Synästhesie ist eine Begabung, eine Besonderheit in der Wahrnehmung, die bei bis zu fünf Prozent der Menschen anzutreffen ist. Es handelt sich umgangssprachlich um eine Sinnesvermischung, bei der eigentlich getrennte Sinneseindrücke im Gehirn miteinander verknüpft werden.
Das Phänomen beschäftigte schon den englischen Naturforscher Isaac Newton im Zeitalter des Barock. Der bedeutende Wissenschaftler nahm allerdings fälschlicherweise an, dass dieses letztendlich auf vergleichbaren Frequenzen von Licht und Tönen beruhte. Heute wissen wir, dass die Ursache für Synästhesien rein biologischer Natur ist. Den Begriff selbst hatte 1866 der französische Physiologe, Neurologe und Pathologe Alfred Vulpian aus dem Griechischen „syn" (zusammen) und „aisthesis" (Wahrnehmung) geprägt. Damit wollte er die von ihm beobachteten Empfindungen von Menschen beschreiben, die Zahlen, Buchstaben oder Töne vor ihrem inneren Auge immer mit einer bestimmten Farbe verknüpften.
Nach Vulpian begann man verstärkt mit der Erforschung dieses seltsamen Phänomens, ohne jedoch recht weiterzukommen. Die Schilderungen waren einfach zu individuell und es schien unmöglich, deren Wahrheitsgehalt wissenschaftlich zu überprüfen. Erst in den 1980er-Jahren, nachdem der US-Neurologe Richard E. Cytowic ein wichtiges Werk zum Thema Synästhesie mit dem Titel „The Man Who Tasted Shapes" veröffentlicht hatte, fanden sich durch die technischen Fortschritte in der Hirnforschung, insbesondere mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (MRT), doch noch Methoden, um dem Phänomen rund um die Nervenvernetzungen des Gehirns auf die Schliche zu kommen. Aber eigentlich kann erst seit gut einem Jahrzehnt von einer wirklich systematischen Erforschung der Synästhesien auf neurologischer Ebene gesprochen werden. „Synästhesie ist eine genetische Disposition im gesunden Menschen, die dazu führt, dass Sinneseindrücke, die normalerweise nicht miteinander verknüpft sind, miteinander verknüpft werden", so der kognitive Neurowissenschaftler Prof. Peter Weiss-Blankenhorn vom Jülicher Institut für Neurowissenschaften und Medizin.
Die Ursachen für dieses Phänomen sind auch heute noch nicht wirklich bekannt, es sind diesbezüglich lediglich verschiedene Theorien im Umlauf. Allgemein wird aber eine genetische Veranlagung vorausgesetzt. Wie viele Menschen die neurologische Besonderheit aufweisen, ist schwer zu bestimmen. Es gibt eine hohe Dunkelziffer, weil vielen Synästheten gar nicht bewusst ist, dass sie diese Begabung haben und voraussetzen, dass auch ihre Mitmenschen Töne, Musik oder Sprache mit Farben automatisch verknüpfen.
Weiss-Blankenhorn schätzt die Zahl der Synästheten auf zwei Prozent der Bevölkerung. Die britische Wissenschaftlerin Julia Simner von der Universität Edinburgh konnte im Rahmen einer Studie mit 500 Teilnehmern 4,4 Prozent als Synästheten ermitteln. Der Diplom-Psychologe und Synästhesie-Experte Gregor Volberg von der Universität Regensburg leitet daraus einen Mittelweg für seine Schätzung ab: „Wahrscheinlich haben zwischen zwei und fünf Prozent der Menschen irgendeine Form der Synästhesie." Der Neurologe Prof. Lutz Jäncke von der Universität Zürich hält es sogar für möglich, dass noch viel mehr Menschen Synästheten sein könnten, dass vielleicht sogar alle Menschen der Synäthesie fähig sein könnten, wenn sie nur richtig dafür trainieren könnten. Diverse Studien konnten belegen, dass Säuglinge bis zu einem Alter von vier Monaten auf fast alles, was um sie herum geschieht, mit gleichzeitigen Aktivierungen in verschiedenen Gehirnarealen reagieren.
Verschiedene Formen
Forscher erklären die genuine, sprich echte oder angeborene Synästhesie damit, dass jeweils zwei unterschiedliche Sinneswahrnehmungen im Gehirn miteinander verknüpft werden. Normalerweise sind die Gehirnzentren für die fünf Sinne Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Fühlen voneinander getrennt. Bei Synästheten hingegen löst ein einzelner Sinnesreiz weitere Wahrnehmungen aus, es kommt umgangssprachlich zu einer Sinnesvermischung. Als Erklärung dafür ist die Hyperkonnektivität-Hypothese weit verbreitet. Sie besagt, dass zwischen Hirnarealen, die normalerweise nicht oder wenig verbunden sind, ein übermäßiger Austausch besteht und dass bestimmte Teile des Gehirns bei Synästheten einfach viel stärker miteinander vernetzt sind (Hyper-Binding-Theorie).
Möglicherweise ähnlich wie bei Babys, eine Theorie erklärt die Hyperkonnektivität gewissermaßen als Relikt der Fötus- und Babyzeit. Während sich neuronale Verbindungen, die im Hirn von Föten beziehungsweise Babys noch vorhanden sind, bei den meisten Menschen im Laufe des Erwachsenwerdens zurückbilden, bleiben sie bei Synästheten intakt. Wenn das Gehirn von Geburt an stärker vernetzt ist, kann sich, so die Vermutung Lutz Jänckes, je nach Person eine eigene Vorliebe für die Sinnesverknüpfung entwickeln. „Durch bestimmte Erfahrungen entwickeln sich auf der Basis dieses Gehirns dann Präferenzen", so Jäncke. „Weil wir viel lesen, entwickeln die meisten eine Graphem-Farb-Synästhesie. Und diejenigen, die mit Musik zu tun haben, entwickeln dann eher eine Ton-Farb-Synästhesie."
Die relative Häufigkeit der genannten Graphem-Farb-Synästhesie, der Verknüpfung von Buchstaben und/oder Zahlen mit einem ganz bestimmten Farbeindruck, wird aber häufig auch durch die unmittelbare Nachbarschaft des Farb- und Buchstabenareals im Gehirn erklärt. Das kann den Austausch und die gegenseitige Vernetzung natürlich enorm fördern. Als häufigste Form gilt allerdings das Farbenhören, Coloured Hearing oder die Musik-Farb-Anästhesie. Wobei Musik und/oder Geräusche gleichzeitig mit einer bestimmten Farbe und/oder geometrischen Formen wahrgenommen werden. Experten haben schon bis zu 63 verschiedene Synästhesie-Arten aufgespürt, manche ganz selten auftretend, andere wie die Person-Farb-Synästhesie (bei der Persönlichkeiten immer mit einer bestimmte Farbe visualisiert werden) oder die Zeit-Raum-Synästhesie (bei der Zeitintervalle wie Tage, Wochen, Monate oder Jahre visuell durch geometrische Formen und/oder Farben visuell kartografiert werden) hingegen häufiger verbreitet sind.
Es kommt aber auch vor, dass Geschmacksrichtungen, Gerüche oder Körperempfindungen (beispielsweise Schmerz) durch eine synästhetisch visuelle Empfindung begleitet werden. So können beispielsweise bestimmte Wörter automatisch spezielle Geschmacksempfindungen auslösen, oder der Schmerz tritt immer in einer ganz bestimmten Farbe oder Form auf. Neben der genuinen Synästhesie gibt es auch noch die Gefühlssynästhesie, bei der Emotionen samt sinnlicher Bebilderung durch Sinneswahrnehmungen hervorgerufen werden. Da sich Gefühle recht schwer reproduzieren lassen, ist diese Ausbildung der Synästhesie noch so gut wie unerforscht.
Auch wenn die Deutsche Synästhesie-Gesellschaft darauf hinweist, dass Synästheten gelegentlich mit Reizüberflutungen, Aufmerksamkeitsstörungen oder räumlichen Orientierungsschwierigkeiten zu kämpfen hätten, so bleibt doch festzuhalten, dass Synästhesie ein gesundes Phänomen und keine Krankheit ist. Synästheten profitieren oft davon, dass sie über eine ausgeprägte Kreativität verfügen oder sehr intuitiv sind. Neben der Kreativität und Hochsensibilität sind Hochbegabung und ausgeprägte Gedächtnisleistungen an der Tagesordnung. Synästhesie ist daher generell als Begabung anzusehen.