St. Moritz im Sommer – das ist mehr als Kaviar und Schickimicki. Wer mit Boutiquen und Nobelrestaurants nichts anfangen kann, findet in den Bergen eine entspannte Wanderkulisse. Noch dazu in einer überaus hundefreundlichen Region.
Als die Sonne allmählich hinter den Bergen verschwindet, wirkt Gisela Rümelin glücklich. Doch noch ein schönes Ende an einem Tag, an dem es gestürmt, geregnet, gehagelt und auf dem Gipfel sogar ein paar Minuten geschneit hat – und das im Hochsommer. „Aber jetzt ist wieder alles gut", sagt die 65-jährige Urlauberin, während sie über das regennasse Gras stapft. Der klare See, der blutrot gefärbte Himmel, die fast schon gespenstische Ruhe: All das schätzt Rümelin an dieser Gegend, in die sie zusammen mit ihrem Mann Frank (59) und Labrador Cookie (11) schon seit über 30 Jahren fährt.
Die Rede ist von St. Moritz, genauer gesagt von der Schweizer Region Engadin im Kanton Graubünden. Viele haben diese Gegend vor allem als Wintersport-Mekka der Reichen und Schönen im Kopf. Doch auch im Sommer, wenn die Kaviardosen im Vorratsschrank bleiben, hat St. Moritz einiges zu bieten, nämlich: Natur. Und das nicht zu knapp. Besonders Wanderfreunde kommen in den schneefreien Monaten auf ihre Kosten – zumindest nach ein paar Tagen, wenn sie sich an die dünne Bergluft gewöhnt haben. Dann ist die Auswahl groß: 580 Kilometer Wanderwege führen an Seen entlang, über Schluchten, Gletscher und Bergwiesen.
Auch Gisela und Frank Rümelin sind zum Wandern gekommen. „Wenn ich oben auf dem Berg stehe, geht mir das Herz auf", sagt Gisela Rümelin. „Die Weite, die Landschaft, die Ruhe – das macht einfach Spaß." Fast klingt es so, als werde das Ehepaar aus Heilbronn vom Schweizer Fremdenverkehrsamt bezahlt. Aber dann zählen die beiden auch ein paar kritische Punkte auf: die neureichen, goldbehangenen Touristen in St. Moritz, die überteuerten Designerläden, die spärlich gesäten Lebensmittelgeschäfte. „Schön finde ich St. Moritz jetzt nicht", meint Rümelin. „Zumindest von der Architektur her. Und ziemlich teuer ist die Gegend obendrein, Schweizer Preise halt."
580 Kilometer Wanderwege stehen zur Auswahl
Nur: All das ist den beiden egal, denn sie zieht es in die Landschaft. Cookie, der Labrador, hechelt schwanzwedelnd hinterher – auch er muss sich erst einmal an die Bergluft gewöhnen. Auf einer „Normalhöhe" von 1.800 Meter spazieren zu gehen, das kennt er aus der Heimat nicht. Und das ist schließlich erst der Anfang. Wenn Frauchen und Herrchen die beste Aussicht genießen wollen, fahren sie auf den 3.303 Meter hohen Corvatsch. Da hängt die Hundezunge gleich noch etwas weiter aus der Schnauze.
Immerhin, für Bergbahnen müssen die Urlauber nicht extra bezahlen. Spätestens seit die Schweizer um Touristen bangen, weil der Franken so stark ist, haben sie sich einige Extras einfallen lassen. In diesem Fall: die kostenlose Bergbahnkarte. Wer mindestens zwei Nächte im Engadin übernachtet, kommt durch dieses Angebot nicht nur auf den Gipfel, sondern kann auch Busse und Bahnen nutzen. Dort darf natürlich auch Cookie mitfahren.
Der braune Labrador ist auf den Wanderwegen nicht alleine. Die ganze Region gilt als überaus hundefreundlich. In den meisten Hotels sind Vierbeiner (gegen eine Zusatzgebühr) erlaubt. Sie dürfen im Frühstücksraum Platz nehmen, in Bergbahnen mitfahren und auf den blumengesäumten Wiesen frei herumlaufen. Auch gegen die „Überdüngung" der Natur haben sich die Verantwortlichen etwas einfallen lassen: An vielen Stellen stehen Mülleimer parat, an denen die passenden Hundekot-Tüten hängen. Schweizer Ordnung eben.
„Ich habe meinen Golden Retriever immer überall mitgenommen", sagt Werner Zinsli, ein langjähriger Bergführer im Engadin. „Für Hunde ist das hier das Paradies. Die können herumlaufen, wo sie wollen, Sträucher beschnuppern und Murmeltieren hinterherjagen." Für Letztere bestünde aber keine Gefahr, beruhigt Zinsli. „Die sind viel zu flink. Da können die Hunde noch so rennen. Wenn sie ankommen, sind die Murmeltiere längst über alle Berge."
Ob mit Hund oder ohne – Zinsli kennt die Wünsche der sommerlichen Wanderurlauber. Die meisten seien von der Natur erst einmal überwältigt. Andere wollten direkt am ersten Tag richtig loslegen. Doch davon rät der erfahrene Guide ab. „Man muss sich an die Höhe erst gewöhnen. Ich empfehle eine lange Wanderung erst dann, wenn sich die Leute einigermaßen akklimatisiert haben." Überhaupt sollte man vor lauter Freude nicht einfach draufloslaufen. „Eine gewisse Vorbereitung gehört schon dazu", mahnt Zinsli. „Wir sind hier schließlich in den Alpen."
Das Wetter kann sich innerhalb von Minuten ändern
Weil das Wetter schnell umschlägt, rät der Bergführer zu einem gut bestückten Rucksack: Neben ausreichend Wasser und Snacks sollten sich darin ein Pullover und eine Regenjacke befinden – auch im Hochsommer. „Das Wetter kann sich hier innerhalb von 30 Minuten komplett ändern", sagt Zinsli. „Ich habe schon Kinder gesehen, die nur in T-Shirt und kurzer Hose auf dem Gipfel standen. Plötzlich sind sie klitschnass geworden und mussten im kalten Wind nach Hause gehen." Auf der anderen Seite sollte man – ebenfalls wegen der Höhe – nie auf Sonnencreme, Sonnenbrille sowie eine Kopfbedeckung verzichten.
In Punt Muragl, der Talstation des 2.454 Meter hohen Muottas Muragl, erscheinen die Urlauber gut ausgerüstet. In der Bergbahn-Kabine riecht es nach Sonnenmilch und eingepackten Käsebroten. Auf dem Boden stapeln sich Rucksäcke, Wanderstöcke, Kamerastative und – was sonst – dösende Hunde. Mit einem leichten Ruck geht es los, immer dem Himmel nach, und zwar ziemlich steil. Der Hang steigt so stark an, dass sich die meisten Fahrgäste hinsetzen. Andere greifen in die von der Decke hängenden Halteschlaufen, um die Balance zu wahren. Rechts und links zieht derweil die Landschaft vorbei: saftige grüne Wiesen, Nadelbäume, bunte Blumen. Direkt neben den Gleisen tritt ein Steinbock ins Bild, scheinbar desinteressiert. Die Bergbahn, die hier im Halbstundentakt vorbeirattert, ist für ihn nichts Neues.
Auf dem Gipfel schließlich der ersehnte Ausblick. Oder doch nicht? St. Moritz wird durch eine Wolken-Nebel-Wand halb verdeckt; der Silsersee wirkt dunkelgrau-düster, wie in einem Gruselfilm. Und dann: Regen! Die Schlecht-Wetter-Front windet und faucht und zischt – und ist so schnell vorbei, wie sie gekommen ist. Schon blinzelt die Sonne aus den Wolken hervor, die langsam über den Bergkamm hinwegziehen. Für geübte Wanderer ist all das nichts Neues: Kapuze runter, Sonnenbrille auf, weiter geht’s. Nur die junge Australierin, die zum ersten Mal in den Alpen ist, ärgert sich über ihre Nachlässigkeit. Im roten Sommerkleid ist sie auf den Gipfel gefahren, damit sich ihr Outfit gut vom Hintergrund abhebt. Jetzt sind die Fotos gut, aber die Beine kalt. „Selbst Schuld", sagt die junge Frau und geht lächelnd weiter.
Auch hier zeigt sich: Vorbereitung ist alles. Wer vorher die Wanderkarten studiert, die Broschüren der Tourist-Info durchblättert oder an der Rezeption fragt, findet anspruchsvolle Klettersteige ebenso gemächliche Spazierwege, Themenpfade („Philosophenweg") oder Sterne-Restaurants auf dem Gipfel. Sogar kinderwagengeeignete Strecken (zum Beispiel im Tal an den Engadiner Seen) sind möglich. Besonders stolz ist das Fremdenverkehrsamt auf die neu entwickelte App „Engadin St. Moritz in 3D" (erhältlich im App-Store oder als PC-Version unter www.engadin.stmoritz.ch). Die interaktive Landkarte ermöglicht es, Wandertouren virtuell abzulaufen, lange bevor man die Schnürsenkel zugebunden hat. Die Informationen können auch heruntergeladen werden, sodass sie offline verfügbar sind – was auch ratsam ist angesichts der immer noch happigen Roaming-Gebühren, die im Nicht-EU-Land Schweiz anfallen.
Labrador-Rüde Cookie trottet am liebsten durchs Fextal, das direkt hinter dem Silser Dorfplatz beginnt. Schon 1954 schloss die Gemeinde Sils einen für damalige Verhältnisse bahnbrechenden Vertrag mit Umweltverbänden und dem Schweizer Heimatschutz: Das Vextal sollte für immer so erhalten bleiben, wie es ist. Keine Parkplätze, keine Skilifte, keine Sesselbahnen, keine Freileitungen, keine neuen Ferienhäuser. Und das spürt man noch heute. Statt Automotoren sind Kuhglocken zu hören; hin und wieder klackert eine Pferdekutsche – genannt: „Pferdeomnibus" – gemächlich vorbei. „Schöner geht’s nicht", sagt Urlauberin Gisela Rümelin, die sich als Hundebesitzerin noch über eine weitere Kleinigkeit freut: „Das Klima hier ist extrem hundefreundlich. Cookie hatte noch nie eine einzige Zecke."