Am 18. Juli wäre Nelson Mandela 100 Jahre alt geworden. An den ersten frei gewählten Präsidenten Südafrikas und früheren Anti-Apartheid-Protagonisten erinnern sich ein weißer Widerstandskämpfer und ein schwarzer Guide.
Tulani Mabaso sitzt in seiner Zelle, auf einer einfachen Pritsche, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, gedankenverloren. Dem riesigen Mann laufen Tränen über die Wangen. Dann rafft er sich auf und sagt: „Hier war ich acht Jahre gefangen." Mabaso ist heute Guide auf Robben Island, der Insel, auf der auch Nelson Mandela gefangengehalten wurde, und die die Unesco 1999 wegen ihres berühmten Insassen zum Weltkulturerbe ernannte.
Tulani Mabaso war 17 Jahre alt, als er zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Sein Vergehen: Im Auftrag des African National Congress (ANC) hatte er im Polizeihauptquartier in Johannesburg eine Bombe deponiert. Als sie hochging, war das Gebäude längst geräumt. „Wir wollten ein Zeichen setzen, aber niemanden töten", sagt Mabaso. Entsprechend hatte der ANC die Polizei gewarnt. „Wenn ich es schaffe, zeige ich euch heute meine Zelle", begrüßt er die Besucher. „Wenn ich zu deprimiert bin, lassen wir es einfach."
Der Rundgang über die Gefängnisinsel führt zuerst aber ohnehin zu Zelle Nummer 7 in Block B. In der saß von 1964 bis 1982 der damals berühmteste Gefangene der Welt ein: Nelson Mandela. Wie Mabaso verbrachte auch er seine Tage in einer winzigen Zelle. Zwei Meter lang, zwei Meter breit. Tageslicht fällt nur durch ein schmales Oberlicht in die vier Quadratmeter große Hölle. Und doch hatte der spätere Präsident Südafrikas ein winziges Privileg. „Das war Mandelas Garten", sagt Mabaso und deutet auf ein paar Sträucher, die sich an der Gefängnismauer entlangdrängen. Mandela hat sie gut gepflegt, die dürren Pflanzen waren ein Zeichen der Hoffnung in einer Welt des Horrors. Optimismus in schier aussichtlosen Situationen, das hat Mandela ausgezeichnet.
Nelson Mandela war ein Mann, der verzeihen konnte, und damit die perfekte Besetzung für die Rolle des ersten frei gewählten Präsidenten Südafrikas nach dem Ende der Apartheid. Mabaso, der Mitgefangene auf Robben Island, zitiert Mandela: „Der beste Weg nach vorn zu gehen, ist, sich mit der Vergangenheit auszusöhnen." Der wuchtige Mann hält inne, als er das sagt und ergänzt: „Das war hart, denn die Leute, mit denen wir uns aussöhnen sollten, waren die, die uns gefoltert hatten."
Mandelas Ziel wurde weit verfehlt
Heute, fünf Jahre nach Mandelas Tod, hat sich der Wind gedreht. „Die Zeit für Ausgleich ist vorbei; jetzt ist die Zeit für Gerechtigkeit gekommen." Das sagte Julius Malema, der Vorsitzende der EFF, der Partei der Kämpfer für wirtschaftliche Freiheit im südafrikanischen Parlament, als er den Antrag zur entschädigungsfreien Enteignung weißer Farmer einbrachte. Die EFF ist eine linksradikale Partei, doch ihr Antrag wurde auch vom ANC unterstützt. Zum Teil mag das Wahltaktik sein, denn nach den Herrschaftsjahren des korrupten Jacob Zuma droht Mandelas Partei bei den Wahlen im kommenden Jahr erstmals der Machtverlust. Mit dem Enteignungsthema kann man vor allem bei den ärmeren ANC- Anhängern verlorene Sympathie zurückgewinnen.
Auch Mandela hatte die Überführung von weißem Besitz in schwarze Hände vorgesehen – allerdings wollte der große Versöhner dies ohne Zwangsmaßnahmen schaffen. Bereits 1994, im ersten Jahr seiner Präsidentschaft, hatte er versprochen, dass innerhalb von 20 Jahren ein Drittel des Landes, das Weißen gehört, vom Staat aufgekauft und an Schwarze übergeben werden soll. Das Ziel wurde weit verfehlt – bislang sind es nicht einmal zehn Prozent. Auch 24 Jahre nach dem Ende der Apartheid befinden sich über 70 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Südafrikas immer noch in weißer Hand.
Denis Goldberg saß nicht in Robben Island ein, denn selbst im Gefängnis achtete das Apartheidregime auf Rassentrennung. Goldberg, das damals wichtigste weiße Mitglied des südafrikanischen Widerstands, wurde in Pretoria eingesperrt. Anders als seine Mitangeklagten verurteilte ihn das Gericht sogar zu viermal lebenslanger Haft, galt er doch beim weißen Regime als Verräter. Heute ist Goldberg 85 Jahre alt und einer der letzten lebenden Helden des Anti-Apartheid-Kampfes. Er leidet an Lungenkrebs und sitzt im Rollstuhl. Er lacht, strahlt einen aus seinen klaren Augen an und reiht eine Anekdote an die nächste. Goldberg ist ein Mann, der am Ende seines Lebens mit sich im Reinen ist. Der Kampf gegen die Apartheid sei jeden Tag im Gefängnis Wert gewesen, sagt er. Im Bücherregal in seinem Wohnzimmer stehen das Modell eines Trabis und ein schwedisches Holzpferd nebeneinander – Erinnerungen an zwei Länder, die den südafrikanischen Anti-Apartheid-Kampf besonders unterstützten.
Auf dem Tisch liegt ein Buch über den neuen Präsidenten Ramaphosa, den Mann, der nach dem korrupten Zuma zumindest einen Teil von Mandelas Erbe retten soll. Ramaphosa habe Fehler gemacht, sagt Goldberg, habe sie aber eingestanden und er, Goldberg, traue ihm zu, verlorenen Kredit zurückzugewinnen. Der alte Kämpfer hofft auf den neuen Präsidenten, ganz überzeugt scheint er jedoch nicht. „Wir haben jetzt die Macht, die Frage ist aber, wie wir sie nutzen", so Goldberg.
Goldberg lobt Mandelas Fähigkeit zum Ausgleich. Genau dafür aber wird der Ex-Präsident von seinen Kritikern gescholten. Sie werfen ihm vor, er habe die Interessen der Schwarzen leichtfertig aufgegeben, im Freiheitskampf Gewonnenes wieder weggegeben. Goldberg hält dagegen. „Stellt euch vor, in welchem Land wir heute leben würden, wenn Mandela damals nicht für Versöhnung eingetreten wäre", fordert er und gibt die Antwort gleich selbst: „Das wäre nicht das Land, in dem ich leben möchte." Es werde mehrere Generationen brauchen, bis die Schäden, die das Apartheidregime angerichtet hat, beseitigt sind, so Goldberg. „In 24 Jahren sind wir doch ganz schön weit gekommen", sagt der einstige Widerstandskämpfer trotzdem zufrieden.
Goldberg mag Recht haben, doch die Menschen in Südafrika werden ungeduldig. Nirgends ist der Unterscheid zwischen Arm und Reich so groß wie hier, endlich wollen auch die Ärmsten teilhaben am Reichtum des Landes.
Mabaso wartet bis heute auf ein Haus
Jeden Morgen fährt Tulani Mabaso mit der Fähre von Kapstadt hinüber nach Robben Island. Jeden Morgen fährt er zurück in seine Vergangenheit. Als Guide zeigt er den Touristen die Zelle Mandelas und an Tagen, an denen er sich stark genug fühlt, auch seine eigene. Obwohl Mabaso seit fast 30 Jahren offiziell wieder ein freier Mann ist, ist er immer noch ein Gefangener der Insel. Er kommt nicht hierher, um seine Vergangenheit aufzuarbeiten, er kommt auch nicht hierher, um der Nachwelt die Grausamkeit des Apartheidregimes vor Augen zu führen. Er kommt hierher, weil er muss. Mabaso, dem seine Peiniger unter Folter die Beine gebrochen hatten, kann kaum mehr laufen. Beim Waterboarding – als sie seinen Kopf in einen Sack steckten und dann minutenlang unter Wasser hielten – platzten seine Trommelfelle. Seitdem kann Mabaso kaum noch hören. Nach deutschen Gesetzen wäre Mabaso schwerbehindert, in Südafrika gilt er als zu schwach, um zu arbeiten. Weil er keine andere Arbeit findet und doch eine Familie ernähren muss, die draußen in einer Wellblechhütte in einer Township am Rande Kapstadts lebt, tritt er Morgen für Morgen aufs Neue die qualvolle Reise in seine Vergangenheit an. Auf ein „Mandela-Haus" – der Präsident hatte allen Wohnungslosen nach seinem Regierungsantritt eine Bleibe versprochen – wartet er bis heute. Zusammen mit vielen anderen steht er seit mehr als 20 Jahren auf einer Warteliste. Noch ein paar Jahre fehlen, dann kann seine Familie das Wellblech über dem Kopf gegen ein festes Dach tauschen – wenn er Glück hat, denn die Kassen des Staates sind klamm. Die Korruption während der Regierungszeit Jacob Zumas, auch er saß als politscher Gefangener auf Robben Island ein, habe das Land um viele Jahre zurückgeworfen. Über Zuma will Tulani Mabaso nicht reden. Lieber spricht er über sein Vorbild Nelson Mandela: „Eines kann ich dir sagen, Mandela, der hat uns nie verraten", sagt er. Dann streicht er sich mit seiner riesigen Hand eine Träne aus dem Gesicht und besteigt die Fähre zurück zum Festland.