Mit Linkin Park hat Mike Shinoda mehr als 100 Millionen Alben verkauft und Dutzende Preise eingeheimst. Doch vor einem Jahr stellte der Suizid seines Bandkollegen Chester Bennington sein Leben auf den Kopf. Im Interview erzählt er, wie ihn die Arbeit an seinem Album „Post Traumatic" gerettet hat.
Herr Shinoda, „Post Traumatic" ist das erste Album unter Ihrem eigenen Namen. Welche Vision hatten Sie von der Platte, als Sie ins Studio gingen?
Ich habe kurz nach Chesters Tod angefangen, wieder Musik zu machen, weil ich es einfach musste. Ich habe versucht, die ganzen Gedanken und Ideen, die in meinem Kopf herumschwirrten, irgendwie zu ordnen. Ob die Musik, die ich da machte, in irgendeine Schublade passte oder ein bestimmtes Genre bediente, war mir schnuppe. Die erste Hälfte des Albums ist sehr dunkel und kompliziert geworden, aber nach dem achten Song „Crossing The Line" spürt man, wie ich allmählich Licht am Ende des Tunnels sehe. Die Songs in der zweiten Hälfte sind genauso autobiografisch wie die in der ersten, sie fallen aber deutlich sarkastischer aus. Schwarzer Humor ist ein probates Mittel gegen den Seelenschmerz.
Wie haben Sie sich verhalten, wenn die Trauer über Sie kam?
Meine Gefühle sind voriges Jahr Achterbahn gefahren. Auch der Produktionsprozess war sehr, sehr emotional. Den ersten Vers des zweiten Songs „Over Again" schrieb ich zum Beispiel an dem Tag, an dem wir mit Linkin Park erstmals ohne Chester im Hollywood Bowl spielten. Der zweite Vers entstand am Tag danach. (Textprobe: „Cause I think about not doing it the same way as before / And it makes me wanna puke my fucking guts out on the floor … Everybody that I talk to is like, ‚Wow / Must be really hard to figure what to do now’ / Well thank you, genius, you think it’ll be a challenge? / Only my life’s work hanging in the fucking balance.") Ich wollte Ideen einfangen just in dem Moment, in dem sie zu mir kamen. Deshalb sind die Songs auf dem Album auch so gefühlsbetont. Ein großer Unterschied zu meiner früheren Arbeitsweise. In der Vergangenheit schrieb ich oft über Dinge, die länger zurücklagen. Auf diese Weise entstand eine gewisse Distanz zwischen mir und dem, worüber ich schrieb oder sang.
Sie haben zehn Bilder gemalt, um die Musik zu vervollständigen. Wie gut harmonieren Musik und Malerei miteinander?
Ich würde sagen: sehr gut. Ich habe mich schon in der Schule mit Malerei beschäftigt und später Grafikdesign und Illustration studiert. Die Kunst und die Musik, die ich mache, sagen viel darüber aus, was für eine Person ich bin. Für mich ist es etwas ganz Normales, meine Gefühle – seien sie auch noch so konfus – in Kunst auszudrücken. Die Bilder, die ich während des Aufnahmeprozesses gemalt habe, sind im Booklet zu sehen und werden auch Teil der Liveshow sein. Wahrscheinlich nicht von Anfang an, aber später im Jahr auf jeden Fall.
Wie sehr hat Ihnen dieses Album dabei geholfen, über den Tod Ihres Freundes Chester Bennington hinwegzukommen?
Dieses Album war für mich eine komische Erfahrung: Während ich das alltägliche Leben als eine schiere Qual empfand, fiel mir das Musikmachen wahnsinnig leicht. Chesters Tod war für mich einfach überwältigend schmerzhaft. Ich verkroch mich eine Woche lang in meinem Haus, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen. Es war eine extrem harte Zeit. Ich hätte mich auch in meinem Schmerz suhlen können, das wäre sicher leichter gewesen als Songs zu schreiben. Diese Möglichkeit hätte ich einerseits gehabt. Andererseits hat mir das Niederschreiben meiner Gedanken Chesters Tod und meine Emotionen noch bewusster gemacht. In der Zeit habe ich mir Gefühle eingestanden, die ich von mir noch nicht kannte.
Das wollte ich unbedingt aufschreiben, wie in einem Tagebuch. Das Reflektieren hat mich tatsächlich ruhiger werden lassen. Es war fast wie Meditation.
Haben Sie sich nach Chester Benningtons Freitod Vorwürfe gemacht?
Chesters dunkle Neigungen hatten in erster Linie etwas mit seiner Sucht zu tun. Im Lauf der Jahre durchlebte er viele Aufs und Abs und dunkle Perioden. Es gab Indikatoren, wie er über sich selbst dachte. Eine Sache sagt viel über ihn aus: Chester konnte nur sehr schwer Komplimente annehmen. Man wollte ihm gern sagen, was für ein großartiger Performer er war, aber meistens hat er die Komplimente zurückgegeben. Irgendwann habe ich ihn ausgeschimpft und zu ihm gesagt: „Ich möchte dir ein Kompliment machen, aber du hörst mir gar nicht zu!" Da musste er lachen. Ich habe gelernt, dass es einfach Menschen gibt, die kein Lob ertragen können. Sie glauben, dass sie es nicht verdient haben und können sich nicht selbst wertschätzen. Chester war aber nicht immer so. Bei ihm wechselten sich tolle Tage mit ganz schrecklichen ab. Ich glaube, wir haben alles getan, was wir konnten. Wir haben ihm immer wieder gesagt, dass wir uns um ihn sorgen.
Gerade sehr erfolgreiche Menschen in Kunst, Kultur, Politik, aber auch in Unternehmensleitungen, sind häufig anfällig für psychische Störungen. Wie kommt das?
Ich weiß nicht, ob Künstler wirklich verletzlicher sind als andere Menschen. Fakt ist, dass sie im Rampenlicht stehen. Wenn ihnen etwas zustößt, pfeifen es alsbald die Spatzen von den Dächern. Das ist ein Problem. Aber nicht nur Prominente haben psychische Probleme. Man darf nicht vergessen, dass es da draußen sehr viele Unbekannte gibt, die einem Schatten nachjagen und ein wirklich schweres Leben haben. Wenn jemand in unserem Umfeld die Tendenz hat, sich selbst zu zerstören, sollten wir aufmerksam werden und dieser Person helfen.
Wie kann man psychisch kranken Menschen helfen?
Prominente, die psychisch krank sind, sind ein gefundenes Fressen für die Boulevardmedien und vor allem das Internet. Wenn das jemand liest, der an Depressionen leidet und von solchen dunklen Dingen fasziniert ist, wird es für ihn gefährlich. Je mehr er davon liest, desto sogartiger die Wirkung. Er will immer schlimmere Geschichten lesen. Davor kann man sich erstens schützen, indem man diese Berichte bewusst nicht anklickt. Zweitens sollte man die Leute, die so was ins Netz stellen, nicht finanziell unterstützen, indem man auf ihren Seiten zum Beispiel keine Anzeigen schaltet.
Zurück zur Musik: Was kann man von Ihrer Solotour erwarten?
Etwas mehr als ein Drittel des Abends besteht aus Solo-Songs. Der Rest setzt sich aus Stücken von Linkin Park und anderen Sachen zusammen. Mal sehen, wie das Programm sich weiterentwickeln wird. Im Moment spiele ich One-Man-Shows nur mit mir auf der Bühne. Ich habe einen Computer und meine Gitarre dabei. Ich plane aber, die Show im Lauf der Zeit weiterzuentwickeln und ein bisschen herumzuexperimentieren. Wie die Zukunft von Linkin Park aussehen wird, wissen wir im Moment alle nicht. Es stehen einfach zu viele Fragen im Raum. Diese in einem bestimmten Zeitrahmen zu beantworten, ist uns unmöglich.