„Die EU ist ein Golfclub, der uns fiese Ohrfeigen verpasst!" Während die einen toben, ducken sich andere frustriert weg. Die Konflikte schwelen im Hintergrund – ein Roadtrip in Sachen Brexit.
Es ist Dienstagabend, ein ganz normaler Abend in Daventry. Daventry liegt in den Midlands, im Herzen Englands, etwa auf halber Strecke zwischen London und dem ehemals industriellen Norden. Die Gegend ist ländlich geprägt. Doch aufgrund mehrerer Autobahnen, die die Gegend durchkreuzen befinden, sich dort viele Depots und Logistikzentren – unter anderem von Amazon. In und um die 20.000-Seelen-Stadt wohnen aber auch viele Pendler, die mit dem Zug nach Birmingham und Coventry oder sogar nach London fahren, denn die Hauspreise rund um London sind inzwischen unbezahlbar. In Daventry lässt sich für umgerechnet 150.000 Euro wenigstens noch ein kleines Haus kaufen oder für etwa 850 Euro im Monat mieten. Die Arbeitslosenrate ist niedrig, nur knapp zwei Prozent der Einwohner beziehen das britische Pendant zu Hartz IV, das mit gut 350 Euro monatlich noch knapper ausfällt und strenger überprüft wird als in Deutschland. Politisch ist Daventry tiefblau – stramm konservativ. Knapp 60 Prozent der Wähler entschieden sich vor zwei Jahren für den Austritt aus der EU. Reden möchten aber darüber nur noch wenige, erst recht nicht diejenigen, die für den Verbleib waren.
Weicher Brexit, ein bisschen Austritt?
An diesem Dienstagabend gehe ich ins „Early Doors", einer der wenigen unabhängigen Pubs. Dahinter steht keine Kette; es werden nur regionale Biere ausgeschenkt. Kinder sind verboten, Hunde nicht. Wer herkommt, schätzt gutes Bier, kann dafür aber auch mehr bezahlen als anderswo. Ab 19 Uhr füllt sich der Laden, Sitzplätze werden rar. Noch ist es leer, und ich habe Glück: Der einzige andere Gast geht hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Ich folge ihm und stelle mich vor. Mein Gesprächspartner – nennen wir ihn Gary – stimmte für den Austritt aus der EU. „Die ganze Brüsseler Bürokratie", das nervte den Mittvierziger mit freundlichem Gesicht. Als ich wissen möchte, was genau er meine, lobt er als Chef eines kleinen IT-Dienstleisters jedoch die neue Datenschutzverordnung der EU. Die findet er sinnvoll. Schlecht hingegen fände er europäische Zölle, er handele schließlich mit EU- wie mit Nicht-EU-Ländern, aus denen er Teile bezieht. Der Gedanke, nach dem Brexit nun auf die europäischen Teile Zoll bezahlen zu müssen, bereitet ihm Sorgen. Ob er für einen Austritt bei gleichzeitigem Verbleib in der Zollunion und im gemeinsamen europäischen Binnenmarkt sei? Genau. Dieser „weiche" Brexit bedeutet, weiterhin Mitgliedsbeiträge an Brüssel zu zahlen, Brüsseler Regeln und Normen befolgen zu müssen, diese aber nicht durch britische Europa-Abgeordnete, eine Stimme im Europäischen Rat sowie durch ein britisches Mitglied der EU-Kommission mitbestimmen zu dürfen. Gary pflichtet mir bei: Ja, so sei das. Ich erspare ihm die Frage, ob vor diesem Hintergrund der Brexit wirklich bedeute, wie das Brexit-Lager behauptete, „die Kontrolle zurückzuerlangen". Schließlich klingt das alles eher nach Kontrollverlust. Als er darüber nachdenkt, sieht Gary aus wie jemand, der gerade bemerkt hat, dass seine Süßigkeiten verschwunden sind – betreten. Wir wechseln zum Thema Fußball. Das anstehende Champions-League-Finale ist in aller Munde.
Am folgenden Morgen in Rugby, eine kurze Autofahrt von Daventry entfernt, dort, wo die gleichnamige Sportart ihren Ursprung hat: Während der Fahrt höre ich LBC, eine Londoner Radiostation. Der umstrittene, rechte Radiomoderator Nick Ferrari nimmt Anrufe zu seinem Lieblingsthema entgegen: Einwanderung. In Rugby treffe ich mich mit einem Immobilienmakler, um über den Brexit zu sprechen. Er möchte weder seinen Namen in der Presse lesen noch sein Unternehmen damit in Verbindung bringen und äußert sich sehr zurückhaltend. Das Thema Brexit ist ihm unangenehm. Die Mieten steigen inzwischen in seiner Gegend langsamer als früher, vergangenes Jahr um 1,7 Prozent. Ob das mit der deutlich zurückgegangenen Nettoeinwanderung aus der EU zu tun habe, darüber könne man nur spekulieren, sagt er. Wir beenden das Gespräch schnell, er windet sich sichtlich, mit einem Europäer darüber zu reden, wenn auch einem zur Hälfte britischen. Am liebsten möchte er schweigen, so wie viele. Im Vorfeld des Besuchs hatte ich mehrere Unternehmen angeschrieben und um ein Gespräch gebeten, darunter Rover sowie Cummins, einen Motoren- und Teilebauer. Beide lehnten höflich ab. Man wolle sich dazu nicht äußern. Von der Kosmetikfirma Avon, dem Umzugsunternehmen Gerson Relocation, Barclaycard, Carlsberg und dem Logistikunternehmen Eddie Stobart kam gar keine Antwort.
„Lange genug zu viel bezahlt"
Zurück in Daventry – auf der Fahrt läuft im Radio, in der BBC, eine Sendung zum Thema Einwanderung – besuche ich den Daventry-Business-Club. Das ist ein Forum, bei dem sich kleine und mittlere Unternehmen in der Stadt einmal im Monat zum Frühstück treffen. Während der Vorstellungsrunde trage ich mein Anliegen vor. In zwei Augenpaaren blitzt es auf. Eines dieser Augenpaare gehört Rose, deren Vater aus Portugal kommt. Sie betreibt ein Importgeschäft, in dem sie portugiesische Weine vertreibt. Sie blickt sorgenvoll auf den 29. März 2019, wenn sich Theresa Mays Brief mit der Bitte um den Austritt aus der EU gemäß Artikel 50 des Vertrags von Lissabon zum zweiten Mal jährt. Kommt es bis dahin zu keinem geregelten Austritt, werden die Handelsbeziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU auf die Regeln der Welthandelsorganisation zurückgesetzt, inklusive Zölle. Das macht Rose wütend; sie erwartet von ihrer Regierung mehr Verständnis für importierende und exportierende Unternehmen.
Ganz anders klingt Peter, ein ehemaliger Journalist und heutiger PR-Berater in seinen mittleren 50ern, dem das andere blitzende Augenpaar gehört. Er hat keinerlei Verständnis für die EU, meint, die Insel habe lange genug und zu viel bezahlt; sie solle nun aufs Härteste für ihren Austritt bestraft werden. Er vergleicht die EU mit dem Golfclub, in dessen Clubhaus das Frühstück stattfindet. „Wenn ich hier austrete, bekomme ich doch auch keinen Tritt in den Hintern. Im Gegenteil, man bedankt sich für meine Mitgliedschaft und sagt, man freue sich jederzeit auf meinen Wiedereintritt!" Meinen Einwand, dass die EU mehr sei als ein Golfclub, und dass das Karfreitagsabkommen seit 20 Jahren nicht nur einen brüchigen Frieden in Nordirland sichert, sondern auch gleiche Wettbewerbsbedingungen in Nordirland und in der Republik vorschreibt, lässt Peter nicht gelten. Er meint, es gebe „kein Problem", das sei nur eine Erfindung des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Man könne ja eine „elektronische Grenze" errichten. Wie genau eine solche aussähe, kann er jedoch nicht sagen. Stattdessen schimpft er weiter über Juncker, für den er „keine Zeit" habe.
Zurück an meinem Tisch, ergreift Debbie, ebenfalls um die 50, das Wort. Sie arbeitet in einer Agentur, in die kleine und mittlere Unternehmen ihre Personalangelegenheiten outsourcen können. An der neuen EU-Datenschutzverordnung verdient sie gerade gutes Geld, deshalb findet sie sie gut. Ansonsten ist sie aber vehement für den Brexit, denn die EU reguliere viel zu viel. Außerdem ist sie der Ansicht, dass Ausländer in Großbritannien besser behandelt würden und zahlreicher vertreten seien als Briten im Ausland. Überhaupt – man höre in der Hauptstraße von Daventry kein Wort Englisch mehr. Ihr pflichtet Andy bei, der in seiner Freizeit Obdachlose betreut und meint, Rumänen und Bulgaren nähmen britischen Obdachlosen Schlafplätze und Essen weg. Beide sind überrascht, als ich ihnen sage, dass allein in Deutschland mehr als 100.000 Briten leben.
Ich stehe auf, hole mir einen Tee und gehe an die Luft. Ein unscheinbarer Mittzwanziger im smarten Anzug folgt mir und sagt leise zu mir: „Das ist alles Blödsinn. Erstens sollte sich Andy mal besser fragen, was mit unserer Gesellschaft nicht stimmt, weshalb wir überhaupt immer mehr Obdachlose haben. Zweitens ertrage ich dieses Geschwätz nicht mehr. Ich schweige, weil ich mir das seit Jahren anhören muss. Es ist deprimierend. Ich arbeite in der IT-Branche mit vielen jungen Kollegen. Niemand war für den Brexit. Inzwischen schweigen wir, weil wir es nicht mehr ertragen." Ähnliches sagt mir, hinter vorgehaltener Hand, eine Personalberaterin mit portugiesischen Wurzeln. Ihre Eltern kamen vor 40 Jahren ins Land, sie haben nie einen Penny an Sozialleistungen beantragt. Dennoch würden sie und andere mit Herablassung betrachtet. Aber auch sie schweigt nun, möchte Leute wie Peter und Debbie nicht provozieren, hat von der Debatte genug.
Angst vor Abschiebung
Eine weitere Autofahrt – unterwegs ist im Radio wieder ein Beitrag über Einwanderer, die sich nicht integrieren wollen – nach Walthamstow, einen östlichen Teil Londons. Dort leben inzwischen viele junge Leute. Die Wohnungspreise sind in den vergangenen Jahren explodiert, im Gegensatz zum Londoner Zentrum aber noch bezahlbar, wenn auch mit Schmerzen. Ich erlebte in der Kneipe vor eineinhalb Jahren erhitzte Debatten zwischen Austrittsgegnern und -befürwortern. Ich treffe nun auf eine Gruppe junger Leute und frage sie nach ihren Erwartungen zum Brexit. Einige möchten nichts sagen. Eine junge Frau mit italienischen, maltesischen und ägyptischen Wurzeln meint, Großbritannien sei nun einmal anders als der Rest der Welt. Deshalb wünsche sie sich, sie wäre zur Abstimmung gegangen und hätte für den Austritt gestimmt. Ihr geht der Prozess zu langsam. Ob sie für den Verbleib in der Zollunion und im Binnenmarkt sei, kann sie nicht sagen: „Das sind doch alles nur Details. Um die sollen sich die Politiker kümmern. Die sollen endlich handeln und austreten!" Einige schauen betreten in ihre Gläser, weitere Statements bekomme ich nicht. Einige Gesichtsmuskeln zucken, der Rest beißt sich auf die Lippen. Einer sagt noch, man sei das Thema leid. Man verliere die Übersicht und möchte nicht mehr streiten. Das Champions-League-Finale sei weniger konfliktträchtig.
Ich fahre zurück nach Rugby – unterwegs wird im Radio der Personalmangel in der Pflege thematisiert – laufe dort die Hauptstraße herauf und herunter, höre dabei bemerkenswert viel Englisch und versuche, weitere Geschäftsinhaber zu Statements zu bewegen. Darunter auch in Leiharbeitsfirmen, deren Angebote sich erkennbar ebenfalls an Einwanderer richten. Reden möchte niemand.
Nur der Inhaber eines polnischen Geschäfts, dem ich Anonymität zusichern muss, ist zum Gespräch bereit. Zu seiner Kundschaft gehören vor allem Osteuropäer, die hier Produkte aus ihren Heimatregionen kaufen. In jüngster Zeit seien es aber immer weniger. Gebürtige Briten verirrten sich ohnehin nie in seinen Laden, sie haben kein Interesse an unbekannten Lebensmitteln. Pjotr, wie wir ihn nennen wollen, sagt, die verbliebenen Kunden hätten Angst davor, abgeschoben zu werden. Viele gingen freiwillig. Wenn er jetzt noch Zoll auf seine Waren zahlen müsse, könne er dichtmachen.
Unterwegs zum Flughafen höre ich die Nachrichten. Es geht um die ehemalige Bürgermeisterin von Ipswich, eine gebürtige Dänin, die seit 40 Jahren im Vereinigten Königreich lebt. Sie hat einen britischen Pass beantragt, daraufhin wurde ihr das vor Jahrzehnten erteilte unbefristete Bleiberecht entzogen und für ungültig erklärt. Schon vor Wochen kam heraus, dass Theresa May, damals noch Innenministerin, Anweisung gegeben hatte, bei den britischen Behörden des Inneren ein für Einwanderer „feindliches Klima" zu schaffen. Wenn May politisch eines erreicht hat, dann das.