Das „Vox" im „Grand Hyatt Hotel" am Potsdamer Platz verzichtet seit einigen Monaten auf raffinierten Zucker. Vorausgegangen sind dieser Entscheidung intensive Verkostungen, um geeignete Produkte zu finden, die das süße Weiß ersetzen. Das ausgiebige Testen hat sich gelohnt.
Es wird zuckerfrei. So die – für mich Süßschnabel – leicht bedrohlich klingende Nachricht aus dem „Vox" . Es bleibt dennoch süß. Folgt die gute Nachricht gleich darauf. Denn das Restaurant im „Grand Hyatt Hotel" am Potsdamer Platz verzichtet zwar seit einigen Monaten auf raffinierten Zucker, süßt aber stattdessen mit Ahornsirup, Honig und Agavendicksaft, Muscovado-, Kokosblüten- und Birkenzucker. „Gesünder geht immer", sagt Holger Joost, Oberchef aller „Grand Hyatt"-Küchen, zum Umstieg. „Allerdings ist das auf Fine-Dining-Level gar nicht so leicht. Denn es ist nicht damit getan, den einen Zucker einfach gegen den anderen auszutauschen." Alle Süßungsmittel haben unterschiedliche Süßkraft und Geschmäcker. „Wir haben drei, vier Monate lang Blindverkostungen gemacht, um herauszufinden, was am besten funktioniert." Klarer Favorit im Küchenteam: Birkenzucker.
So sitzen die Begleiterin, der Fotograf und ich auf der Terrasse vor dem Restaurant, nehmen mit der Zungenspitze einige Körner von einem kleinen Löffel auf und stellen fest: Birkenzucker hat eine Textur wie Eis und schmilzt mit minzigem Nachhall. Er besteht tatsächlich aus Birke, erklärt Holger Joost, und zwar aus den süßen Trieben des Baums. Nun sind wir nicht zu einer Zuckerverkostung oder einem Clean-Eating-Seminar erschienen, sondern um die Sommerküche und die zu Recht gerühmten Sushi zu genießen. Der Unterschied zwischen „mit normalem Zucker" und ohne beeinflusst die Wahl der Produkte. „Vox"-Küchenchef Florian Peters schickt eine Sushi-Auswahl: Sashimi-Scheiben vom Lachs, Nigiri mit abgeflämmtem Thunfisch und Hamachi – Gelbschwanzmakrele – und eine Inside-Out-Roll mit Spargel, um den sich anmutig rosarot ein Streifen Lachs wickelt.
Carolin Voigt vom Service kommt mit Reibe und einem hellgrünen Rettich zu uns an den Tisch. Der geriebene Wasabi ist ziemlich einzigartig in der Stadt und zeigt, was die frische, ziehende Schärfe des Wasserrettichs im Gegensatz zum angerührten Pülverchen wirklich kann. „Der Wasabi fühlt sich in seichten Gewässern wohl", erklärt sie uns, während sich die feinen Streifen des Abriebs in eine scharfe Creme verwandeln. „Legen Sie ihn aufs Sushi obenauf. Das ist viel besser für den Geschmack." Gesagt, getan – und probiert. Ich antworte mit „Hatschi!" auf die Frische-Attacke, die zum Fisch im Mund zündet. Zum Probieren „mit" und „ohne" liegen zwei Gemüse-Hügel auf der Platte: klassisch mit viel Zucker eingelegter Ingwer und mit Birkenzucker angemachter Spitzkohl. Ich möchte auf die süßsaure Schärfe des Ingwers nicht wirklich dauerhaft verzichten. Doch auch der unscharfe Spitzkohl mit rauerer Struktur und mehr Biss hat seinen ganz eigenen Reiz.
Gelbflossenthun von den Malediven
Wir könnten uns einen ganzen Abend und einen ganzen Artikel lang nur mit den „Vox"-Sushi befassen. Das wäre aber zu schade, denn auch die seit eineinhalb Jahren in der Regie von Florian Peters zelebrierte leichte, internationale Küche ist ausgesprochen erfreulich. Zwischen Kapuzinerkresse-Blättern hocken Erbsencreme-Tupfen und stehen glasierte Spargelstückchen für ein perfekt gekugeltes Wachsei – ein 90 Minuten bei 68 Grad Celsius confiertes Eigelb – stramm; jedenfalls so lange, bis der Küchenchef ein Spargel-Süppchen aus einem Kännchen angießt. Die Verniedlichungsform ist hier angebracht, denn es fließt feines Spargel-Konzentrat und keine ordinäre Suppe in die Teller. Bärlauchöl sorgt für eine waldige Note, eine Scheibe Bio-Brot mit Bärlauch-Creme, Topinamburchip und Wasserkresse für den herzhaften Begleitbissen. Man sei regionaler geworden, erzählt Peters. Die Bio-Sauerteigbrote kommen von der Berliner Bäckerei „Hundert Brote". Havelländer Apfelschwein und Fische vom Forellenhof Rottstock stehen ebenfalls auf der Karte. Doch zwei, drei Ausnahmen gibt es. „Den Thunfisch für die Sushi werden wir nicht in der Müritz finden", ergänzt Holger Joost lachend. Der Gelbflossenthun wird aus den Gewässern rund um die Malediven eingeflogen, aber geangelt und nicht mit Netzen gefangen. Beim Brot könnten wir gleich hängen bleiben, vor allem beim glutenfreien. Die Begleiterin bekam ohne Umschweife ein im Haus gebackenes Kräuterbrot gereicht. Das ist so würzig und keineswegs „leer" schmeckend, wie es bei glutenfreiem Brot oft vorkommt. Das schmeckt auch Menschen ohne Unverträglichkeiten, und zwar auch zur Basilikum-Parmesanbutter oder zum Olivenöl sehr gut. „Wir haben immer Brot und Pasta ohne Gluten da", sagt Holger Joost. „Bei knapp 100.000 Gästen im Jahr merkt man die Nachfrage, gerade beim Frühstück."
Wie zum Beweis für die Regionalität spielen im nächsten Gang grün glasierte Mini-Navetten – eine Unterart der Mairübchen –, eine „Rübenmilch", Sellerie und Petersilienpüree eine Rolle. Sie umrahmen mit einer Scheibe eingelegter Aubergine ein auf der Haut gebratenes Wolfsbarsch-Filet. Ein bisschen Olivenschaum dazu, fertig ist die Kombination aus leicht erdigen Rübchen und räuberischem Edelfisch, der mit einem Tick Maldon-Salz unschädlich gemacht wurde und dessen festes, helles Fleisch schön pur unsere Geschmacksknospen erfreut. Wir nippen an einem Sauvignon Blanc von Markus Schneider aus der Pfalz oder am Rosé-Champagner, an dem ich nach dem Aperitif hängen geblieben bin.
An unserer kleinen grünen Oase ziehen Prozessionen von Schulklassen vorüber. „Wir haben von Kindern bis Harley-Davidson-Fahrern hier alles", berichtet Holger Joost, dem die cruisenden Altherren und der zur Blue Man Group pilgernde Nachwuchs ein vertrauter Anblick sind. Die Alte Potsdamer Straße ist in Wirklichkeit eine italienische Piazza. Wir lassen uns zu diesem Schauspiel mit knatternden Motorrädern und schnatternden Jugendlichen gern erfrischen –
mit einem Zwischengang, wie er sich gehört: ein Zitronensorbet und gemeinschaftlich eingelegte Himbeeren, Rhabarber und Erdbeeren. Der Hauschampagner spielt mit seiner Perlage und Säure so richtig seine Stärken aus und kickt mit Frische.
Spargel zum Dessert als gelungene Überraschung
Im Fleischgang nehmen wir gern ein Ruppiner Weidelamm in Empfang. Der ausgelöste Rücken ist rosa gebraten und verstärkt sich selbst mit einem Jus, das aus den Knochen gezogen wurde. Tomaten der Sorte „Red Pearl" eilen dem Sommer in vier Varianten voraus: klassisch süß-sauer eingelegt und mit Punk-Frisur drapiert, als Marmelade eingekocht, als chipsige Haut und in einem knusprig ausgebackenen Tomaten-Ciabatta versteckt. Ein Püree aus weißen Bohnen lässt sich von einem Bärlauch-Spinat-Schwamm tuffig toppen und gesellt sich wohlig, aber zurückhaltend zum butterweichen Lamm. „Meine Tomate hat die schönste Frisur", sagt die Begleiterin, als wir das „Food-Model" für die Fotos auswählen. So muss sie noch einen Moment warten, bis sie das Potpourri aus Fleisch, Tomate und Bohnen genießen darf. „Keine Angst vor Aromen!", sind wir uns einig. „Und auch keine Angst vorm Salz", meint die Begleiterin. Wir mögen’s beide kräftig gewürzt, fürchten aber, dass das freigiebige Händchen des Kochs womöglich nicht bei allen Gästen en vogue sein könnte.
Salz in seiner wohl anmutigsten Form, als Verstärker, aber nicht herauszuschmecken, begegnet uns beim Dessert. Wir erleben: weiße, mit Salzzitrone eingelegte Spargelstückchen und grüne, roh mariniert. Ebenso roh marinierte Erdbeeren, Zitronencreme, Zitronensorbet sowie Zitronenzesten, die in einer ungemein geschmeidigen Sauerrahm-Creme versenkt wurden. Eine leichte Hand ließ Schokocrunch, Zitronenknusper und Blättchen vom Sauerklee darüber fallen. Dass Spargel so wunderbar mit leichter Süße, Frucht und Säure als Dessert zusammengehen kann, war mir zuvor nicht geläufig. Überraschung gelungen!
Selbst nach fünf Gängen plus kleinteiligem Drumherum fühlen wir uns nun keineswegs beschwert, sondern leicht und beschwingt. Florian Peters und sein Küchenteam haben uns beinah ihre ganze Karte „in klein" und komprimiert präsentiert – ein luxuriöser Genuss, den wir sehr zu schätzen wissen. Das Service-Team hat mit unaufdringlicher Präsenz im rechten Augenblick für eine – trotz intensiver Gespräche, vieler Notizen und Fotos – so entspannte Atmosphäre gesorgt, dass wir erholt wie nach einem privaten Abendessen nach Hause schweben. Was kann man mehr von einem Sommerabend mitten in der Woche erwarten?