Bundestrainer Joachim Löw strich neben den drei halbwegs erwarteten Kandidaten Bernd Leno, Jonathan Tah und Nils Petersen überraschend auch Leroy Sané aus dem WM-Aufgebot. Dafür erntete er Kritik, zum Beispiel von Michael Ballack.
Michael Ballack dachte offenbar, er habe sich verhört. Und kurz nachdem er die Nachricht vom WM-Aus für Leroy Sané bekam, teilte der England-Kenner und ehemalige „Capitano" der Nationalmannschaft seine Verwunderung öffentlich mit. „Löw setzt sich mit dieser Entscheidung selbst massiv unter Druck", twitterte Ballack. „Der beste junge Spieler der Premier League muss zu Hause bleiben. Jogi, nicht dein Sane-Tag heute?"
So wie Ballack reagierten viele. Es war klar, dass Löw wieder einmal vier Spieler aus seinem 27 Mann starken vorläufigen Aufgebot wird streichen müssen. Und als „Favoriten" wurden fast überall dieselben gehandelt. Bernd Leno oder Kevin Trapp, falls Manuel Neuer, wie geschehen rechtzeitig fit wird. Jonathan Tah, weil er ohnehin nur als Back-up für den angeschlagenen, aber letztlich auch fitten Jérôme Boateng berufen wurde. Und der ohnehin überraschend nominierte Nils Petersen, der im Sturm-Duell mit Mario Gomez als klarer Außenseiter galt. Leno, Tah und Petersen erwischte es dann auch. Doch außer ihnen hatten Fans und Experten vor allem Sebastian Rudy, Julian Brandt, Matthias Ginter oder Marvin Plattenhardt als Streichkandidaten auf dem Zettel.
„Löw setzt sich selbst unter Druck"
Es gab ja schließlich auch genug Gründe für Leroy Sané. Er war, wie von Ballack erwähnt, soeben zum besten jungen Spieler der Premier League gewählt worden. Denn als Stammkraft hatte der 22-Jährige zum überlegenen Titelgewinn in der wohl stärksten Liga der Welt beigetragen, steuerte unter anderem zehn Tore und 15 Vorlagen bei. In der Scorer-Liste war er damit hinter Mohamed Salah, Harry Kane, Raheem Sterling und Sergio Agüero Fünfter, in der Tabelle der besten Vorlagengeber belegte er knapp Rang zwei hinter dem Ex-Wolfsburger Kevin De Bruyne (16), der wie Sané bei Manchester City spielt. Im Portal transfermarkt.de war Sané deshalb mit einem Marktwert von 90 Millionen Euro als der wertvollste Spieler im gesamten deutschen Kader geführt – vor Toni Kroos (80), der zuletzt mit Real Madrid dreimal in Folge die Champions League gewonnen hat. Seine drei Konkurrenten auf der linken offensiven Position, Julian Brandt (40), Marco Reus und Julian Draxler (je 35), kommen zusammen nur auf unwesentlich mehr. Und solch einen Spieler nimmt Löw nicht mit?
Nun ja, es gibt da aber auch andere Zahlen. Die in der Nationalmannschaft. Dort ist Leroy Sané, der Sohn von Löws früherem Freiburger Sturmpartner Sammy Sané, ein ganz anderer Spieler. In den drei Jahren seit seinem Debüt im Weltmeister-Team kam Sané auf gerade einmal zwölf Einsätze. Nur zwei davon bestritt er dabei über 90 Minuten und nur fünf solange, dass er vom „Kicker" benotet wurde. Seine Durchschnittsnote liegt bei 4,2. Eine Rolle spielt dabei auch, dass ihm in diesen zwölf Einsätzen kein einziges Tor gelang und nur eine Vorlage.
Kein Tor und nur eine Vorlage
Zudem ist links offensiv das Gedränge im deutschen Kader am größten. Gleich vier Spieler aus dem vorläufigen Aufgebot haben dort ihre Lieblingsposition. Löw hatte sich schon entschieden, diesmal drei statt wie bei anderen Positionen zwei Spezialisten mitzunehmen. Und nachdem Draxler und Reus für ihn gesetzt waren, fiel die Wahl zwischen Brandt und Sané. Brandt war schon vor der EM 2016 im letzten Moment durch das Sieb gefallen, und nach dem Aus von Tah und Leno ist er auch der letzte Leverkusener. Das alles mag eine Rolle gespielt haben, wenn es wirklich so knapp war, wie Löw ausführte: „Wenn man einen 100-Meter-Lauf ausgetragen hätte, hätte das Zielfoto entscheiden müssen."
Viel wahrscheinlicher ist aber die Variante, dass es sich um eine Grundsatz-Entscheidung und eine erzieherische Maßnahme handelte. Denn Extravaganz und Star-Gehabe, jene beiden Dinge, die Löw definitiv nicht ausstehen kann, trägt Sané zur Schau. Manchester- und DFB-Teamkollege Ilkay Gündogan sagt, er brauche „ab und zu mal einen Tritt in den Allerwertesten". Der gebürtige Essener trägt ein riesiges Jubel-Tattoo von sich selbst über den gesamten Rücken, im Trainingslager in Eppan tauchte er plötzlich mit einer auffälligen Rasta-Frisur auf. Auf dem Spielfeld suchte er kaum das Kombinationsspiel, sondern startete Einzelaktionen, verlor oft den Ball und zog sich damit den Unmut der Mitspieler zu. Vor allem Sané hätte sich eigentlich angesprochen fühlen müssen, als Leader Kroos nach der Testspiel-Niederlage gegen Brasilien im März Kritik übte. „Man muss einfach ehrlich zugeben, dass wir auf gewissen Positionen nicht gut genug waren und viele ihre Chancen nicht genutzt haben", hatte Kroos gesagt. Und es war ihm nicht in der ersten Erregung im Schnell-Interview auf dem Spielfeld rausgerutscht, er wiederholte es noch mehrmals in der Interview-Zone. Er wollte, dass die Kritik auf jeden Fall ankommt. Bei Sané war das offenbar nicht der Fall. Dabei stand der hochveranlagte und pfeilschnelle Dribbler eigentlich besonders in der Pflicht, denn seine große Chance, sich im DFB-Team festzuspielen, hatte er fast schon fahrlässig verschenkt.
Auf die Teilnahme am Confed-Cup im vergangenen Sommer hatte er wegen einer eigentlich verschiebbaren Nasen-Operation verzichtet. Rivale Draxler, der danach in Paris eine um Längen schlechtere Saison spielte als Sané bei City, führte Deutschland als Kapitän zum Titel und stieg in Löws Gunst deutlich.
Dennoch bleibt auch die Frage, wieso Vereins-Trainer Pep Guardiola Sané im Verein so in die Spur bekommen hat und Löw in der Nationalelf nicht. Darauf läuft dann wohl im Endeffekt auch die Kritik am Bundestrainer hinaus. Die Streichung Sanés mache für ihn „überhaupt keinen Sinn", wiederholte Ballack später in Interviews mit der „Bild" und bei „goal.com". Dass Sané nicht ins System passe, sei kein Argument: „Die Art und Weise, wie er spielt, passt zu jeder Mannschaft. Es gibt keine Taktik, die ihn aus der Startelf oder sogar aus dem Kader ausschließen würde. Er ist ein außergewöhnlicher Spieler, der den Unterschied ausmacht. Der eine Mannschaft bei der WM bereichern kann." Konkurrent Brandt sei deutlich schwächer. Sportlich gebe es keine Gründe, deshalb hatte Ballack nur eine Begründung parat: „Da muss etwas hinter den Kulissen vorgefallen sein."
Der frühere Bundestrainer Berti Vogts kritisierte dagegen in seiner „T-Online"-Kolumne den Umstand, dass Löw überhaupt 27 Spieler nominiert, um nachher welche streichen zu müssen. „Es ist eine unheimliche Unruhe reingekommen, seit über die Streichkandidaten diskutiert wird. Und das ist eine große Gefahr", schrieb Vogts und fragte: „Warum handhabt er das so? Wenn einer verletzungsbedingt ausfällt, kann man immer noch einen Sané nachträglich nominieren. Das ist deutlich angenehmer, als vier Spieler nach Hause zu schicken. Ich habe das als Trainer früher so gemacht, und es war viel einfacher."
„Da muss etwas hinter den Kulissen vorgefallen sein"
Doch Löw handhabte es bei allen seinen fünf vorherigen Turnieren so. Er will damit den Konkurrenzkampf und die Trainingsqualität schon im Vorbereitungscamp hochhalten und die Gefahr vermeiden, dass er Spieler aus einem vielleicht schon mehrwöchigen Urlaub holen muss. 2010 fielen in Ballack, Heiko Westermann und Christian Träsch gleich drei Spieler während der entscheidenden Phase verletzt aus, die Vertreter standen schon parat. Es entstanden aber auch schwierige Fälle: Marko Marin fiel nach der Streichung 2008 in ein Loch, Jermaine Jones wechselte zum US-Verband.
Und diesmal? Petersen nahm das Aus gelassen hin. Er war mit 29 Jahren zum Debüt gekommen, hatte mehr erreicht, als er sich je erhofft hatte. Auch Tah wusste von den klaren Voraussetzungen und zeigte sich deshalb „nicht überrascht. Ich bin natürlich enttäuscht und traurig, aber es gibt keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen." Auch Leno hatte sein Aus befürchtet, obwohl ihn viele gegenüber dem in Paris auf der Bank sitzenden Trapp im Vorteil sahen. Doch der Saarländer zeigte überzeugende Länderspiele, Leno nicht. Das zählt für Löw.
Und Sané? Der äußerte sich am Tag nach dem Aus in den sozialen Medien. Er müsse „diese Entscheidung akzeptieren und werde alles dafür tun, noch stärker zurückzukommen", schrieb er. Und dann wünschte er der Mannschaft „natürlich trotzdem viel Erfolg in Russland. Holt euch den Titel!" Zumindest diese Reaktion dürfte Löw gefallen haben.