Wo heute der „Wintergarten" an der Potsdamer Straße residiert, war in den 1970er- und 80er-Jahren das „Quartier Latin" – einer der beliebtesten Konzertorte im alten Westberlin. Ein Bildband lässt jetzt die turbulente Geschichte der früheren Kult-Location aufleben.
Marco Saß war erst sieben, als seine Eltern Manfred ‚Manne‘ und Christa Saß 1972 das Quartier Latin übernahmen. Er wuchs sozusagen im Quartier auf, verkaufte schon als Kind Pizza und machte mit 14 die ersten Fotos. Manchmal, wenn er zur Schule ging, kam er am vorderen Tresen vorbei, und da standen immer noch Übriggebliebene vom Vorabend und wollten nicht gehen. Marco hatte die Kamera parat – und fotografierte im Lauf der Jahre eine Menge Leute, die im Quartier auftraten oder Stammgäste waren. Stars ebenso wie Künstler, die in Vergessenheit gerieten. Oder nie so richtig bekannt wurden.
Manche Namen zergehen auf der Zunge. Es klingt fast wie ein Who’s who der Rock-Pop-Jazz-Geschichte, was da an Gesichtern in dichter Atmosphäre festgehalten ist: Chet Baker, Pat Metheny, John Mayall, Sun Ra, Django Edwards, Annie Lennox, aber auch Gitte Haenning, Kurtis Blow, Interzone. Oder Hannes Wader, Nena, Grobschnitt, die Erste Allgemeine Verunsicherung, Pankow ...
Marco Saß’ Fotos sind Schätze, die er bislang nur selten öffentlich gezeigt hat. Für die Arbeit an dem Buch übers „Quartier Latin" aber hat er so einiges aus seinem Fundus hervorgeholt – auch Repros von Plakaten sind dabei. Zu den Auftritten der San Francisco Mime Troupe 1985 beispielsweise oder vom Abschiedskonzert von Floh de Cologne – das war im Jahr 1983. Zu solchen und anderen Konzerten kamen bis zu 1.000 Zuhörer. Schummrig war es und eng. Die Wände waren noch aus der Kinozeit mit Schaumstoff und Noppen bespannt.
Begonnen hat die Geschichte des Hauses jedoch viel früher mit Franz und Frieda Lipperheide. Sie gründeten 1865 den Verlag Franz Lipperheide und erwarben dafür das Haus an der Potsdamer Straße 96. Der Verlag brachte hier eine ganze Reihe von Zeitschriften heraus, deren erfolgreichste „Die Modenwelt" war. Ab 1874 wurde sie als „Illustrierte Frauen-Zeitung" publiziert, redaktionell verantwortlich war Frieda Lipperheide. Die Zeitschrift verkaufte sich auch außerhalb Deutschlands gut. Das Ehepaar Lipperheide begann 1870 eine Sammlung zur Kulturgeschichte von Mode und Kleidung aufzubauen, die 1899 den Königlichen Museen zu Berlin als „Sammlung für Kostümwissenschaft" gestiftet wurde. Noch heute gilt sie als die weltgrößte ihrer Art.
Schummrig, eng und prickelnd vor Leben
In den Gesellschaftsräumen des Lipperheideschen Hauses traf sich, wer im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts Rang und Namen hatte. Auch Theodor Fontane war unter den Gästen. 1913 wurde in dem Gebäude ein Kino für 1.000 Zuschauer eingerichtet: Die „Biophon-Theater-Lichtspiele", kurz BTL, fanden hier ihr Zuhause. Aufgeführt wurden durchaus auch provokante Werke, beispielsweise „Die Prostitution", ein Aufklärungsfilm des Regisseurs Richard Oswald von 1919. Star dieses Stummfilms war die Tänzerin Anita Berber. Das Kino lief gut, eine Karte gab es zum Preis von 20 Pfennig. Gut 50 Jahre lang konnte sich das Lichtspielhaus gegen die vielen Veränderungen, die Aufs und Abs an der Potsdamer Straße behaupten. Bis 1968 – dann schloss es nach vielen Besitzerwechseln endgültig.
Der Saal aber lockte weiterhin Gäste. Sie kamen ins Ballhaus „Veilchen am Potsdamer Platz", das später auch als Adresse für türkische Feiern genutzt wurde. Um 1970 zogen dann Betreiber mit einem ganz anderen Konzept in den mittlerweile etwas heruntergekommenen Veranstaltungsort: Mit der Studentenbewegung Ende der 60er-Jahre wurden in Berlin zahlreiche kleine Clubs gegründet, nicht nur für Bands, sondern auch für Polittheater.
Neben dem „Steve Club" und dem „Quasimodo" mauserte sich ab 1970 besonders das „Quartier Latin" zu einem der Zentren der 68er. Ein paar Freunde hatten das ehemalige Kino gepachtet, bauten es um, benannten es wohl nach dem Pariser Viertel Quartier Latin. 1972 übernahmen dann Manne und Christa Saß den Veranstaltungsort. Der wurde bis 1989 zur Bühne nicht nur für Jazzgrößen wie Charles Mingus, Art Blakey und Jan Garbarek, sondern auch für Bluessänger wie John Lee Hooker oder Champion Jack Dupree. Natürlich waren auch Rock- und Punkbands und -musiker zu Gast wie Nico, die Scorpions, Rio Reiser und Ton Steine Scherben, Herbert Grönemeyer und Udo Lindenberg. Andere absolvierten bei ihren Berlin-Gastspielen erst einmal Konzerte in größeren Hallen, kamen im Anschluss ins „Quartier Latin", um hier spätabends noch in kleinerem Rahmen weiterzuspielen.
Zwischen 1973 und 1990 lud das „Quartier Latin" jedes Jahr zum „Total Music Meeting", eine Art Gegenstück zu den Berliner Jazztagen. Die Idee dazu hatte Jost Gebers, der auch Produzent war. Er organisierte das Festival in enger Absprache mit den beteiligten Musikern. Peter Brötzmann, Peter Kowald und Alexander von Schlippenbach bildeten den „Inner Circle" dieser Konzertreihe. Sie und Albert Mangelsdorff brachten hier eine neue Richtung des Jazz auf die Bühne, während das offizielle Jazz-Fest auch den Mainstream bediente.
Die ganze Bandbreite von den Scorpions bis zu Peter Brötzmann
Doch ganz gleich, ob Jazz, Rock, Blues, Punk – im „Quartier Latin" waren immer wieder neue Musiktrends mitzuerleben. Die Berliner Bands „Einstürzende Neubauten" und „Element of Crime" traten auf, Nina Hagen spielte hier das erste Mal vor größerem Publikum in Westberlin. Der Berliner Senat veranstaltete im Quartier seinen Senatsrockwettbewerb, der einer ganzen Reihe junger Bands zu Erfolg verhalf, unter anderem den „Ärzten" oder den „Rainbirds".
Dennoch wurde es immer schwieriger, den Konzertort wirtschaftlich zu betreiben. Silvester 1989 schloss das „Quartier Latin" seine Türen. Seitdem hat es sich zu einem Mythos entwickelt – wegen seiner turbulenten und vielschichtigen Geschichte, wegen der überwältigenden Bandbreite an Musikern und Bands, die hier ein und aus gingen. Klar, dass sich um den Kultort auch Tausende Histörchen ranken. Viele von denen seien allerdings erfunden, sagt Marco Saß lachend.
Wie es wirklich gewesen ist, kann man in seinem Buch bald auf rund 400 Seiten nachlesen – gerade noch läuft eine Crowdfunding-Aktion, um den Druck zu finanzieren.