Emeran Mayer zählt zu den international renommiertesten Gastroenterologen. Im Interview spricht er über die Verbindung zwischen Gehirn und Darm sowie deren Auswirkungen, welchen er auch in seinem Buch „Das zweite Gehirn" auf den Grund geht.
Herr Mayer, in Ihrem aktuellen Buch „Das zweite Gehirn" befassen Sie sich mit der Verbindung zwischen Darm und Gehirn. Wie sind Sie auf diese Zusammenhänge gestoßen?
Ich habe mich in meiner Laufbahn schon früh für die Interaktionen zwischen Gehirn und Körper interessiert. Dieses Interesse habe ich während meiner medizinischen Ausbildung verfolgt, indem ich meine Doktorarbeit über Studien zu Interaktionen zwischen Gehirn und Herz anfertigte und später die gleichen Fragen auf Gehirn-Darm-Interaktionen anwandte. Als ich Gastroenterologe wurde, sprach fast jeder Patient, den ich sah, über Symptome, die stark auf Gehirn-Darm-Interaktionen hindeuteten. Um die Mechanismen besser zu verstehen, die diesen klinischen Beobachtungen unterliegen, habe ich viele Jahre experimentelle Studien durchgeführt, die bezweckten, die biologische Basis von Bauchgefühlen (wie der Darm mit dem Gehirn kommuniziert) und die Darmreaktionen (wie das Gehirn mit dem Darm kommuniziert) zu verstehen. Wir waren die erste Gruppe, die Gehirnbildstudien bei Menschen anwendete, um zu verstehen, wie Signale des Darms die Gehirntätigkeit beeinflussen. In den letzten fünf Jahren haben wir auch die Darmflora in unsere Studien über Gehirn-Darm-Interaktionen integriert.
Wieso wird der Darm als „zweites Gehirn" bezeichnet?
Einerseits hat der Darm sein eigenes Nervensystem, das sogenannte enterische Nervensystem, auch „Bauchgehirn" genannt – eingeschobene Nervennetze zwischen den Darmschichten. Als dieses System erstmals entdeckt wurde, nannten Forscher es das zweite Gehirn und einer der Pioniere auf diesem Gebiet, Dr. Michael Gershon, hat ein Buch für die breite Öffentlichkeit mit dem Titel „Das zweite Gehirn" geschrieben. Interessant ist die Entwicklung der Gehirn-Darm-Interaktionen bei den ersten Meerestieren (Hydra), die vor ungefähr 500 Millionen Jahren lebten: Im Wesentlichen bestanden diese Tiere aus einer Verdauungsröhre mit einem umgebenden Nervennetz, welches später zum enterischen Nervensystem wurde, das alle Darmfunktionen regelte. Viel später entwickelten Tiere das große Gehirn, das dafür zuständig wurde, alle Organe im Körper zu koordinieren und sie an Umwelteinflüsse anzupassen. Um es korrekt zu sagen: Tatsächlich ist unser Gehirn das zweite Gehirn, das sich erst viel später nach dem enterischen Nervensystem im Darm entwickelte.
Andererseits kann man unseren Darm und sein Nervensystem als einen Pol der komplexen Gehirn-Darm-Achse betrachten – mit dem ersten Gehirn an einem Ende und dem enterischen Nervensystem und dem Darm-Mikrobiom am anderen Ende. Zusammen fungieren Gehirn und Darm als komplexe Regulierungssysteme, die viele verschiedene Funktionen koordinieren und die eng miteinander kommunizieren. Das war der Grund für den Verlag der deutschen Version meines Buchs, den Darm und sein Nervensystem als „Das zweite Gehirn" zu bezeichnen.
Welche anderen Funktionen als die Verdauung von Nahrung erfüllt der Darm?
Offensichtlich ist die Rolle in der Verdauung, Absorption und Eliminierung von unverdaulichen Bestandteilen eine primäre Funktion des Darms. Jedoch betrachten wir ihn auch als ein Hauptsinnesorgan, das ausgebreitet die Größe eines Basketballfeldes besitzt, und voll mit mehrfachen Sensoren und Empfängern ist, die darauf spezialisiert sind, Signale von unserem Essen und von unseren Darmbakterien zu entdecken. Der Darm enthält außerdem den größten Teil unseres Immunsystems, 150 Millionen Nervenzellen (das enterische Nervensystem), und das größte endokrine Organ mit mindestens 40 unterschiedlichen Hormonen und Neurotransmittern, die in Spezialzellen im gesamten Magen-Darm-Trakt gelagert sind. Die Wechselwirkung all dieser Systeme im Darm und der Einfluss der Darmbakterien auf diese Interaktionen lässt den Darm zum komplexesten Organ neben unserem Gehirn werden. Was im Darm und den Metaboliten, die von den Darmbakterien produziert werden, los ist, beeinflusst jeden anderen Teil unseres Körpers, auch das Gehirn.
Wie kommunizieren Gehirn und Darm miteinander?
Diese beiden Organe kommunizieren in beide Richtungen miteinander: Signale des Gehirns erreichen den Darm über das vegetative Nervensystem und Signale, die im Darm gebildet werden, erreichen das Gehirn über den Vagusnerv und über Hormone, entzündliche Moleküle und Metaboliten, die von Mikroben gebildet oder freigesetzt werden. Der beste Weg, diese Kommunikation zu verstehen, ist, sie als einen kreisförmigen Prozess der Kommunikation zu betrachten, die an einem Ende der Gehirn-Darm-Achse startet, das andere Ende erreicht und wieder Feedback zu seinem Ursprung zurücksendet. Kommunikation zwischen dem Darm und dem Gehirn bestehen seit mindestens 500 Millionen Jahren, und man könnte das Gehirn und den Darm fast wie untrennbare Teile eines komplexen Regulationssystems in unserem Körper betrachten.
Wie genau beeinflusst der Darm unsere Stimmung und unsere Entscheidungen?
Wir sind alle vertraut mit allgemeinen Erfahrungen wie Übelkeit, Bauchschmerzen, einer schrecklichen Lebensmittelvergiftung oder einer Magen-Darm-Entzündung. Wir sind auch alle vertraut mit Empfindungen wie Hunger und dem Sättigungsgefühl und mit Bauchkrämpfen, wenn wir wütend sind oder Schmetterlingen im Bauch, wenn wir Angst haben. Patienten mit Reizdarmsyndrom (RDS) erleben solche Empfindungen in einer übertriebenen Form, und viele Patienten mit chronischer Darmentzündung leiden auch an Angstzuständen, Depressionen oder Konzentrationsstörungen. Alle diese Gefühle werden von Signalen aus dem Darm erzeugt. Wenn es um Depression und Angst geht, verlassen wir uns derzeit hauptsächlich auf Experimente mit Mäusen, die gezeigt haben, dass Depression und Angst von dem Darm-Mikrobiom abhängig sind und dass eine Transplantation von Darmbakterien eines Tiers in ein anderes von der Übertragung von Charakterzügen des Spendertiers begleitet werden kann.
Wieso haben wir Menschen eine unterschiedliche Zusammensetzung von Darmbakterien?
Die Darm-Mikroben, die in unserem Magen-Darm-Trakt leben, bilden ein komplexes Ökosystem, das aus 1.000 Trillionen Mikroorganismen, 1.000 Arten und unzähligen Stämmen besteht. Sie bilden verschiedene Gemeinschaften in unterschiedlichen Regionen des Magen-Darm-Traktes mit komplexen Interaktionen zwischen sich und unserem Magen-Darm-Trakt. Dieses Ökosystem wird in den ersten drei Lebensjahren gebildet, aber dann bleibt es für den Rest unseres Lebens recht stabil, außer wenn katastrophale Ereignisse wie Krebs den Großteil des Ökosystems auslöschen.
Welchen Einfluss hat das Mikrobiom auf Menschen?
Gestützt auf aktuellem Wissen hat das Darm-Mikrobiom beträchtlichen Einfluss auf unsere Gesundheit und scheint eine wichtige Rolle bei verschiedenen Krankheiten zu spielen. Die wahrscheinlich am besten dokumentierten Wirkungen auf Menschen beziehen sich auf Stoffwechsel, Adipositas und Unterernährung. Es gibt auch gute Beweise, dass Interaktionen zwischen Darmbakterien und dem Darmimmunsystem während der ersten Lebensjahre auch eine wichtige Rolle bei der Entstehung vieler Autoimmunerkrankungen spielen. Zu guter Letzt gibt es auch Beweise – primär durch Studien an Mäusen – dass die Darmbakterien die Gehirnfunktion beeinflussen können, insbesondere emotionale Prozesse.
Bei einem Test wurden einer dünnen Maus Bakterien einer dicken Maus eingepflanzt – die Maus wurde auch dick. Ebenso wurde eine unglückliche Maus durch die richtigen Bakterien glücklich. Funktioniert das auch bei Menschen?
Bis jetzt sind diese eindrucksvollen Ergebnisse von Tier-Modellen noch nicht bei Menschen reproduziert worden. Eine mögliche Erklärung dafür liegt in den dramatischen Unterschieden bezüglich Gehirngröße, Komplexität und Funktion. Jedoch haben wir in einer unserer eigenen Studien demonstriert, dass die regelmäßige Einnahme eines probiotischen Drinks eine nachgewiesene Wirkung auf emotionale Stromkreise im Gehirn hat, was in einem Gehirnbildgebungsverfahren entdeckt werden konnte. Jedoch wurden diese Gehirnänderungen nicht von einer emotionalen Änderung begleitet.
Wie wirken sich schlechte frühkindliche Erfahrungen auf den Dialog zwischen Darm und Gehirn aus?
Die ersten drei Lebensjahre, und wahrscheinlich die Zeit während der Schwangerschaft, sind die wichtigste Phase, während der die Zusammensetzung und die Funktion der Darmbakterien programmiert werden, um während des restlichen Lebens recht stabil zu bleiben. Einflüsse auf das Darm-Mikrobiom sind unter anderem: Stress während der Schwangerschaft, Art der Entbindung, Qualität und Dauer des Stillens, früher Lebensstress, Belastung durch Antibiotika oder Drogen.
Es gibt Menschen, die in Stressphasen unter zyklischem Erbrechen leiden. Wie kann man dieses Phänomen behandeln?
Bei den meisten Patienten kann das sogenannte zyklische Erbrechen-Syndrom einfach durch die klinische Präsentation diagnostiziert werden. Es kann bei zwei von drei Patienten mit einer Kombination von zentral wirkenden Medikamenten und Strategien der kognitiven Verhaltenstherapie inklusive Stress-Management und Bauchatmung erfolgreich behandelt werden.
Und wie kann man das Reizdarm-Syndrom erfolgreich behandeln?
Bei den meisten Patienten kann man die Symptome einfach in den Griff bekommen mit einer Kombination aus diätischer Empfehlung (zum Beispiel vermehrter Verzehr von fermentierten Lebensmitteln und Eliminations-Diät), kognitiven Verhaltensstrategien und Medikamenten. Ein wesentlicher Bestandteil der Therapie ist die Aufklärung des Patienten über die Rolle der Gehirn-Darm-Kommunikation in der Entstehung von Symptomen und die Bestätigung, dass es sich dabei um biologische und nicht nur psychologische Mechanismen handelt. Die Kombination dieser Strategien bewirkt bei zwei von drei Patienten mit schwachem bis mittelschwerem Reizdarmsyndrom eine erfolgreiche Reduzierung der Symptome.
Wie sieht eine optimale Ernährung für einen gesunden Darm aus?
Die Antwort ist sehr einfach: Die optimale Ernährung ist eine weitgehend pflanzenbasierte Nahrung, die eine hohe Menge von Pflanzenfasern bereitstellt, mit einem geringen Anteil Fleisch, vorwiegende Fisch und Geflügel. Die Nahrung sollte reich an pflanzlichen Faserstoffen, entzündungshemmenden Substanzen wie Kurkuma und an Polyphenolen sein, die etwa in hohen Mengen Olivenöl, Rotwein, Beeren, Nüssen und Körnern enthalten sind, aber kaum in tierischen Fetten, rotem Fleisch und auch kaum in industriell verarbeiteten Lebensmitteln sowie Nahrungsmitteln, die viel Fett und Zucker enthalten.
Im Allgemeinen gilt ein regelmäßiger Verzehr von natürlich fermentierten Lebensmitteln wie Sauerkraut und fermentierten Milchprodukten – Produkte mit Milchsäurebakterien, etwa Sauermilch, Joghurt und Kefir – als gesund, obwohl die wissenschaftlichen Daten zur Unterstützung dieser Empfehlung schwach sind.
Welche Fakten zur Verbindung zwischen Gehirn und Darm haben Sie am meisten überrascht?
Ich war über diese Verbindung überrascht, als die Daten der Experimente mit Mäusen erstmals veröffentlicht wurden, und ganz ehrlich glaubte ich das nicht. Ich war genauso überrascht, als unsere eigenen Studien einen Effekt der probiotischen Aufnahme auf die Gehirnaktivität zeigten. Insgesamt bin ich am meisten von der Tatsache beeindruckt, dass eine gesundheitsfördernde Diät für die Darm-Mikroben und die Darmgesundheit optimal ist und sich positiv auf viele Aspekte der Gesundheit auswirkt, einschließlich auf die Gesundheit des Gehirns.