Seit Jahren steigt die Zahl der Drogentoten kontinuierlich an. In die Drogenpolitik ist Bewegung gekommen, aber zu zaghaft, sagt der Polizist und Drogenexperte der Linken, Frank Tempel.
Das Wort von der Legalisierung gehört für Frank Tempel zu den Begriffen in der Diskussion über Drogenpolitik, die schlicht einen unzutreffenden Eindruck erwecken. Ohnehin sei die Debatte auch heute noch von „Vorurteilen und falschen Begrifflichkeiten" geprägt, formulierte er vergleichsweise diplomatisch zurückhaltend in seiner letzten Bundestagsrede, die wie zum Beleg von zahlreichen Zwischenrufen unterbrochen wurde, eben mit dem Vorwurf, über Legalisierung schließlich die Freigabe anzustreben.
Seit jeher wird die Debatte um Drogenpolitik emotional und ideologisch aufgeladen mit Kampfbegriffen geführt, was selten zu vernünftigen Lösungen führt. Dabei zeigen allein die Statistiken deren dringende Notwendigkeit. Bundesweit steigt die Zahl der Drogentoten seit Jahren kontinuierlich. Wurden 2011 noch unter 1.000 Opfer (986) registriert, waren es im vergangenen Jahr nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bereits knapp 1.300 (1.272). Spitzenreiter ist übrigens Bayern (2017: 308 Drogentote). Im kleinen Saarland ist ein sprunghafter Anstieg zu registrieren. Waren es Anfang des Jahrzehnts in der Regel knapp über zehn Drogentote, hat sich die Zahl seit 2015 (19) auf 27 im vergangenen Jahr mehr als verdoppelt. In Berlin stieg die Zahl im gleichen Zeitraum von etwas über 100 auf 168 im vorigen Jahr.Wobei das nur die sichtbarsten Zahlen der Entwicklung sind.
Abgesehen von der Frage nach der Sinnhaftigkeit von Verbotsstrategien waren die gesetzgeberischen Möglichkeiten nach dem klassischen Betäubungsmittelgesetz (BtMG) längst an ihre Grenzen gestoßen, weil damit lediglich einzelne Substanzen verboten werden konnten. Schon kleinste Veränderungen in der chemischen Substanz neuer psychoaktiver Stoffe (NPS) führten dazu, dass sie nicht mehr vom Gesetz erfasst wurden. So kamen „Kräutermischungen" und „Badesalze" in Mode. Die Lücke ist inzwischen geschlossen, indem jetzt Stoffgruppen verboten werden können. Aber dem Erfindungsreichtum krimineller Labors ist noch auf jede gesetzgeberische Maßnahme etwas eingefallen.
Frank Tempel, selbst Polizist und in der Drogenfahndung tätig, bis er für Die Linke in den Bundestag einzog und von 2010 bis 2017 drogenpolitischer Sprecher seiner Fraktion wurde, hält von einer reinen Verbotspolitik genauso viel wie von einer undifferenzierten Freigabe, nämlich nichts. Sein Credo ist: Regulierung. Drogen seien „zu gefährlich, als dass man sie Dealern, denen Gesundheit und Alter ihrer Kunden egal ist, durch Illegalisierung überlassen darf". Drogendealer hätten so quasi ein Monopol „und profitieren von dem Verbot".
Zu was das führt, könne man in Bayern beobachten. Dort, wo der Verfolgungsdruck für die Konsumenten am größten sei, würden diese etwa von Cannabis auf synthetische Drogen ausweichen. Damit sei das Problem mit synthetischen Cannabinoiden am stärksten, „übrigens: inklusive der Todeszahlen", wie Tempel bereits in seiner letzten Bundestagsrede betonte.
„90 Prozent sind Schrott"
Die andere Konsequenz ist als „Begleiterscheinung nicht neu: Reine Drogen gibt es auf einem unkontrollierten Schwarzmarkt nicht. Heroin hat landläufig einen Reinheitsgrad von zwischen zehn und 15 Prozent, was auch Peter Becker vom Drogenhilfezentrum Saarbrücken bestätigt. Das heißt umgekehrt: „85 bis 90 Prozent sind „gefährlicher Schrott". Eine Vorsichtsmaßnahme zum Schutz der Konsumenten ist das „Drug Checking", also eine Schnelluntersuchung der chemischen Bestandteile. In einer Reihe europäischer Staaten ist das bereits Praxis, beispielsweise in den Niederlanden, Österreich, Spanien oder Frankreich. In Deutschland stößt auch das auf ein rechtliches Risiko, wenn nämlich eine Testperson eine illegale Droge zum Test nimmt. Um das zu umgehen, hat sich in Berlin das Projekt „Autonomer Drogeninfostand" mit einem Drogen-Selbsttest-Modell gegründet.
Frank Tempel wirft allerdings auch sehr grundsätzliche Fragen der gängigen Drogenpolitik auf. Als Polizist habe er gelernt, dass Eingriffe staatlichen Handelns immer dem Grundsatz folgen müssten, ob sie „geeignet, angemessen und erforderlich" seien. Hinter alle drei Kriterien setzt er ein großes Fragezeichen, wenn es um die strafrechtliche Verfolgung von Konsumenten geht. Ganz anders als bei der Bekämpfung der dahinterstehenden organisierten Kriminalität.
Auf 320 Milliarden Euro schätzen die Vereinten Nationen den Jahresumsatz, davon geben allein die Europäer zwischen 25 und über 30 Milliarden für den illegalen Rausch aus. Zumindest ein Teil dieser Kriminalität ließe sich durch eine andere Drogenpolitik austrocknen.
Tatsächlich hat sich in jüngster Zeit etwas bewegt in der deutschen Politik. Die ebenfalls lange umstrittene Substitution (Methadon) hat nach Angaben des saarländischen Ärztekammer-Präsidenten Josef Mischo geradezu „sensationelle Erfolge" gebracht. Weit über die Hälfte der Abhängigen hätten so den Weg zurück in die Gesellschaft und größtenteils auch die Arbeitswelt geschafft. Peter Becker vom Drogenhilfezentrum berichtet, dass mit dem Einsatz von Naloxon bisher über 30 Menschen am Leben geblieben sind. Der Einsatz wurde im Saarland Ende vergangenen Jahres in einem Modellprojekt unter Beteiligung unter anderem des Drogenhilfezentrums ermöglicht.
Selbst solche Zentren als Anlaufstelle und einem „Druckraum" für Abhängige sind längst keine Selbstverständlichkeit in Deutschland. Neben dem kleinen Saarland gibt es sie lediglich in fünf weiteren Bundesländern (Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Niedersachsen).
Dass eine andere Drogenpolitik möglich ist, zeigt der Blick ins europäische Ausland, nach Portugal. Dort hat es vor etwas mehr als anderthalb Jahrzehnten einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel gegeben. Konsumenten werden nicht mehr von der Polizei als Kriminelle verfolgt, sondern zum Sozialarbeiter geschickt beziehungsweise als Kranker zum Arzt oder zur psychotherapeutischen Behandlung. Das heißt keineswegs, dass doert Drogen legalisiert worden seien. Nur der Umgang mit ihnen ist ein anderer, etwa mit der Folge, dass die Zahl drogenbedingter Toter in diesem Land deutlich gesunken ist, manche Statistik nennt hierbei einen Rückgang von immerhin 75 Prozent. Und die Polizei kann dadurch ihre Kräfte auf die Verfolgung des organisierten Drogenhandels konzentrieren. Das hat natürlich nicht alle Probleme gelöst, gilt aber dennoch als beispielgebend in Europa.
In Deutschland ist ein solcher Paradigmenwechsel jedoch in noch weiter Ferne. Der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Burkhardt Blienert, der sich für einen entkriminalisierten und regulierten Umgang mit Cannabis einsetzt, formulierte es in der vergangenen Drogendebatte so: In der deutschen Politik geschehe nicht das Vernünftige, weil es vernünftig sei, sondern weil irgendwann nichts mehr übrig bleibe, als das Vernünftige zu tun.