Einst rühmte sich Haiti, die „Perle der Karibik" zu sein, doch seit 30 Jahren kommt der Inselstaat nicht zur Ruhe. Trotz Naturkatastrophen und Unruhen in der Bevölkerung pulsiert dort vor allem während der Karnevalszeit das pure Leben.
Erst geht alles wild durcheinander. Wenn aber die Geisterstunde anbricht und furchterregende Gestalten mit Kuhhörnern und Drachenflügeln die Straßen der Stadt bevölkern, verschmilzt die Musik zu einem hektischen, ohrenbetäubenden Trommelfeuer. Haitis Herz pocht dann schon lange nicht mehr sanft, nahezu unhörbar und ganz regelmäßig wie das eines normalen Landes, das sich gerade schlafen legt. An Karneval schlägt es erregt, laut und ungestüm in afrikanischen Rhythmen, die keine Pausen mehr zulassen: Getanzt wird die ganze Nacht.
Ein buntes Höllenspektakel
Frauen in wallenden Gewändern und bunten Kostümen geben mit wiegenden Hüften und wackelnden Hintern eine erotische Einlage und beglücken damit jene Männer, die als bewegliches Kunstwerk aus Plastikmüll auftreten. Akrobaten spielen mit dem Feuer und balancieren auf Stelzen. Und aus dem Süden des Landes sind ein paar jener Figuren in die Hauptstadt gereist, die man eine Woche zuvor schon beim Umzug im Küstenort Jacmel sehen konnte. Das sind die Wesen mit den Köpfen aus Pappmaschee, die eigentlich als feuerspeiende Drachen für Schrecken sorgen sollen, die weißen Besucher mit der geröteten Touristenhaut aber trotzdem herzlich willkommen heißen. Wirklich Furcht einflößend sind dagegen die „Lanset Kod", mit Kohlenstaub und Zuckerrohrsirup eingeschmierte Männer, die Fesseln tragen wie einst die Sklaven der Plantagen.
Die Rara-Bands haben ihren Heiligen im Vodou-Tempel gehuldigt und ziehen nun in Marschformation durch die Straßen, eine nach der anderen, Stunde um Stunde. Viele Hunderttausend Menschen säumen die Strecke des Umzugs quer durch das Zentrum der Hauptstadt Port-au-Prince. Später ziehen die Musiker auch durch die Viertel, in denen sie zu Hause sind: Vorneweg glitzernde Fahnen mit religiösen Symbolen, dann folgt das Orchester mit Trommeln, Tröten und Trompeten. Metallhörner und Vuvuzelas ertönen, dazu Schellen und Glocken und noch ein paar Instrumente mehr, die unglaublich viel Lärm machen – es ist ein Höllenspektakel. Manchmal wirkt der Auftritt wie eine Militärparade: Vodou und die Musik der Rara-Bands sollen der Legende nach vor mehr als 200 Jahren die haitische Revolution zum Erfolg geführt haben. Der Aufstand gegen die Kolonialmacht Frankreich brachte dem Land die Unabhängigkeit – Haiti ist der einzige Staat, der aus einer Sklavenrevolte hervorgegangen ist.
Es war einmal ein Haiti, das sich des Beinamens „Perle der Karibik" rühmte. Ein Haiti, das in den 60er-Jahren erst die Bohemiens anzog und dann, in deren Gefolge bis Mitte der 80er-Jahre, deutlich solventere Prominente. Das Land wurde zwar erst vom Diktator „Papa Doc" Duvalier, dann von seinem Sohn „Baby Doc" mit harter Hand regiert, galt aber als freizügiges „Greenwich Village der Tropen". Man amüsierte sich im Casino, im Jazzclub, im Bordell. An Karneval kam der Jetset angereist und feierte, bei den Paraden auf der Straße und bei Privatpartys in den im Stil der Bäderarchitektur gestalteten Holzhäusern.
Doch eines Tages war das Tourismusmärchen ausgeträumt. Militärputsch, Staatsstreich, Intervention der USA, Blauhelm-Mission der Uno, fragwürdige Wahlen: Seit 30 Jahren kommt Haiti politisch nicht nachhaltig zur Ruhe. Und jedes Mal, wenn das Land gerade dabei ist, sich aufzurappeln, wird es von einer verheerenden Naturkatastrophe heimgesucht und erneut zu Boden geworfen – vor acht Jahren von einem Erdbeben mit über 300.000 Toten, vor eineinhalb Jahren von Hurrikan Matthew. Charterflieger aus halb Europa düsen inzwischen in den Osten der Insel Hispaniola, in die Dominikanische Republik. Doch nach Haiti im Westen reisen nur Eingeweihte.
Spannend und schön zugleich
Andere betreten für einen Tagesausflug den Boden Haitis, lernen das Land dabei aber nicht kennen. Die riesigen Kreuzfahrtschiffe von Royal Caribbean spucken ihre vielen Tausend Passagiere im Norden des Landes am Privatstrand „Labadee" aus, ein abgeschotteter Freizeitpark. „Get out there" war einst ein Werbeslogan der Reederei aus Amerika, doch wörtlich sollte man das besser nicht nehmen. Zwar thront gleich um die Ecke bei Cap-Haïtien die größte Zitadelle Amerikas auf einem Felssporn, zu ihren Füßen befindet sich die Ruine von Schloss Sans-Souci. Haitis erster schwarzer König ließ sie nach der Sklavenrevolution nach dem Potsdamer Vorbild errichten. Ausflüge zu dieser Unesco-Welterbestätte oder zum Markt des Städtchens Cap-Haïtien werden aber nicht angeboten. Doch wer weiß: Vielleicht hätten einige Passagiere Lust auf eine ungeschminkte Karibik?
Wer dem Aschenputtel der Antillen die Chance gibt, den Staub von den Kleidern zu klopfen, erkennt nämlich, dass Haiti spannend und schön zugleich sein kann. Zum Beispiel in Jacmel an der Südküste, wo die Pappmaschee-Künstler leben und das ganze Jahr über an ihren Faschingsmasken arbeiten. Und sogar in Port-au-Prince, der als gefährlich verschrienen Hauptstadt, wo immer noch Ruinen an das Erdbeben von 2010 erinnern. Das Zentrum hat sich in ein Open-Air-Atelier für Heerscharen von Künstlern verwandelt. „Bei uns gibt’s eben nicht nur Sand und Sonne", sagt der Haitianer Cyril Pressoir, der im Ausland studieren konnte und zurückgekehrt ist, weil er an die Zukunft seines Landes glaubt. Als Guide begleitet er eine Gruppe von G Adventures: Der Erlebnisreisen-Veranstalter ist einer der wenigen, die Haiti wieder ins Programm genommen haben.
„Yon bel bonjou, se paspo ou", ist Cyrils Lieblingsspruch auf Kreol, was in etwa „Ein freundlicher Gruß ist dein Reisepass" bedeutet. Mit vielen „bonjous" auf den Lippen drücken wir uns also durch gerade mal zwei Meter breite Gassen, vorbei an stillenden Müttern und spielenden Kindern, um Mitglieder der Gruppe Atis Rezistans zu treffen. Aus Plastikmüll, Schrott und anderen Fundstücken formen sie schaurige Skulpturen. Glühbirnen leuchten in den Augenhöhlen eines echten Menschenschädels, allerlei deformierte Puppenfiguren wirken wie Darstellungen des gekreuzigten Jesus Christus. „Wer die Düsternis zeigt, gewinnt an Kraft und feiert das Schöne", erklärt André Eugène, der Gründer der Künstlervereinigung. „Leben und Tod sind nicht getrennt: Das ist eines der Prinzipien von Vodou."
Der Kult, den einst die Sklaven aus Westafrika in die Karibik brachten und der sich in der Kolonialzeit mit dem Christentum vermischt hat, ist heute eine der anerkannten Religionen in Haiti. Deswegen sind in der historischen Markthalle von Port-au-Prince auch wunderliche Figuren für Rituale zu erstehen. Da werden Barbiepuppen mit Hörnern angeboten, die man sich als Fetisch zum Schutz von Haus und Hof aufstellen kann – eine Schnapsflasche ist auch integriert, sollten die Besucher aus dem Jenseits Lust auf Hochprozentiges haben. Was man hier als Vodou bezeichnet, ist aber keine von Hollywoods Horrorfilm-Fantasien. „Mit Zombies, Voodoo-Puppen und schwarzer Magie habe ich nichts zu tun", lacht Jean-Baptiste Jean-Joseph, der Stickereien mit religiösen Motiven anfertigt. „Ich bete zu den Geistern, so wie auch Christen ihre Heiligen anrufen."
Tanzen, als gäbe es kein Morgen
Opfertische für die Vodou-Götter findet man auch an Orten, an denen man sie nun wirklich nicht vermuten würde. Baron Samedi, zuständig für Sex, Tod und Auferstehung, empfängt einen gleich am Eingang des „Hotel Oloffson". Die weiße Villa aus dem 19. Jahrhundert hat den morbiden Charme eines Geisterhauses. „Man erwartete, dass eine Hexe die Türe öffnen würde. Oder ein verrückter Butler, hinter dem eine Fledermaus vom Kronleuchter hängt", notierte Graham Greene, der hier in den 1960er-Jahren logierte und das Hotel im Thriller „Die Stunde der Komödianten" verewigte. Angeblich diente es auch dem Zeichner Charles Addams als Vorlage für das Heim seiner wunderlichen „Addams Family". Jackie Kennedy, Truman Capote, Marlon Brando, Mick Jagger: Sie alle sonnten sich an den Stränden und stiegen dann im berühmtesten Hotel Haitis ab.
Wer heute im „Oloffson" vorbeischaut, findet anders als im Roman weder Liebende noch Leichen im Pool. Dafür aber einen Hotelbesitzer, der eigentlich Musiker ist und zudem noch Vodou-Priester. Vor 30 Jahren hat der Amerikaner Richard Morse die Hotelruine gekauft und sie wieder aufgemöbelt. An der Decke quietschen die Ventilatoren, die Dielen knarzen. Doch des Komforts wegen kommt ohnehin niemand hierher, sondern tagsüber wegen der luftigen Terrasse, wo man den neuesten Klatsch der Hauptstadt erfährt, und abends wegen Gigs der Hausband RAM mit ihrem irren Mix aus Rock und Vodou-Trommelei.
„Noch ein Rum Sour?", fragt der Barmann hinter der Theke aus Mahagoni, die vor Jahren einmal amerikanischen Soldaten als Billardtisch diente. Sehr verlockend, aber „non merci": An Karneval muss man in Haiti auf die Straße. Und heute, bei der letzten und scheinbar endlosen Nacht vor Aschermittwoch, tanzt Port-au-Prince wieder einmal, als gäbe es kein Morgen.