrscherin von Kasan das Wasser reichen", berichtet Marsel Urazaev. Eigentlich ist er Deutschlehrer, doch in den Schulferien bessert er sein Gehalt als Reiseführer auf. Er weiß also, dass Sujumbike derart begehrenswert gewesen sein muss, dass Iwan der Schreckliche um ihre Hand anhielt, prompt einen Korb bekam, und eigentlich nur deswegen mit seinem Heer anrückte, um dem Wunsch Nachdruck zu verleihen. Sujumbike stellte eine Bedingung: Ihr ungeliebter Iwan musste innerhalb von sieben Tagen einen Turm bauen, größer und schöner als alle anderen weit und breit. Ob Zufall oder nicht: Heute hat der Sujumbike-Turm sieben Stockwerke – drei quadratisch und damit russisch, die darüber liegenden achteckig und damit tatarisch. Fräulein Sujumbike überlegte es sich am Ende übrigens anders und stürzte sich von ganz oben in den Tod. Historiker haben an dieser Geschichte zwar viel auszusetzen. Bis heute steht der Turm dennoch für den Freiheitswillen der Tataren.
Wer sich auf die Spuren jenes Volkes begibt, das heute noch etwa die Hälfte der Bevölkerung stellt, wird nicht zum Verzehr blutiger Fleischstücke gezwungen. Dass die berühmten Reiter tatsächlich rohe Brocken unter ihren Sätteln mürbe geritten und so das „Beefsteak Tatar" erfunden haben, ist noch so eine Legende. Nach einem Spaziergang durch die Straßen der Altstadt, in der sich viele Villen um eine Universität gruppieren, an der einst der junge Lenin agitierte, landet man bei den kleinen bunten Holzhäusern des Tatar Village. Hier türmen sich Fladen mit Kartoffeln, Fleischpasteten und gebackene Enten wie zum Beweis, dass die Tataren alles andere als Barbaren sind. Schöne Musik machen sie auch: Die alten Herren spielen im Quartett ihre Akkordeons, die jungen Bands rocken derweil lieber die Fußgängerzone (ja, sogar das gibt es hier).
„Kratze an einem Russen, und es kommt ein Tatar zum Vorschein", witzeln sie in Kasan. Die Kulturen haben sich vermischt, und abgesehen von ewiggestrigen Fundamentalisten hat niemand ein Problem mit dem brüderlichen Miteinander der Religionen. Wenn geheiratet wird, am liebsten natürlich im neu erbauten Hochzeitspalast am Ufer des Kasanka-Flusses, dann ist inzwischen ganz normal, dass eine muslimische Braut und ein christlich-orthodoxer Bräutigam Händchen halten oder umgekehrt. Die gemeinsamen Kinder dürfen am Weihnachtsbaum hoffen, dass Väterchen Frost mit seiner Enkelin Snjegurotschka endlich die Geschenke bringt. Diese heidnischen Gestalten sind sogar im Kreml erlaubt – im Bollwerk des Christentums, wo 2005 die neue Moschee eingeweiht wurde.
Auf der anderen Flussseite huldigen sie derweil dem Fußballgott. Die Kasan Arena ist der neueste Tempel der sportbegeisterten Stadt. In der Vorrunde der Fußball-Weltmeisterschaft trifft die deutsche Mannschaft dort auf das Team aus Südkorea. Während in anderen Stadien oft der russische Adler zu sehen sein wird, ist hier ein geflügelter Schneeleopard das Symbol des Austragungsortes: Wer in Kasan lebt, blickt eben schon von Asien auf Europa.
Sankt Petersburg ist das „Venedig des Nordens"
Neue Perspektiven gibt es auch an anderen Orten. Inzwischen heißt die alte ostpreußische Stadt Königsberg offiziell Kaliningrad, doch die deutschen Spuren sind bis heute allgegenwärtig. Oder besser gesagt wieder: Die Exklave Russlands zwischen Polen und Litauen besinnt sich auf ihr reiches kulturelles Erbe, statt es wie früher aus politischen Gründen zu ignorieren. Man trinkt im Alltag „Ostmark"-Bier und kauft beim „Königsbäck" ein, doch auch die im Krieg stark zerstörte Stadt feiert inzwischen wieder ihre Geschichte. Der Dom wurde wieder aufgebaut und ist nun eine von drei Konfessionen genutzte Kirche sowie eine Konzerthalle fürs Orgelspiel. Die Stadttore und einige historische Gebäude wurden restauriert. Und inzwischen sind die beliebtesten Ausflugsziele der Königsberger wieder wie anno dazumal das königliche Seebad Cranz und das Volksbad Rauschen an der Bernsteinküste. Preußisch, deutsch, sowjetisch, russisch: Die Stadt Königsberg und ihr Umland sind von allem ein bisschen.
Eine andere Stadt dagegen hat sich schon immer nach Europa orientiert. Man rühmt sie als das „Venedig des Nordens" und ist am Ende doch überrascht, was für eine Pracht einen am Finnischen Meerbusen erwartet. Sankt Petersburg strahlt heute wieder im alten Glanz der Zarenmonarchie. Restauriert wurde die Blutskirche mit ihren bunten Zwiebeltürmen, in die Paläste ist die Kunst eingezogen. Die Eremitage – neben Louvre und Prado das bedeutendste Kunstmuseum Europas – gilt als Schatzkammer des nationalen Stolzes: In der ehemaligen Residenz der Zaren sind die großen Namen ausgestellt, darunter Raritäten von Michelangelo und da Vinci. An anderen Stellen geht es nicht nur in den „weißen Nächten" wilder und überraschend unfeudalistisch zu. Im privaten Erarta-Museum sind auch kritische Kunstwerke zu sehen, das Zentrum „Pushkinskaja-10" ist ein Spielplatz für Rebellen.
„Nach Moskau! Nach Moskau!" Die „Drei Schwestern" aus der Komödie von Anton Tschechow, uraufgeführt am Künstlertheater unweit der Moskauer Flaniermeile Twerskaja, träumen derweil von der großen Metropole. Alles andere in Russland war eben Provinz. Und heute? Ist Moskau immer noch eine faszinierende Stadt, eine Mega-City mit reichlich Ecken und Kanten. Aber auch, wenn man mal Putins Politik beiseitelässt, mit überraschend großem Herz.
Moskau ist die größte Metropole Europas: Im Stadtgebiet leben zwölf Millionen Menschen, in der Agglomeration gut 20 Millionen. Dass sie trotzdem relativ wenige Touristen aus dem Westen für einen Städtetrip erkunden, liegt an der strengen Visumspflicht: Russland macht es Reisenden nicht gerade einfach.
Doch einmal vor Ort präsentiert sich Moskau weder kalt noch sowjetisch-grimmig. „Irgendwie sind die Russen anders als wir Deutsche", scherzt Oliver Eller, Direktor des Hotels „Baltschug Kempinski". „Sie haben ein doppelt so großes Herz. Leider zeigen sie es einem erst, wenn man sie etwas besser kennengelernt hat."
Das „Baltschug" bringt mit dem Café Kranzler Berliner Flair von der Spree an die Moskwa, serviert aber auch edelste russische Spezialitäten. Wer will, kann sich durch die Köstlichkeiten einer dreistufigen Etagère probieren oder dreierlei Wodka mit passenden Kanapees verkosten. Das Hotel liegt direkt gegenüber der Basiliuskathedrale: Das Gotteshaus mit seinen dämmerigen Kapellen, die heute wieder von Gläubigen aufgesucht werden, und den weithin sichtbaren bunten Kuppeln ist der architektonische Höhepunkt der Stadt. Besonders märchenhaft wirkt die Kirche nachts, wenn sie im Scheinwerferlicht leuchtet.
Wer Moskau kennenlernen, verstehen und schätzen will, sollte die Stadt von hoch oben betrachten, ihr prunkvolles Herz bestaunen, und auch die schillernde Unterwelt erkunden. Den Blick aufs Häusermeer gibt es zwar auch von einer der schicken Dachbars im Zentrum. Dort rollen die von Oligarchen großzügig an ihre Entourage verteilten Rubel: In vermutlich keiner anderen Stadt auf der Welt lässt sich ganz unkompliziert ganz schnell ganz viel Geld ausgeben. Doch die Aussicht gibt es auch bodenständiger, viel sympathischer, und ganz umsonst. Am westlichen Ufer der Moskwa liegen hoch über dem Fluss die Sperlingsberge.
Von dort sieht man die „Sieben Schwestern", jede von ihnen ein Kind der Stalin-Ära. Die sieben imposanten Wolkenkratzer mit pompösen Zuckerbäckerhütchen erzählen vom neuen Selbstbewusstsein der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Ferne leuchten die verglasten Spiegeltürme der Neuzeit, aber auch die Kuppeln unzähliger Kirchen und Klöster. Einem direkt zu Füßen liegt die Kathedrale des Sports: Das Luschniki-Stadion wurde für die Olympischen Spiele 1980 errichtet. Hier finden das Eröffnungsspiel und das Finale der Fußball-WM statt; die deutsche Elf tritt in der Vorrunde gegen Mexiko an.
Der Kreml, die über dem Fluss Moskwa thronende historische Festung, ist heute der Arbeitsplatz des Präsidenten. Hinter den roten Mauern residierte einst mit dem Zar der weltliche und mit dem Metropoliten der geistige Herrscher. Vor 400 Jahren beeindruckte man das Volk mit der riesigen Zarenkanone, auch wenn sie mit 40 Tonnen viel zu groß und zu schwer war, um je benutzt werden zu können. Ganz und gar keine potemkinsche Vision sind dagegen die Kathedralen, gekrönt mit blitzenden Kuppeln und Kreuzen. Die Rüstkammer zeigt Gold und Edelsteine.
Metro-Bahnhöfe sind Paläste fürs Volk
Schmuck ist auch die Moskauer Unterwelt: Die Bahnhöfe der Metro sind Paläste fürs Volk. Viele U-Bahn-Stationen zieren Marmorsäulen und wuchtige Kuppeln, Kronleuchter und wie Kirchenfenster leuchtende Buntglasscheiben. Mosaike, Malereien und Skulpturen zeigen Episoden aus der Geschichte, idealisieren das einfache Leben auf dem Land, die Kämpfer der Oktoberrevolution und die Leistung der Kosmonauten im All. Moskaus Hipster verehren heute aber nicht mehr die Helden von gestern, sondern werkeln an der Verwandlung alter Industrieareale. Kunst findet man in einer ehemaligen Weinfabrik am Kursker Bahnhof und in einem früheren Großrestaurant am Gorkij-Park. Die prächtige Schokoladenfabrik „Roter Oktober" ist nun voller Pop-Up-Shops und Cafés.
Moskau, ach was, das ganze große Land birgt Geheimnisse wie die legendären russischen Matrjoschkas: In einer Puppe steckt noch eine Puppe steckt noch eine Puppe … Wer denkt, alles gesehen zu haben, findet immer wieder etwas Neues.