101 Menschen kamen am 3. Juni 1998 beim ICE-Unglück in Eschede in Niedersachsen ums Leben. Es war das schlimmste Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein gebrochener Radreifen hatte den Schnellzug entgleisen lassen, der gegen eine Brücke krachte und zerschellte.
Es war das schwerste Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sowie aller Hochgeschwindigkeitszüge weltweit. Doch als am 3. Juni 1998 im niedersächsischen Eschede der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen" entgleiste und an einer Brücke zerschellte, bekam der Zugführer davon zunächst gar nichts mit. Kurz vor Eschede hatte er lediglich einen kurzen Ruck verspürt, gab er später zu Protokoll, die Leistung sei abgefallen und anschließend die automatische Bremsung eingeleitet worden. Die Instrumente auf dem Führerstand zeigten eine Störung an. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass sich durch den Aufprall des Zuges auf die Brücke die Wagen vom Triebkopf gelöst hatten. Er versuchte noch, die ausgefallene Stromversorgung wiederherzustellen, als ihn der Fahrdienstleiter des Bahnhofs Eschede über das Unglück per Funk informierte: „Du bist alleine vorbeigefahren. Du bist entgleist."
Für die Anwohner des kleinen Ortes in der Nähe von Celle hatte sich der Aufprall angehört, „als ob ein Lastwagen eine riesige Ladung Pflastersteine abkippt", wie sich später Joachim Gries erinnerte, der für die örtliche Zeitung als Lokalredakteur tätig war. Kurz danach verdunkelte eine riesige Staubwolke den Himmel, doch ansonsten war es beängstigend still. „Ich wusste sofort, da ist was passiert", schilderte Gries im „Stern" die ersten Momente nach der Katastrophe. Der Reporter rief seine Kollegen an und machte sich auf zur Unfallstelle, um von dort aktuell zu berichten. Doch als er am Ort des Geschehens angekommen war, und dort das Trümmerfeld aus Stahl, Plastik, Blech und Beton sah, ließ er die Kamera im Auto liegen. Sein einziger Gedanke: „Hier kannste nicht fotografieren, hier musste zupacken."
Als wenig später die ersten Rettungskräfte eintrafen, bot sich ihnen ein Bild des Schreckens: Die ersten beiden Wagen waren noch relativ unversehrt geblieben, doch der dritte Wagen, der mit Tempo 198 den Brückenpfeiler gerammt hatte, lag völlig zerschmettert im Gleisbett. Der vierte Wagen hatte sich überschlagen und war eine Böschung hinabgestürzt, der fünfte war von fallenden Brückenteilen in der Mitte auseinandergerissen worden, der sechste lag komplett unter den Trümmern der Brücke begraben. Alle nachfolgenden Wagen hatten sich durch den Aufprall wie eine Ziehharmonika zusammengeschoben und waren ebenfalls schwer beschädigt. Vor allem der Speisewagen war von den herabstürzenden Trümmern teilweise auf eine Höhe von nur noch 15 Zentimetern gequetscht worden.
Waggon auf Höhe von 15 Zentimetern gestaucht
101 Menschen kamen an diesem schwärzesten Tag der deutschen Eisenbahngeschichte ums Leben, darunter zwölf Kinder; weitere 88 wurden schwer verletzt. Als der Zug mit knapp 200 Stundenkilometern kollidierte, was einem ungebremsten Sturz aus 160 Metern Höhe entspricht, also aus dem 40. Stockwerk eines Hochhauses, waren die meisten Opfer sofort tot. Sie waren auf dem Weg zur Kur gewesen oder zur Fortbildung, einige hatten sich Karten für das Musical „Phantom der Oper" besorgt, zwei Passagiere befanden sich sogar auf Hochzeitsreise. Christl Löwen aus dem bayerischen Vilshofen und ihre Tochter Astrid wollten in den Urlaub nach Hamburg, für die Mutter war es der erste seit vielen Jahren. Ihrem Mann Heinrich Löwen hatten sie bei der Abfahrt noch gesagt: „Wir fahren mit der Bahn, das ist sicherer."
Insgesamt befanden sich 287 Personen an Bord des ICE, der damit nur knapp zur Hälfte besetzt war. Das verhinderte eine noch größere Katastrophe. Ebenso wie die Tatsache, dass der Zug auf der Fahrt von München nach Hamburg an diesem Tag eine Minute Verspätung hatte und der Gegenzug eine Minute zu früh dran war. Eigentlich hätten sich beide Züge in Eschede treffen sollen. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie hoch die Opferzahl in diesem Fall wohl gewesen wäre.
Ursache des Unfalls war ein gebrochener Radreifen aufgrund von Materialermüdung. Etwa sechs Kilometer vor Eschede war ein Radreifen an einem Rad der dritten Achse des ersten Wagens gebrochen, hatte sich abgewickelt und sich durch den Boden eines Abteils zwischen zwei Sitzen in diesem Wagen gebohrt. Dort blieb er stecken. Fahrgäste informierten den Zugbegleiter, doch niemand zog die Notbremse – der Zug raste weiter. Es wackelte zwar gehörig und machte „so ein mahlendes Geräusch, als ob der Zug über Steine gefahren wäre", wie es eine Überlebende dem „Stern" beschrieb, weil der abgesprungene Radreifen die Betonschwellen des Gleisbetts zerkratzte. Aber zunächst hielt die Radscheibe auch ohne den Radreifen noch stabil die Spur.
Als der Schnellzug jedoch etwa 200 Meter vor der Brücke über die erste von zwei aufeinanderfolgenden Weichen fuhr, prallte der noch immer im Zugboden steckende Radreifen gegen den Radlenker der Weiche und riss diesen heraus. Die Räder entgleisten und stellten die kurz dahinter folgende zweite Weiche um, sodass die hinteren Achsen des dritten Wagens auf ein anderes Gleis gelenkt wurden. Dieser schleuderte gegen die Pfeiler der Brücke und brachte diese zum Einsturz. Auch zwei Bahnarbeiter, die unter der Brücke standen, wurden dabei getötet.
Gebrochener Radreifen
Dass es der Bruch des Radreifens war, der den Unfall herbeiführte, stand danach relativ schnell fest. Die entscheidende Frage war jedoch, wie es dazu kommen konnte. Ursprünglich war der ICE 1 mit Vollrädern ausgestattet gewesen, doch es hatte sich herausgestellt, dass es unter bestimmten Umständen aufgrund von ungleichmäßiger Abnutzung, Materialermüdung und Unwuchten zu Resonanz-Erscheinungen kommen konnte. Vor allem in den Speisewagen klirrten die Gläser und schepperte das Geschirr: das sogenannte „Bistro-Brummen". Deshalb wurde umgerüstet und das System der gummigefederten Räder übernommen, das bereits bei einigen Straßenbahnen eingesetzt wurde. Niemand konnte jedoch sagen, wie solche Räder auf eine längere Belastung mit Geschwindigkeiten von über 200 Stundenkilometern reagieren würden.
Noch im November 1991 hatte das Bundesbahn-Zentralamt erklärt, es bräuchte längere Untersuchungen, zumal kurz darauf auch noch ein Riss an einem getesteten Radreifen festgestellt wurde. Trotzdem kamen die zuständigen Ingenieure im Sommer 1992 überein, die bisherigen Versuche als ausreichend anzusehen. Das Risiko könne „nach dem derzeitigen Kenntnisstand getragen werden".
Warnungen über Radreifenbrüche eines hannoverschen Straßenbahnbetriebs sowie des Fraunhofer-Instituts wurden ignoriert. Hinzu kamen Wartungsfehler. Zwar wurden die Räder anfangs noch per Ultraschall kontrolliert, doch auch diese Kontrollen waren nicht in der Lage, Risse im Inneren zu erkennen, obwohl gerade dort die Schwachstelle der neuen Räder lag. Später erfolgten Inspektionen lediglich noch mit Leuchtstofflampen, so auch am Tag vor der Katastrophe von Eschede. Dabei übertraf der betroffene Radsatz gleich in mehreren Parametern die zugelassenen Grenzwerte. Trotzdem war er nicht ausgetauscht worden, weil darin kein Sicherheitsrisiko erkannt wurde.
Alle Verfahren wurden eingestellt
Verurteilt wurde dafür am Ende niemand. Bereits 1999 war das Verfahren gegen den einzigen überlebenden Zugbegleiter eingestellt worden – er habe zwischen der Wahrnehmung von Geräuschen und dem Aufprall nicht ausreichend Zeit gehabt, um das Ausmaß des Problems zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Später standen vor dem Landgericht Lüneburg ein Abteilungspräsident der Deutschen Bahn, ein technischer Bundesbahnoberrat sowie ein Betriebsingenieur des Herstellerwerks der Radreifen vor Gericht, denen vorgeworfen wurde, die Räder nicht ausreichend getestet zu haben. Auch dieses Verfahren wurde 2003 gegen Zahlung von jeweils 10.000 Euro eingestellt, weil aus Sicht der Richter nicht abschließend geklärt werden konnte, ob die Angeklagten die Bruchgefahr der Radreifen hätten erkennen müssen.
Die „Süddeutsche Zeitung" zitierte Jahre später Michael Gleissner, dessen Frau und Tochter in Eschede umgekommen waren, der verbittert feststellte: „Wenn genügend Leute beteiligt sind und jeder nur ein wenig schlampt, dann ist scheinbar keiner Schuld." Ermittlungen gegen den Konzern Deutsche Bahn gab es keine, weil in Deutschland nur natürliche Personen strafrechtlich belangt werden können, aber keine juristischen Personen wie die DB.