Vor 70 Jahren, am 24. Juni 1948, begann die Berlin-Blockade. Unser Autor hat diese Zeit selbst als Kind erlebt und erinnert sich an die Entbehrungen, aber auch an die Schokoladenflieger und jede Menge Abwechslung dank berühmter Politiker, Künstler und Schriftsteller.
Mutter hatte sich alle Mühe gegeben, aber die Trockenkartoffeln schmeckten scheußlich. Damals im Blockadewinter 1948/49 war es schmackhafter, den Kartoffelbrei „Pom" zusammen mit einem kunstvoll gefertigten Omelett aus Eipulver und Trockenmilch auf dem Teller zu haben. Fast alles Essbare kam getrocknet via Luftbrücke in die von den Sowjets abgeriegelten Westsektoren von Berlin: die Mohrrüben, der Fisch, die Pflaumen, selbst der Brennspiritus – nur nicht der Zichorienkaffee, die Bücher und die 200 Tonnen Papier pro Woche für den Druck der zehn Westberliner Tageszeitungen.
Statistiker haben für die Zeit vom Beginn der Luftbrücke am 26. Juni 1948 bis zum Ende der Blockade am 12. Mai 1949 beachtliche Zahlenkolonnen zusammengestellt: Knapp zweieinhalb Millionen Tonnen Versorgungsgüter wurden mit fast 300.000 Flügen nach Berlin transportiert. Zwei Drittel der Flüge gingen auf das Konto der Amerikaner, ein Drittel übernahmen die Briten. Etwa 175 Millionen Flugkilometer haben die „Rosinenbomber" der Alliierten dabei zurückgelegt. Das soll einer Entfernung entsprechen, die 200 Mal von der Erde bis zum Mond reicht. Aus Dankbarkeit haben ihnen die Berliner dafür vor dem – inzwischen stillgelegten – Flughafen Tempelhof ein Denkmal gesetzt, dem der Volksmund den respektlosen Namen „Hungerkralle" gab.
Die Angaben darüber, in welchen Abständen die Propellermaschinen vom Typ Dakota, Skymaster oder Globemaster auf den Flughäfen Tempelhof, Gatow oder Tegel landeten und starteten, schwanken erheblich. Sie reichen vom 62-Sekunden- bis zum Acht-Minuten-Takt – nicht zuletzt deshalb, weil es in jener Zeit noch keine Radarkontrolle gab und der Flugverkehr völlig von der Wetterlage abhängig war. Auch Sunderland-Flugboote landeten und starteten zur Blockade-Zeit regelmäßig auf der Berliner Havel.
Der Hunger war in den Tagen von Blockade und Luftbrücke in Westberlin ein weit verbreitetes Gefühl. In den Vorgärten und auf den Balkonen wurde Gemüse angebaut, und das Gelände rund um die Siegessäule im Berliner Tiergarten verwandelte sich zum weiten Ackerland mit ertragreicher Kartoffelernte. Unsere Nachbarin, die zeitlebens Russen und Kommunisten verfluchte, kannte zwar weder Brecht noch seine „Dreigroschenoper", verfuhr aber dennoch nach der Maxime „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral". Sie gehörte zu jenen 20.000 unter den zweieinhalb Millionen Westberlinern, die von dem Ost-Angebot Gebrauch machten, die Lebensmittelkarten des Sowjetsektors in Anspruch zu nehmen.
Und selbst der spätere US-Außenminister John Foster Dulles zweifelte angeblich bei seinem Berlin-Besuch im Oktober 1948 daran, dass die Westberliner Bevölkerung durchhalten würde. Es heißt, Oberbürgermeister Ernst Reuter habe den amerikanischen Gast und auch den Luftbrücken-General Lucius D. Clay beruhigen können. Reuter wusste offenbar, was er seinen Bürgern in dieser heißen Phase des Kalten Krieges zumuten konnte: „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!"
Hilfslieferungen kamen aus vielen Staaten und aus „Westdeutschland", wie die Westberliner seit den Blockadetagen die damals im Entstehen begriffene Bundesrepublik zwischen Rhein und Elbe nannten. Die Währungsreform in den Westzonen und die Absicht der drei Westmächte zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland hatten ja die Sperrung der Land- und Wasserwege von und nach Berlin-West durch die Sowjets zur Folge gehabt. Und als in Washington, London und Paris schon daran gedacht wurde, die drei Westsektoren den Sowjets zu überlassen, organisierte der legendäre US-General Lucius D. Clay – nicht zuletzt auf Drängen von Ernst Reuter – im Juni 1948 die Operation „Airlift". Aus Dankbarkeit wurde im damaligen amerikanischen Sektor von Berlin eine Straße – die Clayallee – nach ihm benannt, an der Präsident Kennedy genau 15 Jahre später bei seinem Berlin-Besuch im Juni 1963 eine mitreißende Rede an die in der Stadt stationierten US-Streitkräfte hielt.
Kinder verehrten den „Schokoladenflieger"
Das Brummen der Flugzeugmotoren war die Begleitmusik an den Tagen und in den Nächten der Blockadezeit. Die Kinder liefen zum Tempelhofer Feld, denn ein US-Pilot namens Halvorsen hatte neben der Operation „Airlift" seine Operation „Little Vittles" gestartet. Er bastelte kleine Fallschirme, hängte Schokolade und Süßigkeiten dran und warf sie beim Landeanflug über Neukölln und Tempelhof ab. So wurde Halvorsen zum bis heute geehrten „Schokoladenflieger". Seine Landsleute in den USA fanden diese Idee so prächtig, dass zahllose Freiwillige Tausende solcher kleinen Fallschirme anfertigten, damit die Süßwaren und der Kaugummi nun tonnenweise auf die begeisterten Berliner Kinder niedergingen.
Drunten am Boden plagten sich die Menschen mit den Stromsperren, denn Elektrizität gab es oft nur für zwei Stunden am Tag – und zumeist in der Nacht. Dann bügelten die Hausfrauen oder nahmen den heißbegehrten Termin beim Friseur wahr. Bei Kerzenlicht, Karbid- oder Petroleumlampe lasen wir „Robinson Crusoe" oder „Onkel Toms Hütte" und bekamen erste Eindrücke von dem Freiheitsgedanken, den uns die Amerikaner im Zuge ihrer Re-Education vermitteln wollten: „Ich glaube an die Würde und die Unantastbarkeit jedes einzelnen Menschen." Für uns war das Saint Petersburg von Tim Sawyer und Huckleberry Finn in Berlin-Neukölln, im amerikanischen Sektor Berlins, mit Schlagball und Kaugummi, mit der Schulspeisung von den Quäkern und dem ersten Wildwestfilm, der den martialischen Titel „Die Frau gehört mir!" trug. Mit American Forces Network (AFN), dem Rundfunk der US-amerikanischen Streitkräfte, und dem Rias, dem Rundfunk im amerikanischen Sektor, – jede Woche lehrte uns der Kommentator Alfred Boerner, was Demokratie bedeutet – und der „Stimme Amerikas", mit Jazz und Swing, George Gershwin und Glenn Miller, „White Christmas" und „Ol’ Man River".
Das Jahr der Blockade machte die Deutschen und Amerikaner zu Freunden in Berlin. Der Alltag war nicht nur entbehrungsreich, sondern auch voller Abwechslungen. Politiker, Künstler und Schriftsteller kamen nach Westberlin. Yehudi Menuhin und Paul Hindemith gaben Konzerte. Thornton Wilder verbreitete optimistische Botschaften vom unverwüstlichen Lebens- und Aufbauwillen der Nachkriegszeit: „Wir sind noch einmal davongekommen." Der skurrile Schweizer Weltverbesserer Jakob Kuny zog über den Kurfürstendamm und predigte die „freie Liebe". Sein studentisches Publikum reichte ihm Veilchen und Rosen, und in den Beifall und das Gelächter hinein rief Kuny den Satz „Wir können die Menschen nicht noch verrückter machen, als sie schon sind!".
Im Grunewald waren zur Brennstoffversorgung 200 Holzfäller am Werk, im Niemandsland an der Berliner Schillingbrücke agierten die Schmuggler und Schieber und im Bezirk Reinickendorf wurde erfolglos nach Braunkohle gebohrt. Als die Lautsprecherwagen des Rias bei ihren pausenlosen Einsätzen zur Nachrichtenvermittlung das Ende der Blockade für den 12. Mai 1949, Null Uhr, ankündigten, hatte Westberlin seinen Ruf als „Bollwerk der Freiheit" erworben. Im gleichen Monat wurde die Bundesrepublik mit der vorübergehenden Hauptstadt Bonn gegründet. Und als im Oktober 1949 das letzte Flugzeug der Operation Airlift ausrollte, marschierte ein Fackelzug der Freien Deutschen Jugend, durch Ostberlin, um die Gründung der DDR zu feiern.