Daniel Zeichner und Guy Matthews könnten auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein. Doch den Labour-Abgeordneten und den eher unbekannten Labour-Aktivisten eint die Sorge um die Spaltung von Staat, Gesellschaft und Partei nach einem vollzogenen Brexit.
Das Dilemma ist echt. Eine Mehrheit der Labour-Wähler insgesamt stimmte im Jahr 2016 für den Verbleib in der EU. In den Kernlanden der Partei im Norden Englands aber stimmte die Mehrheit für den Austritt. Die Parteiführung um Jeremy Corbyn fährt daher seit zwei Jahren eine Art Doppelstrategie: Einerseits soll die Stammwählerschaft gehalten werden, andererseits benötigt die Partei noch mehr Stimmen, um ihr 40-Prozent-Ergebnis vom vergangenen Jahr zu übertreffen und im Unterhaus eine Mehrheit zu erzielen. Wie soll das gelingen? Wo rührt diese Spaltung des Landes und der Partei her? Und wie europäisch ist Großbritannien noch im Jahr 2018?
Die Konservativen möchten darüber nicht reden. Im Vorfeld der Recherche zu dieser Ausgabe hat der Autor nicht weniger als sieben Versuche unternommen, konservative Abgeordnete, deren Mitarbeiter, Pressesprecher oder konservative Brexit-Lobbygruppen für ein Gespräch zu gewinnen. E-Mails blieben unbeantwortet, Anrufe bürstete die Presseabteilung der konservativen Partei mehr oder minder höflich ab.
Parallel zu diesem paradoxen Geschehen war Daniel Zeichner dagegen bereit zu reden. Der Labour-Abgeordnete vertritt den Wahlkreis Cambridge, in dem knapp 74 Prozent der Einwohner für den Verbleib in der EU stimmten. Entsprechend hat Zeichner im Parlament abgestimmt: Er verstieß gegen die Fraktionsdisziplin, als Theresa May mit großer Mehrheit die Zustimmung des Parlaments erhielt, in Brüssel die Scheidung einzureichen. Auch sonst nutzte Zeichner jede Gelegenheit, die Werbetrommel für den Verbleib in der EU zu rühren. Dafür setzte er sogar seinen Traumjob aufs Spiel, den Posten des Verkehrsministers im Schattenkabinett der Opposition. Als er vor einem Jahr erneut gegen die Parteilinie stimmte, verlor er diesen Posten prompt. Bereut er den Schritt? War es das wert, in einer hoffnungslosen Abstimmung den Brexit aufhalten zu wollen? Zeichner muss nicht lange überlegen: „Ich habe meinen Wählern stets versprochen, gegen den Brexit zu stimmen, und dabei bleibe ich auch. Überzeugungen sind nicht beliebig. Meine Überzeugung ist, dass das Vereinigte Königreich ein Teil Europas ist und bleiben soll."
„Brexiteers sind wie trotzige Kleinkinder"
Zeichner spricht ruhig, ohne Pathos, aber bestimmt. Er sei, wie er betont, kein Rebell. Es gehe ihm nicht um Fundamentalopposition. Er rechnet sich deshalb keinem Parteiflügel zu: „Ich bin in erster Linie Labour-Abgeordneter." Da stellt sich die Frage, weshalb er in europäischen Fragen von der Parteilinie abweicht. Für ihn zählt die europapolitische Haltung seines Wahlkreises mehr als die Parteilinie. Zeichner verweist außerdem auf die Geschichte: „Wir waren in unserer Partei in Sachfragen schon öfter unterschiedlicher Meinung. Eine gewisse konstruktive Spannung in der Parteiführung schadet nicht. Die zeigt doch bloß, dass wir eine lebendige Demokratie sind." Ganz kann er sich einen Seitenhieb nicht verkneifen: „Im Übrigen wüsste ich gerne, welche Position die Konservativen vertreten. Sie lassen Bürger und Unternehmen im Ungewissen, haben bis heute keine klare Strategie und vergessen darüber hinaus völlig, dass sie nicht allein am Verhandlungstisch sitzen." Er gesteht ein, dass die Labour-Position zum Brexit nicht ganz klar ist, wobei weitgehend Konsens darüber besteht, die Zollunion nicht verlassen und zumindest eine Art von Freihandel mit der EU betreiben zu wollen.
Mit einer solchen Option könnten auch einige Konservative gut leben, die, wie Zeichner sagt, hinter mehr als nur vorgehaltener Hand ihrem Frust über den Schlingerkurs von Premierministerin Theresa May Ausdruck verleihen. Denn jede Regung derjenigen, die nach einer Kompromisslösung mit der EU suchen, wird vom dominanten rechtspopulistischen Flügel prompt mit lautem Gepolter beantwortet. So meinte kürzlich selbst die ehemalige Bildungsministerin Nicky Morgan, die Brexiteers seien wie trotzige Kleinkinder, die wütend mit den Füßen auf den Boden stampfen. Deren Kritik, nach der die EU für alles Schlechte verantwortlich ist, sieht auch Zeichner mit großer Sorge. Wie kann man ihnen begegnen?
Schon lange ist das Thema Einwanderung für die Konservativen zur Obsession geworden. So dominierte es in weiten Teilen die Abstimmung zum Brexit-Referendum. Manche wollen das nicht so stehen lassen. So zum Beispiel Guy Matthews. Der ansonsten unbekannte Labour-Aktivist aus Retford in Notthinghamshire veröffentlichte am 5. Mai bei Facebook eine regelrechte Brandrede, die mehr als 17.000 Nutzern gefiel und mehr als 12.000 Mal geteilt wurde:
„Mir sagte gerade so ein Ukip-Mensch, dass ich die Sorgen der weißen Arbeiterklasse nicht verstünde. Ich lebe in einer Sozialwohnung in den östlichen Midlands. Ich bin Labour-Mitglied. Ich komme aus einer weißen, angelsächsischen Protestanten-Familie. Bin ich stolz darauf? Nein. Das ist mir einfach nur passiert. Ich war nie an der Uni. Natürlich hieße ich lieber Herbert Fotherington-Smythe III., Graf von West Surrey. Ich hätte dann wohl kaum meinen 13. Geburtstag damit zugebracht, zuzusehen, wie meine Mama zum Heizen verdammte alte Schuhe abfackelte, weil wir uns keine Kohlelieferung leisten konnten. Aber das hätte mich zu jemand anderem gemacht. Also bin ich vielleicht doch ganz froh, daher zu kommen, wo ich nun mal herkomme. Ich verstehe die Sorgen der weißen Arbeiterklasse vollkommen, denn diese Sorgen halten mich bis drei Uhr nachts wach.
Wo der Ukip-Typ und ich uns unterscheiden, das ist die Frage, wem wir die Schuld geben, und wie man diese Missstände behebt. Der Kerl denkt, dass die weiße Arbeiterklasse sehr wichtig sei, vor allem deren weißer Anteil. Ich glaube, Arbeiterklasse bleibt Arbeiterklasse, unabhängig von der Hautfarbe. Der will schwarze Menschen loswerden, als ob das den Wohnungsmarkt oder das Gesundheitssystem retten oder die verdammten Züge billiger machen würde. Der ist dermaßen geblendet von der Hautfarbe, dass er für all diese Leute stimmt, die an seiner Misere schuld sind. Glaubt er ernsthaft, dass sich der konservative Hardliner Jacob Rees-Mogg oder Nigel Farage von Ukip einen Dreck für ihn interessieren, bloß, weil er weiß ist?
Tun sie nicht. Die interessieren sich einen feuchten Kehricht für jeden von uns, ob schwarz, weiß, braun. Himmel, selbst wenn wir lila wären, würde es sie einen Rotz interessieren, weil sie nur unsere Arbeitskraft möchten, ohne selbst einen Finger rühren zu müssen. Ich habe mit einem Bauarbeiter aus Jamaika mehr gemeinsam als mit Jacob Rees-Mogg; ich stehe einer polnischen Hotelkraft näher als Nigel Farage."
Guy Matthews und ich sind zum Tee verabredet. Ich habe ihn mir wütender vorgestellt, er spricht aber ruhig und gelassen. Guy ist vor dem Brexit-Referendum der Labour Party beigetreten, er wollte für den Verbleib die Werbetrommel rühren. Zuvor war er nie politisch aktiv gewesen, aber nun ist er es leid. Sein Vater bezeichnete sich als Konservativer aus der Arbeiterklasse. Er arbeitete in einem herrschaftlichen Haus als eine Art Gärtner. Bevor vor meinem geistigen Auge Szenen aus „Downton Abbey" entstehen, erzählt Guy von den mehr als 60 Prozent, die in der einstigen Arbeiterhochburg für den Austritt stimmten. Er erzählt von den EU-Zuwanderern, die sich dort niederließen, wo eben die Mieten niedrig waren, von ihren niedrigen Löhnen, ihrer harten Arbeit und von den Verteilungskämpfen zwischen britischen Habenichtsen und solchen aus anderen Ländern: „Natürlich haben die jede Arbeit angenommen, aber das ist doch nicht deren Schuld! Es ist auch nicht deren Schuld, wenn durch sie die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt wieder steigt und daher die Preise anziehen."
Ein Konservativer aus der Arbeiterklasse
Guy ärgert vielmehr, dass die Regierung von Mays Vorgänger Cameron als eine ihrer ersten Amtshandlungen in Zeiten der Sparpolitik den Fonds abschaffte, der strukturschwachen Regionen half, mit den Folgen der Einwanderung klarzukommen. Deshalb ist er in seiner knapp bemessenen Freizeit nun politisch aktiv, hat mit anderen zusammen eine Ortsgruppe von „Momentum" gegründet, jenen nicht unumstrittenen Aktivisten, die on- und offline ununterbrochen Labour im Wahlkampfmodus halten und den Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn bedingungslos unterstützen. Der Brexit, da ist sich Guy sicher, mache nichts besser. Er wünscht sich nun einen so sanften Austritt wie möglich, vor allem aber möchte er den Nährboden bekämpfen, auf dem dieser Populismus gedeiht.
Auch Daniel Zeichner macht sich keine Illusionen, was den Brexit betrifft. Er weiß, dass er ihn nicht aufhalten wird. Er ist längst im Modus der Schadensbegrenzung angekommen. Dazu gehört, möglichst enge Beziehungen mit der EU zu wahren. Im Gegensatz zu vielen anderen ist ihm bewusst, dass es neben Großbritannien noch andere Länder gibt, deren Regierungen in den Verhandlungen Interessen geltend machen. Aufgrund seines europäischen Blickwinkels sieht er daher die Entwicklungen in der EU mit großer Sorge. Den zunehmenden Rechtspopulismus, aber auch das den Griechen auferlegte Spardiktat. Das Brexit-Votum nimmt Zeichner als Resultat einer medialen Kampagne gegen Einwanderer wahr, ebenso als Resultat britischer Ignoranz gegenüber Europa. Aber auch Zeichner, Repräsentant eines weltgewandten, eher wohlhabenden Wahlkreises glaubt, dass die Sparpolitik großen Schaden angerichtet hat, in seinem Land wie in Europa. Auf die Frage, was er deutschen Lesern als Botschaft mitgeben möchte, sagt er: „Seid netter zu den Griechen!" Zu Hause wird er viel zu tun haben, die über Jahrzehnte andauernde Unterfinanzierung gerade der Labour-Herzlande im Norden umzukehren. Pro Kopf wird dort weniger als ein Zehntel der Mittel in Infrastruktur investiert als im Südosten der Insel. Der Aktivist Guy Matthews wird ihm sicher gerne dabei helfen.