Vor 65 Jahren weitete sich ein Streik Ostberliner Bauarbeiter zu einem landesweiten Aufstand in der DDR aus. Nur mithilfe sowjetischer Panzer gelang es dem SED-Regime, seine Macht zu behaupten. Den Geschehnissen rund um den 17. Juni 1953 wurde in der Bundesrepublik bis 1990 mit dem „Tag der deutschen Einheit" gedacht.
„Lasst sie nicht allein! Sie alle kämpfen nicht nur für die sozialen Rechte der Arbeitnehmer, sondern für die allgemeinen Menschenrechte der gesamten Ostberliner und ostzonalen Bevölkerung. Tretet darum der Bewegung der Ostberliner Bauarbeiter (…) bei und sucht eure Strausberger Plätze überall auf." Mit dieser vom Rias, dem Rundfunk im amerikanischen Sektor, gleich viermal am frühen Morgen des 17. Juni 1953 ausgestrahlten Rede des deutschen Gewerkschaftsvorsitzenden Ernst Scharnowski sollte der Westberliner Radio-Sender, „ohne es zu wollen, zum Katalysator des Aufstandes" in der DDR werden, wie es der damalige Chefredakteur des Funkhauses Egon Bahr, kommentierte. „Ohne den Rias", sagte Bahr, „hätte es den Aufstand so nicht gegeben."
Denn ohne die ausführliche Berichterstattung des Rias über die sich im Laufe des 16. Juni immer mehr zuspitzenden und sich von konkreten wirtschaftlichen Forderungen zu umfassenden politischen Freiheitswünschen entwickelnden Ereignisse wäre es wohl ein lokaler Aufstand geblieben. Kaum jemand außerhalb Ostberlins hätte in den gerade neu geschaffenen 14 Bezirken der DDR rechtzeitig davon erfahren, geschweige denn sich dem Aufruf zum Generalstreik am 17. Juni 1953 anschließen können, der in Ostberlin um 7 Uhr morgens mit einer Demonstration auf dem Strausberger Platz seinen Anfang nehmen sollte.
So aber gingen in der DDR schätzungsweise rund eine Million Menschen in mehr als 700 Orten und Gemeinden im Kampf für Freiheit und demokratische Rechte auf die Straße. Die gefürchtete Staatsmacht reagierte panisch und kopflos. Es herrschte einige Stunden lang regelrechte Anarchie in der DDR. Die Spitzen des SED-Regimes hatten sich bei der sowjetischen Militärverwaltung in Berlin-Karlshorst in Sicherheit gebracht. Auf dem Brandenburger Tor wurde unter dem Jubel der Massen die rote Fahne abgerissen und durch drei schwarz-rot-goldene Flaggen ersetzt. Alles schien in diesem Augenblick möglich, sogar die Wiedervereinigung.
Doch dann rollten gegen Mittag des 17. Juni 1953 die sowjetischen Panzer an und bereiteten dem Aufstand, der im Westen sogleich zum Symbol für den Freiheitswillen der ostdeutschen Bevölkerung deklariert wurde, nicht nur in Ostberlin, sondern im ganzen Land ein schnelles Ende – ähnlich wie später in Ungarn 1956 und bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1958. Nichts konnte die komplette Abhängigkeit der DDR und ihrer Führung von Moskau eindeutiger dokumentieren. Ab 13 Uhr verhängten die Sowjets den Ausnahmezustand und damit das Kriegsrecht über Ostberlin und weite Teile des Landes.
Zahl der Opfer bis heute unklar
Die Zahl der Opfer ist bis heute ungeklärt. Laut dem Projekt „17. Juni 1953" gibt es sichere Nachweise für 55 Tote. Andere Untersuchungen gehen davon aus, dass mindestens 125 Menschen ums Leben gekommen waren. Darüber hinaus wurden rund 1.600 Teilnehmer des Aufstands, dessen letzte Funken spätestens nach fünf Tagen massiven Einsatzes von sowjetischem Militär und Kräften der Kasernierten Volkspolizei, dem Vorläufer der Nationalen Volksarmee, endgültig verloschen waren, von DDR-Gerichten zu teilweise drakonischen Freiheitsstrafen verurteilt. Die Westmächte und die Verantwortlichen der Bundesrepublik, die allesamt von dem Aufstand komplett überrascht worden waren, konnten mitten im Kalten Krieg keine direkte Einmischung riskieren. Von daher musste es bei symbolischen Sympathie-Bekundungen bleiben. Schon Anfang Juli 1953 hatte der Deutsche Bundestag in Bonn beschlossen, den 17. Juni fortan als „Tag der deutschen Einheit" und gesetzlichen Feiertag zu begehen, das entsprechende Gesetz trat am 4. August 1953 in Kraft.
„Planmäßiger Aufbau des Sozialismus" lautete die Parole, die im Juli 1952 auf der zweiten Parteikonferenz der SED beschlossen worden war und die einen ganz entscheidenden Part zur wachsenden Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung sowie damit letztlich auch zum Ausbruch des Aufstands beitragen sollte. Die Kollektivierung der Landwirtschaft sollte vorangetrieben, der Aufbau der Schwerindustrie forciert werden, die Reste des Mittelstandes aus Handwerkern und Selbstständigen durch steuerliche Zwangsmaßnahmen zerschlagen werden. Die sich darin ausdrückende „Verschärfung des Klassenkampfes" führte innerhalb kürzester Zeit zu Engpässen in der Versorgung der Bürger mit dem Lebensnotwendigsten. Vor allem weil die einseitige Bevorzugung der Schwerindustrie zu Lasten des Konsumgütersektors ging und die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften bei weitem nicht die hochgesteckten Planvorgaben erreichen konnten. Verschärft wurde die Lage noch durch den wachsenden Arbeitskräftemangel, der durch die Massenflucht gen Westen und durch den massiven Personalbedarf der Kasernierten Volkspolizei verursacht wurde, die zu einer regulären DDR-Armee mit 300.000 Mann ausgebaut werden sollte. Um die Ernährungskrise und den Rückgang der industriellen Produktion zu bekämpfen, fiel der DDR-Führung am 14. Mai 1953 nichts anderes ein, als eine Erhöhung der Arbeitsnormen um 10,3 Prozent, was de facto für die DDR-Malocher mehr Arbeit für weniger Geld oder eine empfindliche Lohnkürzung bedeutete. In Moskau, wo nach dem Tod Stalins am 5. März 1953 die Nachfolgekämpfe entbrannt waren, beobachtete man die Krise in der DDR mit wachsender Sorge. Man zwang die SED zu einer Kehrtwende, die am 11. Juni 1953 öffentlich als „Neuer Kurs" bekannt gegeben wurde. Die Staatsführung musste sich sogar zu einer „eine Reihe von Fehlern" bekennen und versprechen, die Preise für Lebensmittel zu senken, die Versorgung zu verbessern, Enteignungen von Landwirtschafts- und Handwerksbetrieben rückgängig zu machen. Nur auf die dekretierte Erhöhung der Arbeitsnormen wollte man nicht verzichten. Angesichts der Selbstbezichtigung des SED-Regimes wuchs bei vielen DDR-Bürgern der Mut, laut auszusprechen, was sie vorher nur insgeheim gedacht hatten: dass ihre Führung größtenteils versagt hatte.
Vom Streik zum Flächenbrand
Ausgerechnet die Arbeiterklasse im Arbeiter- und Bauernstaat DDR sollte aber wirtschaftlich weiter benachteiligt bleiben. Dagegen begann sich am 15. Juni 1953 rund um die Großbaustellen im Umfeld der Ostberliner Stalinallee Widerstand mit ersten Arbeitsniederlegungen zu regen. Als die parteinnahe DDR-Gewerkschaftszeitung „Tribüne" in ihrer Ausgabe vom 16. Juni 1953 die Normerhöhung ausdrücklich verteidigte, formierte sich in der Stalinallee ein Bauarbeiter-Protestzug, dem sich auf dem Weg zum Haus der Ministerien, dem Sitz der DDR-Regierung, immer mehr Menschen anschlossen. Um 14 Uhr war die Menge auf 10.000 Demonstranten angewachsen. In die Rufe nach Rücknahme der Normerhöhung mischten sich im Laufe des Tages immer häufiger politische Forderungen wie freie Wahlen. Obwohl die Staatsführung schließlich klein beigab und die Normerhöhung cancelte, weil eine solche Maßnahme nicht „administrativ" befohlen, „sondern einzig und allein auf der Grundlage der Überzeugung und Freiwilligkeit" eingeführt werden sollte, riefen die Protestierenden am späten Nachmittag für den 17. Juni 1953 zum Generalstreik auf. Worüber das ganze Land dank der Berichterstattung des Rias informiert wurde.
Am Morgen des 17. Juni 1953 drängten die Arbeiter zu Zehntausenden in die Berliner Innenstadt. Schon um 11 Uhr hatten sich mehr als 100.000 Demonstranten vor den Regierungsgebäuden eingefunden. Die Normerhöhungen waren längst nur noch Anlass, um die Unzufriedenheit mit den Zuständen in der DDR zum Ausdruck zu bringen. Der Generalstreik verwandelte sich in einen politischen Aufstand und zu einem landesweiten Flächenbrand mit lokalen Schwerpunkten im Chemiedreieck um Halle und den Bezirkshauptstädten Magdeburg, Leipzig und Dresden. Zu einer Generalabrechnung mit dem SED-Regime, das ohne das Eingreifen der Sowjetarmee aller Wahrscheinlichkeit nach gestürzt worden wäre.
Neben der Abhaltung freier Wahlen wurden Forderungen wie Wiedervereinigung oder Auflösung der Kasernierten Volkspolizei erhoben. Nachdem am Abend im Land wieder weitgehend Ruhe eingekehrt und eine nächtliche Ausgangssperre verhängt worden war sowie die Sektorengrenzen dank einer gewaltigen Truppenkonzentration hermetisch abgeriegelt worden waren, ging der DDR-Ministerrat in die Propaganda-Offensive und bezeichnete den Aufstand als „das Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte". Für die SED-Führung sollte der Aufstand ein ewiges Trauma bleiben, zu dessen Bewältigung der verstärkte Ausbau des Repressivapparates in Angriff genommen wurde.