In diesem Jahr finden die Leichtathletik-Europameisterschaften in Berlin statt. Die Aussicht, an der EM im eigenen Land teilnehmen zu können, hat einige deutsche Leichtathleten beflügelt. Die Ergebnisse zum Saisonstart können sich sehen lassen. Doch es gibt auch Sorgenkinder.
Viktoria Gottlieb konnte ihr Glück kaum fassen. Mit einer Bestleistung von 1,80 Meter war die Hochspringerin aus Wattenscheid in das Leichtathletik-Meeting in Weinheim gegangen, doch als der Wettkampf zu Ende war, hatte sie diese Marke regelrecht pulverisiert. Gleich um zehn Zentimeter konnte sich Gottlieb an diesem Tag verbessern und erfüllte mit 1,90 Meter sogar die Norm für die Europameisterschaften vom 7. bis 12. August in Berlin. Damit hatten selbst die kühnsten Optimisten nicht gerechnet, wahrscheinlich nicht einmal sie selbst. Doch in den ersten Wochen der laufenden Saison hat sich nun schon mehrfach gezeigt, dass die Aussicht, an der EM im eigenen Land teilnehmen zu können, nicht nur den Hochspringern regelrecht Flügel verleiht.
Es ist das gleiche Bild wie vor den Weltmeisterschaften 2009 in Berlin. Auch damals hatte die WM im eigenen Land bei vielen Athleten ganz neue Kräfte freigesetzt. Blättert man durch die aktuelle deutsche Bestenliste, dann tauchen auf den vorderen Plätzen einige Namen auf, die man dort eher nicht erwartet hätte. So ist der beste Sprinter über 100 Meter momentan nicht Julian Reus – der deutsche Rekordhalter hat seinen Saisonstart aufgrund von Oberschenkelbeschwerden erst einmal verschoben. Stattdessen steht Michael Pohl ganz oben, der mit 10,22 Sekunden ebenso wie Lucas Jakubczyk (10,24 Sekunden) bereits die EM-Norm erfüllt hat. Pohl vom Sprintteam Wetzlar bezeichnet sich selbst als Deutschlands schnellsten Hobbyläufer, weil er sich seine Trainingspläne selbst schreibt und gerade einmal sechs Stunden pro Woche trainiert. Mehr ist neben Studium und Beruf nicht drin.
Auch bei den Frauen hat sich mit der jungen Berlinerin Lisa-Marie Kwayie eine Sprinterin in den Vordergrund gelaufen, die im Vorfeld höchstens als Außenseiterin auf einen der Staffelplätze galt – wenn überhaupt. Daran änderte sich auch dann nichts, als sie Ende April als erste Deutsche die EM-Norm unterbot. Nachdem ihr das inzwischen allerdings noch zwei weitere Male gelungen war, ist mittlerweile sogar ein Start im Einzel nicht mehr ausgeschlossen.
„Wir pushen uns gegenseitig zu Spitzenleistungen"
Die Liste der Aufsteiger in der deutschen Leichtathletik ließe sich beliebig fortsetzen. Ob Natalie Tanner und Miriam Dattke über 10.000 Meter, ob Siebenkämpferin Louisa Grauvogel aus dem Saarland, die außer im Mehrkampf auch über 100 Meter Hürden die Norm knacken konnte, oder 3.000-Meter-Hindernisläuferin Elena Burkard, die bislang sogar schneller war als die amtierende Europameisterin Gesa Felicitas Krause: Sie alle zählen zu den positiven Überraschungen der Saison. Gleiches gilt für Weitspringer Stephan Hartmann aus Berlin, der in dieser Saison bereits eine Weite von 8,20 Meter zu Buche stehen hat. Er galt schon in der Jugend als großes Talent, die Teilnahme an der EM in Berlin schien ausgemachte Sache. Doch je näher dieses Ereignis in den vergangenen Jahren zeitlich rückte, desto weiter schien es sich sportlich zu entfernen. Immer wieder wurde Hartmann von Verletzungen ausgebremst, ehe er im Frühjahr endlich die Ursache für die Schmerzen herausfinden konnte. Gerade noch rechtzeitig, um bei der EM in seiner Heimatstadt dabei zu sein.
Und sogar eine ganze Disziplin ist im Aufschwung. Nachdem die Gehwettbewerbe der Frauen bei internationalen Großereignissen sechs Jahre lang ohne deutsche Beteiligung stattgefunden hatten, haben sich dieses Mal gleich drei junge Geherinnen qualifiziert.
Es geht also ein Ruck durch die heimische Leichtathletik-Szene. Eine Medaille wird in Berlin allerdings wohl keiner der genannten Sportler gewinnen. Diese Aufgabe haben andere Athleten. Allen voran die Speerwerfer, die nach dem Olympiasieg 2016 von Thomas Röhler und dem Weltmeistertitel 2017 von Johannes Vetter die dritte Goldmedaille in Folge gewinnen wollen.
Deutschland ist auch in diesem Jahr wieder die dominierende Speerwurfnation. In der Weltrangliste stehen mit Vetter (92,70 Meter), Röhler (91,78 Meter) und Andreas Hofmann (92,06 Meter) gleich drei Deutsche ganz vorn. Acht 90-Meter-Würfe hat das Trio in dieser Saison schon abgefeuert – der Rest der Welt noch gar keinen. „Wir werfen auf einem Niveau, an das derzeit in der Welt niemand herankommt und pushen uns gegenseitig zu Spitzenleistungen", sagte Thomas Röhler nach seinem Sieg beim Meeting in Dessau. Wie hoch das Niveau hierzulande ist, zeigt auch das Beispiel von Bernhard Seifert: Der Potsdamer ist mit 85,17 Meter derzeit der achtbeste Werfer Europas – in Deutschland aber mit einem Rückstand von sechseinhalb Metern nur die Nummer vier und damit vermutlich chancenlos im Kampf um die EM-Tickets.
Schon träumen einige davon, dass in Berlin sogar ein „Sweep" herausspringen könnte – Gold, Silber und Bronze für die deutschen Speerwerfer. Die Protagonisten haben jedoch stets betont, dass die Konkurrenz aus dem Ausland keinesfalls zu unterschätzen sei. Als Warnung vor allzu optimistischen Prognosen dient auch das Meeting in Turku (Finnland), wo anstelle der Deutschen zuletzt der Este Magnus Kirt gewonnen hatte.
Qualität und Quantität stimmen auch im Diskuswerfen, wo schon jetzt elf Athleten die EM-Norm übertreffen konnten – bei den Männern fünf, bei den Frauen sogar sechs. Startplätze gibt es aber jeweils nur drei, sodass die deutschen Meisterschaften vom 20. bis 22. Juli in Nürnberg zu einem echten Ausscheidungswettkampf werden. Ausgerechnet einer der bekanntesten deutschen Leichtathleten überhaupt steht dabei mit dem Rücken zur Wand: Robert Harting ist in seiner letzten Saison momentan nur die Nummer fünf und droht damit die Europameisterschaften in seinem selbsternannten „Wohnzimmer", dem Berliner Olympiastadion, zu verpassen. Harting wird seine Karriere am Ende der Saison beenden, die EM sollte eigentlich der krönende Abschluss seiner erfolgreichen Laufbahn werden. Doch dann bekam der inzwischen 33-Jährige erneut Knieprobleme, die Quadrizepssehne im rechten Knie war gerissen. Trotzdem kämpft er für seinen Traum, und man sollte ihn keineswegs abschreiben.
Wie ein gelungenes Comeback aussieht, zeigt in dieser Saison Kugelstoßerin Christina Schwanitz. Sie war allerdings nicht verletzt, sondern hatte aufgrund der Geburt von Zwillingen eine Zeitlang ausgesetzt. Nun ist die Weltmeisterin von 2015 zurück und hat sich mit einer Weite von 19,50 Metern gleich wieder an die Spitze der europäischen Jahresbestenliste gesetzt. Nach den beiden EM-Titeln 2014 und 2016 könnte Schwanitz in Berlin das Triple gelingen, das in der Geschichte der Europameisterschaften bislang erst eine Kugelstoßerin geschafft hat.
„Ich habe den Spaß verloren"
Von Gold darf auch Weitspringerin Malaika Mihambo träumen, die mit 6,99 Metern momentan Platz eins in Europa belegt. Nur ein Zentimeter fehlt ihr noch zur magischen Sieben-Meter-Marke. In guter Verfassung haben sich in diesem Sommer auch schon Hindernismann Martin Grau und Langstreckenläufer Richard Ringer präsentiert. Bei den Frauen konnten Speerwerferin Christin Hussong aus Zweibrücken und Hürdensprinterin Cindy Roleder in den ersten Wettkämpfen bereits mit guten Leistungen aufwarten. Dagegen muss sich Roleders Disziplinkollegin Pamela Dutkiewicz, die 2017 sowohl bei der Hallen-EM als auch bei den Weltmeisterschaften im Freien jeweils Bronze gewonnen hatte, aufgrund einer Muskelverletzung noch in Geduld üben. Stabhochspringerin Lisa Ryzih hat ebenfalls noch keine Leistung stehen, doch das kommt bei ihr häufiger vor. Die Vize-Europameisterin von 2016 steigt gern erst spät in die Saison ein und benötigt dann meist nur wenige Wettkämpfe, um in Topform zu sein.
Einer der Stars der deutschen Leichtathletik wird bei den Europameisterschaften aber in jedem Fall fehlen. Zehnkämpfer Rico Freimuth, vor drei Jahren WM-Dritter und im vergangenen Jahr sogar Vizeweltmeister, hat seine Saison bereits beendet. „Ich habe eine mentale Müdigkeit bemerkt, eine Ermüdung. Ich habe den Spaß verloren", sagte er dem MDR. „Mein Körper muss resettet werden." Der Mehrkämpfer will aber spätestens zu den Olympischen Spielen 2020 in Tokio (Japan) wieder dabei sein.