In Tokio setzt sich eine neue Art von Freizeitpark durch: Mit Virtual-Reality-Brillen und beweglichen Maschinen werden die Attraktionen noch lebensechter – so sehr, dass es manchem Besucher schlecht wird.
Rina Kowa steckt zum ersten Mal in einer Kanone. Die 18-jährige Schülerin hängt kopfüber in der engen Röhre, festgepresst durch einen Sicherheitsbügel, verkabelt mit Kopfhörern und Virtual-Reality-Brille. Ein gutes Gefühl? Ungewohnt? Komisch? Kowa sagt nichts, denn sie schwebt in einer anderen Welt. Wie eine Kanonenkugel fliegt sie durch Tokio, vorbei an Hochhäusern, Straßenbahnen und Highways. Als die Röhre aufhört zu ruckeln, ist Kowa bleich im Gesicht. Aber sie strahlt. „Sugoi!", ruft die junge Frau – echt krass! Nachdem sie die Brille abgenommen hat, muss sie sich erst mal orientieren. Vor der Maschine warten schon die nächsten, die ebenfalls als menschliche Kanonenkugel durch die Luft sausen wollen. Schließlich sind Ferien in Japan und die jungen Leute nutzen die Zeit, um den neuesten Freizeitspaß auszuprobieren. In Tokio heißt das: Virtual Reality.
„Am Anfang hatte ich richtig Angst", gesteht Kowa, als sie der Apparatur entstiegen ist. „Es fühlt sich wirklich so an, als ob man von einem Hochhaus fällt. Schon verrückt." Hinzu kommt, dass die virtuelle Kanone tatsächlich in der obersten Etage eines Wolkenkratzers steht. Sie gehört zum „Sky Circus Observatory", einem Indoor-Freizeitpark, dessen Thematik um Höhe und Weite kreist – nichts für Menschen, denen schon beim Aufzugfahren schlecht wird. Oder vielleicht doch: Dank der VR-Attraktionen kann man schließlich durch Tokio fliegen, ohne an einem echten Bungee-Seil zu hängen, oder Terroristen jagen, ganz ohne Waffenschein.
Möglich macht es die neueste Generation von VR-Brillen, die die Umgebung extrem realistisch darstellen. Der Himmel strahlt blau, die Fenster der Hochhäuser glitzern. Aus den Lautsprechern wummern die Rotoren eines Helikopters. All das könnte man auch am heimischen PC erleben, denn die VR-Brillen sind frei erhältlich. Doch Freizeitparks haben einen entscheidenden Vorteil: Sie liefern nicht nur Brillen und Kopfhörer, sondern betten die Technik in hochkomplexe Maschinen ein. Anders als zu Hause muss niemand statisch auf einem Stuhl sitzen. Wer durch den Dschungel hetzt, bekommt einen Spritzer Wasser ins Gesicht. Wer einen rutschigen Hügel erklimmt, steht auf einem Laufband. Realität und Fiktion verschwimmen.
Im technikbegeisterten Japan wissen Freizeitparks diese Chance zu nutzen. Allein in Tokio lassen sich mehrere Tage damit verbringen, die neuesten VR-Attraktionen zu besuchen. Tendenz steigend. Der „VR Park Tokyo Shibuya" hat im Dezember 2016 eröffnet. Wer ihn mit normalen Augen betrachtet, sieht eine dunkle Spielhalle, in der es nach Putzmittel riecht. Sobald man aber die Brille aufsetzt und den Controller in die Hand nimmt, ist diese Umgebung vergessen. Besucher kämpfen gegen Drachen, während sie auf einem wackeligen „fliegenden Teppich" stehen. Oder sie stürzen von einer Klippe, befestigt an einem Sitzgeschirr, das tatsächlich baumelt.
„Die Superdroge der Zukunft"
„Zur Sicherheit habe ich immer Kotztüten dabei", sagt Kou Itokazu. Der Freizeitpark-Mitarbeiter kümmert sich um Gäste, die zum ersten Mal in der virtuellen Realität stehen. „Für manche ist es ungewohnt und ihnen wird schlecht. Aber übergeben musste sich zum Glück noch niemand."
Dafür sei die Abbrecherquote erstaunlich hoch. „Besonders schlimm ist es bei ,Dive Hard‘", erzählt Itokazu. Gemeint ist ein Spiel, bei dem Verbrecher gejagt werden. Um sie zu fangen, müssen die Nutzer über einen Stahlträger balancieren, der von einem Hochhaus-Dach hervorragt – während sie gleichzeitig über eine echte Planke laufen. „Da setzen viele die Brille ab", sagt Itokazu und lacht. „Sehr realistisch, wirklich sehr realistisch."
Die meisten der 100.000 Besucher, die jährlich in den „VR Park" kommen, sind Kinder und junge Erwachsene. „Aber wir hatten auch schon eine 80-Jährige", berichtet Itokazu. Stolz fügt er hinzu: „Sie hat die ganze Zeit geschrien, aber das Programm knallhart durchgezogen. Daran können sich viele jüngere Leute ein Beispiel nehmen." Und das tun sie offenbar auch: In Tokio schießen neue VR-Parks geradezu aus dem Boden. Trotz des stärker werdenden Wettbewerbs scheint das den meisten Betreibern nichts auszumachen. „Wir sind eine Millionenstadt", betont Itokazu. „Unsere Zielgruppe ist riesig."
Tatsächlich spricht vieles dafür, dass sich der Wachstumstrend fortsetzt. Weltweit pumpen Investoren viel Geld in die neue Technik. So auch der amerikanische Regisseur Steven Spielberg, der mit „Ready Player One" gerade einen kompletten Film über die Verlockungen der virtuellen Lebensräume gedreht hat. Allerdings mit einem mahnenden Unterton, wie Spielberg in einem Interview mit der „New York Times" betonte. Dank modernster Helme, haptischen Handschuhen und Ganzkörper-Anzügen entstehe ein regelrechtes Paralleluniversum – und damit „die Superdroge der Zukunft", wie Spielberg selbstkritisch anmerkt. Immerhin ist auch er finanziell an einem VR-Start-up beteiligt.
Im nächsten Park, der „VR Zone Shinjuku", ist außer Kreischen kaum etwas zu verstehen. Zwei junge Frauen versuchen einer Horde Dinosaurier zu entkommen, was aber natürlich unmöglich ist. Happs! Weg ist der Menschenkopf! Die jungen Frauen gehen panisch in Deckung; unter ihren Brillen haben sie zu schwitzen begonnen. Nur gut, dass die Mitarbeiter vorsorglich Papiermasken verteilen, damit die Dino-Jagd gruselig, aber keinesfalls unhygienisch vonstattengeht.
„Der Wind, der Sound, das Rütteln – ich habe mich gefühlt, als würde ich wirklich durchs Gras schleichen, in einem echten Dschungel", erzählt Haruka Inovie (16), nachdem sie das laufband-ähnliche Gerät wieder verlassen hat. Würde sie es noch mal machen? „Niemals! Dann setze ich mich lieber ans Lenkrad und fahre Mario Kart." Während manche Attraktionen von der Zielgruppe geradezu ignoriert werden, gibt es für die Highlights sogar einen eigenen Wartebereich. Ein Farbcode soll dafür sorgen, dass sich nicht zu viele Spieler an einem Fahrgeschäft stauen. Wer etwa eine „rote" Attraktion besucht hat, darf kein weiteres Spiel dieser Gruppe machen – oder muss draufzahlen. Selbst der Besuch einer virtuellen Welt kann echt teuer werden.
Der Chef des Freizeitparks, Yukiharu Tamiya, hat in den vergangenen Jahren einen technischen Entwicklungssprung beobachtet. „Als wir 2014 angefangen haben, waren die Maschinen noch deutlich größer, die Brillen enger, die Grafik schlechter", sagt Tamiya. „All das hat sich innerhalb kürzester Zeit sehr stark verbessert."
Was die Zukunft bringt, wisse er nicht – wahrscheinlich eine weitere Verkleinerung der Brillen. „Auf jeden Fall haben wir einen großen Vorteil gegenüber konventionellen Freizeitparks", meint Tamiya. „Wir brauchen nur sehr wenig Fläche, können aber riesige Welten darstellen." Er lacht. „Eigentlich sind wir größer als Disneyland."
Insgesamt geht die Entwicklung in Japan momentan in zwei Richtungen: Einerseits schießen neue VR-Freizeitparks aus dem Boden, die sich komplett auf die virtuelle Realität konzentrieren und nichts anderes anbieten. Andererseits springen auch bestehende Freizeitparks auf den Zug auf und investieren in die neuste VR-Technik. So können Traditionalisten weiterhin Achterbahn fahren, während ein paar Meter weiter die VR-Brillen bereitliegen. Gleichzeitig erschließt sich dadurch ein lukratives Geschäftsmodell, denn die Ausflüge in die virtuelle Realität kosten oft extra – und müssen teilweise lange im Voraus gebucht werden, weil der Andrang vor Ort sonst zu groß wäre.
Bisher geht es bei den VR-Attraktionen in Tokio hauptsächlich um Action. Im „Joypolis", einem der größten Allround-Freizeitparks, können mehrere Spieler in einer Art Kriegssimulation gegeneinander antreten. Sie laufen durch einen Raum, während sie gleichzeitig eine VR-Brille tragen. Damit es nicht zu Zusammenstößen kommt, sind alle Teilnehmer an einem Seil befestigt – simpel, aber effektiv. Andere Spiele beschäftigen sich mit Zombies, Robotern oder Piraten. Nicht selten halten die Teilnehmer dabei eine Waffe – also einen Controller – in der Hand.
Wenn man die Nutzerzahlen betrachtet, punkten aber nicht nur die Shooter. „Interessanterweise ist unser virtuelles Angelspiel megabeliebt", sagt Freizeitpark-Chef Tamiya. „Die Leute stehen da, warten – und angeln." Vielen Besuchern geht es offenbar gar nicht so sehr ums Schießen und Gruseln, sondern um die Flucht in eine komplett andere, fremde Lebenswelt: Anglertümpel statt Hochhaus-Siedlung. Dschungelpfad statt Mega-Kreuzung.
In einem sind sich die VR-Betreiber dann auch einig: In Zukunft werde es darauf ankommen, die Zielgruppe zu erweitern. „Bis jetzt sind die Jungs immer noch in der Überzahl", sagt Tamiya. „Aber wir wollen natürlich auch die Mädchen ansprechen."
Um das zu erreichen, hat der Freizeitpark in einen gemütlichen Pausenbereich mit Restaurant, Sitzplätzen und animierten Palmen investiert. Die Optik sei für die heutige Generation sehr wichtig, sagt Tamiya. Er meint damit nicht unbedingt die Grafik der VR-Brillen. „Wir müssen nach außen hin präsentabel sein. Wenn wir gute Instagram-Motive bieten, kommen auch die Mädchen."