Der Trend geht in den letzten Jahren zur bargeldlosen Zahlung. Das ist zwar oft bequemer, hat aber nicht nur Vorteile.
Knapp zwei Monate nachdem die Corona-Pandemie Deutschland erreicht hatte, sah sich Bundesbankvorstand Johannes Beermann im März 2020 gezwungen, das bei den Deutschen so populäre Bargeld zu verteidigen: „Die Wahrscheinlichkeit, sich mittels Bargeld anzustecken, ist geringer als bei vielen anderen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens." Von Scheinen und Münzen gehe kein besonderes Infektionsrisiko aus.
Zwar gilt „Nur Bares ist Wahres" für die Deutschen immer noch weitgehend: Laut einer Erhebung der Bundesbank wurden im vergangenen Jahr 58 Prozent aller Einkäufe mit Münzen und Scheinen gezahlt. Doch ändern die Menschen auch hierzulande ihr Verhalten langsam, aber sicher. 2020 lag der Anteil der Barzahlungen noch bei 60 Prozent, 2017 waren es noch 74 Prozent gewesen. Hinter dem Rückgang steht laut Bundesbank insbesondere die Zunahme von Einkäufen im Internet und der Trend zum kontaktlosen Bezahlen mit EC- und Kreditkarte. Corona hat die Entwicklung deutlich beschleunigt; in vielen Supermärkten und Läden werden Kunden inzwischen ausdrücklich um Kartenzahlung an der Kasse gebeten. Ein großer Nutznießer dieser Entwicklung ist der Bankensektor. Denn digitale Zahlungen bringen den Finanzinstituten nicht nur Gebühren ein, sondern auch große Mengen Daten darüber, wer wem wieviel überweist. Für Banken sind diese Daten äußerst nützlich, um Profile von Kunden zu erstellen – Informationen, die genutzt werden können, um Produkte an sie zu verkaufen oder zu entscheiden, ob jemand einen Kredit erhält.
Corona hat den Trend beschleunigt
Hinzu kommt, dass Banken in den vergangenen Jahren in Deutschland Tausende Niederlassungen dichtgemacht haben. So verschwinden Bankschalter und Geldautomaten und es wird für Verbraucher immer mühsamer, an Bargeld zu kommen. „Vor allem der Bankensektor sieht das Bargeldsystem seit Jahren als ein Profit-Hindernis. Seine Infrastruktur aufrechtzuerhalten, kostet Geld", sagt der Finanzexperte und Autor Brett Scott. Er befasst sich vor allem mit Fragen des internationalen Finanzwesens, seiner Reformierung und alternativer und digitaler Währungen. In seinem neuen Buch „Cloudmoney" setzt er sich kritisch mit der Welt des digitalen Geldes auseinander.
Der Bankensektor, marktmächtige IT-Unternehmen wie Amazon und Google sowie internationale Giganten der Finanzindustrie wie Mastercard, Visa und Paypal propagieren unter dem Banner des Fortschritts seit Langem eine bargeldlose Gesellschaft. Münzen und Scheine werden als altmodisch, als Zahlungsmittel der Gestrigen diskreditiert. In seinem aktuellen Buch analysiert Scott, wie diese Unternehmen immer näher zusammenrücken und gemeinsam ihre Macht ausbauen. „Der Trend geht dahin, ehemals getrennte Systeme zu Clustern zusammenzulegen, die mit einem Klick mehrstufige und branchenübergreifende Prozesse in Gang setzen können", erklärt Scott. Wir verknüpfen unser Amazon- mit unserem Bankkonto und so werden digitale Plattformen und Finanzinstitute zu Partnern.
Die Fusionen sind schwindelerregend: Computergigant Apple hat die „Apple Card" auf den Markt gebracht, hinter der die Investmentbank Goldman Sachs steht. „Google Pay" kooperiert mit Citibank, einem der größten Finanzdienstleister der Welt. Facebook treibt (noch) sein eigenes Zahlungsprojekt namens „Facebook Pay" voran. Und Fusionen sind nicht die einzige Strategie von Big Tech und Big Finance. Im „Kalten Krieg gegen Cash", wie Scott es nennt, wird unverhohlen und aggressiv lobbyiert. 2019 setzte Amazon in den USA alle Hebel in Bewegung, um ein Gesetz zu verhindern, das Geschäfte in Städten wie Philadelphia dazu verpflichten sollte, Bargeld anzunehmen. Philadelphia hat sich vom Online-Riesen Amazon nicht einschüchtern lassen und hat wie New York, San Francisco und der Bundesstaat New Jersey ein Gesetz verabschiedet, das sicherstellt, dass Barzahlung weiterhin möglich bleibt.
Eine Wirtschaft, in der Bargeld nicht mehr als Zahlungsmittel akzeptiert wird, werde vor allem Einkommensschwache treffen, befürchtet Scott. Denn sie sind diejenigen, denen Banken eine Giro-, Debit- und noch öfter eine Kreditkarte verweigern. Und wer keine Karte hat, ist in einem voll automatisierten, rein bargeldlosen Bezahlsystem praktisch von jeglichen Transaktionen ausgeschlossen – einschließlich lebenswichtigen wie dem Kauf von Essen oder Kleidung.
Wie das, was Scott „Überwachungskapitalismus" nennt, auch Auswirkung auf demokratische Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit haben kann, zeigt ein Beispiel aus Hongkong. Während der Proteste gegen den Einfluss der Kommunistischen Partei Chinas im Jahr 2019 standen Aktivisten Schlange, um U-Bahn-Tickets mit Bargeld zu kaufen – nur für den Fall, dass ihre Kartenzahlungen auf Beweise für ihre Reise zu den Protest-Orten überwacht würden. Beim Bezahlen geht es eben nicht nur ums Geld!
Bargeld als Zahlungsmöglichkeit ist für Scott so essenziell wie Treppen in Wolkenkratzern. „Kein verantwortungsvoller Bauträger würde nur einen Lift ohne Fluchttreppe installieren. Parallele Optionen aufrechtzuerhalten bedeutet, durch Vielfalt Resilienz zu gewährleisten", sagt er. Die Widerstandsfähigkeit eines Bezahlsystems garantiert Ausfallsicherheit in unvorhersehbaren Situationen, wie sie Deutschland Ende Mai erlebt hat. Damals war im gesamten Bundesgebiet bei Hunderten Supermärkten, Tankstellen und Einzelhändlern tagelang keine Kartenzahlung möglich.
Abhängigkeit von Technologien
Funktioniert die Girokarte nicht, ist auch das Abheben von Bargeld an der Supermarktkasse oder am Bankautomaten nicht mehr möglich. Auch im Katastrophenfall kann Bargeld bestehen. Deshalb empfiehlt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, immer eine „ausreichende Bargeldmenge" im Haus zu haben. Für Scott ist Bargeld keineswegs ein unterlegenes System: Es macht unabhängig von Kartenlesegeräten, gibt keine privaten Daten preis, man kann damit besser finanziell planen, weil man nur ausgibt, was man in der Tasche hat, und obendrein ist Cash für alle da: Denn niemand wird ausgeschlossen von einem Kauf, weil die Bank ihm keine Geldkarte geben will.
Aber was ist mit Kryptowährungen? Schließlich sind deren Erfinder mit dem Anspruch angetreten, dass digitale Token wie Bitcoin eine Gegenkraft zum digitalen Zahlungssystem der Banken darstellen. Die bekannteste und weltweit erste Kryptowährung am Markt war Bitcoin. Die Idee für das Kryptogeld tauchte auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 auf. Befürworter waren sich damals sicher, dass Bitcoin genau das Problem lösen werde, dass Brett Scott beschreibt. Die Erfinder sehen hinter Bitcoin die wahre Bezahlalternative, bei der gleichberechtigte Transaktionspartner ohne zentrales Netzwerk direkt von Rechner zu Rechner und unabhängig von großen Finanzunternehmen agieren.
Scott hält dagegen, dass Bitcoins eben kein „digitales Bargeld" seien, sondern „ein unsichtbares Sammlerstück mit einem Dollarpreis und einer geldähnlichen Markenkennzeichnung", das man zwar digital tauschen, mit dem man aber fast nirgendwo sein Abendessen bezahlen könne. Er ruft dazu auf, den Siegeszug des digitalen Geldes nicht widerspruchslos hinzunehmen: „Zu den wichtigsten Schattenseiten des modernen digitalen Überwachungskapitalismus gehört die Tatsache, dass die Technologien, von denen wir immer stärker abhängig sind, ständig und direkt mit mächtigen Konzernen und Regierungen in Verbindung stehen", sagt er. Ähnlich äußern sich auch Mitglieder des Berliner Chaos Computer Clubs: „Bargeld ist eine der wenigen Möglichkeiten für Laien, anonyme Zahlungen ohne staatliche Kontrolle vorzunehmen", sagt Joachim Selzer.
Auch einflussreiche Politiker begehren zunehmend gegen eine gänzlich bargeldlose Zukunft auf: Die neue britische Premierministerin, Liz Truss, stellte sich – damals noch als Außenministerin – im August dieses Jahres vorsichtig, aber öffentlich gegen eine Abschaffung des Bargelds und insistierte, „dass Barzahlung weiterhin möglich sein müsse, wenn Alternativen wegfallen".
Brett Scott wünscht sich, dass junge Menschen beginnen, die digitale Welt zu hinterfragen, in die sie hineingeboren wurden. Digitale Bezahlsysteme wie Paypal, Apple Pay und andere seien zwar angesagt und machten das Zahlen bequem wie nie zuvor. Doch diese Bequemlichkeit habe ihren Preis: „Wir zahlen dafür mit unserer Unabhängigkeit und verlieren zunehmend ein Stück Freiheit – nicht nur über unsere Finanzentscheidungen."