Es gibt wohl doch noch Wunder in dieser zerrissenen Welt. Wer nach Soglio reist, fühlt sich dort nach wenigen Schritten wie im Paradies. Friedlich leuchten in güldener Abendsonne das Bergdorf, die Lorenzkirche und die mit Granitplatten gedeckten Häuser den Ankömmlingen entgegen.
Für viele ist das ruhige, auf einem 1.088 Meter hohen „Sonnenbalkon" liegende Soglio die Perle des Bergell, einem rund 20 Kilometer langen Graubündner Tal an der Grenze zu Italien mit Blick auf Dreitausender. Dorthin kommen die Menschen zum Wandern, Bergsteigen oder einfach zur Erholung vom Alltagsstress. Unterhalb der Kirche gibt es einige Parkplätze, doch das Dorfzentrum mit seinen engen Gassen ist autofrei und steht mitsamt der Kirche unter Denkmalschutz. „Soglio wurde 2015 zum schönsten Dorf der Schweiz gewählt, die ältesten Häuser stammen aus dem 16. Jahrhundert", weiß Gästeführerin Renata Giovanoli. Einige stehen so dicht zusammen, dass sich Bewohner und Gäste zwischen robustem Mauerwerk hindurchschlängeln müssen.
Warum diese Enge? „Die Familien brauchten den Boden zum Anbau von Getreide, Obst und Gemüse, und viele zogen im Sommer mit ihren Tieren auf die Almen", erklärt Giovanoli an der ehemaligen Waschstelle. Auch weist sie auf ein höheres Haus, in dem gerade gewerkelt wird. Denkmalgerecht wird es für ein Forschungsprojekt der Firma Porsche hergerichtet.
Der gefühlte Dorfmittelpunkt ist der Palazzo Salis, den Baptist von Salis 1630 errichten ließ. 1701 erhielt das weiße Gebäude sein heutiges stattliches Aussehen, wird aber schon seit 1876 als Albergo (Gasthaus) genutzt. Jedes Zimmer ist anders, wurde vorsichtig restauriert und hat das historische Flair bewahrt. Der Dichter Rainer Maria Rilke erholte sich dort 1919 von den Strapazen des Ersten Weltkrieges. In welchem Zimmer, weiß niemand genau. Inzwischen gilt das Zimmer 15 als sein damaliges.
Die heutigen Gäste erholen sich bereits beim reichhaltigen, regional geprägten Frühstück und genießen es am liebsten in der Morgensonne vor dem Palazzo. Im Sommer wird auch das À-la-carte-Abendmenü gerne draußen genossen. Das Mittagessen sowie Kaffee und Kuchen werden im historischen Garten serviert, für den sich schon Rilke begeisterte. Doch nicht nur die Adelsfamilie Salis hatte im Bergell ihr Refugium gefunden. Ein weiteres Beispiel ist die Ciäsa Granda von 1581, das heutige Talmuseum im Bergdorf Stampa. Noch bis zum 20. Oktober ist dort eine Ausstellung mit den farbstarken Bildern des berühmten Malers Augusto Giacometti (1877–1947) zu sehen.
Vermutlich inspirierte ihn und andere die traumhaft schöne und vielfältige Natur des Bergell, entwickelte sich doch in Stampa eine wahre Künstler-Dynastie. Fast 100 Jahre lang haben zwei Generationen als Maler, Bildhauer, Möbeldesigner und als Architekt den Namen Giacometti in die Welt hinausgetragen. Inzwischen erzielen die Bilder von Augusto Giacometti und noch mehr die asketisch dünnen Skulpturen von Alberto Giacometti (1901–1966) Rekordpreise. 2015 wurde in New York Alberto Giacomettis „Der Zeigende Mann" mit 141,3 Millionen Dollar die teuerste, je bei einer Auktion versteigerte Skulptur.
Einer macht nun einen anderen, sehr wichtigen Job: Marco Giacometti, Präsident der Fondazione Centro Giacometti in Stampa. Der Lehrer an der vom Architekten Bruno Giacometti geplanten und 1963 eröffneten Schule jenseits der wild rauschenden Maira arbeitet die Geschichte dieser Künstler-Dynastie auf.
Wahre Künstler-Dynastie
In dem historischen Familienhaus wohnt er oben mit den Seinen, unten in seinem Büro türmen sich Bücher, Ordner und Magazine. Gerade hat er zwei Bände über Augusto Giacometti veröffentlicht. Freundlich malt er die beiden Zweige der Giacometti-Künstler auf ein Blatt Papier, verweist aber auch auf den Einfluss der Familien in Stampa, in die die um 1600 aus Norditalien kommenden Giacomettis einheirateten. Die Bauten, die von den Giacometti-Künstlern und ihrer Arbeit künden, liegen Marco ebenfalls am Herzen. In Stampa ist noch das schlichte Atelier, ein umgebauter Stall, erhalten, das der Maler Giovanni Giacometti (1868–1933) zusammen mit seinem Sohn Alberto Giacometti nutzte, der unter seiner Anleitung als Maler begann. „Ohne seinen Vater wäre Alberto nie das geworden, was er später wurde", betont Marco Giacometti.
Er möchte nun nicht nur solche Bauten, sondern auch andere Giacometti-nahe Plätze miteinander verbinden und sie auf moderne Weise den Gästen nahebringen. Auch jenen, die eher auf der zwölf Kilometer langen „Panoramica" wandern oder die Bergeller Kletterberge erklimmen. Genaueres soll zu Ostern 2023 bekannt gegeben werden. Zwar bildeten sich die künstlerisch begabten Giacomettis im Ausland fort, speziell in Paris, doch immer wieder kehrten sie zeitweise nach Stampa zurück. Auf dem Friedhof der Kirche San Giorgio im benachbarten Dorf Borgonovo ruhen sie in schlichten Gräbern. Von der erwähnten Schule führt ein Panoramaweg jenseits der Maira dorthin. Über eine alte Steinbrücke erreicht man die Kirche auf der anderen Flussseite. In der Apsis schimmert den Eintretenden eine Glasmalerei von Augusto Giacometti entgegen.
Ein weiteres Kunstwerk von ihm schmückt die Kirche San Pietro unweit vom Palazzo Castelmur von 1723. Dieser Palast wurde 1854 vom Mailänder Architekten Giovanni Crassi-Marliani nach venezianischem Vorbild erweitert und mit zwei Türmen versehen, was den Palazzo Castelmur zu einem echten Hingucker machte. Seit 1961 fungiert er als Museum und hütet das historische Archiv des Bergell. In den feinen Gemächern wurde gerade Ende August ein Film gedreht. Eine Dauerausstellung zeigt Schwarz-Weiß-Fotos von den feinen Café-Bauten, die die europaweit erfolgreichen „Graubündner Zuckerbäcker" in vielen Städten eröffnet hatten. Ein Bild zeigt das „Café Josty" um 1880 in Berlin am Potsdamer Platz.
Europas größter Kastanienwald
Doch niemand sollte den lichten Weg durch Europas größten Kastanienwald verpassen, der von Soglio Plazza vorbei an einem Wasserfall und einigen Häuschen hinunter nach Castasegna führt. Dieser Wald muss jedoch ständig gepflegt werden. Was zu tun ist, vermittelt der Kastanienlehrpfad. Als sich schließlich der Wald lichtet, liegt den Wandernden Castasegna zu Füßen. Eng scharen sich dort die Häuser um die Kirche Santa Trinità (Dreifaltigkeitskirche). Andere reihen sich dicht an dicht wie auf einer Perlenschnur. Highlight des Dorfes ist jedoch die charmante Villa Garbald von 1864, entworfen vom Dresdner Architekten Gottfried Semper. Nun wird sie für Ausstellungen, Begegnungen und Workshops genutzt. Im Café schräg gegenüber lässt sich das Erlebte noch durch Kastanienkuchen krönen. Der Weg des Kastanienmehls in die Küche oder Bäckerei ist allerdings lang und aufwendig. Dennoch tun echte Bergeller viel, um diese Traditionen zu erhalten. So Manuela Filli, Präsidentin eines 2006 gegründeten Kastanienvereins. Momentan freuen sich viele Bergeller und anreisende Fans auf das dreiwöchige Kastanienfestival, das ab 1. Oktober in vielen Dörfern gefeiert wird. Kastanienmehl und andere Kastanienprodukte waren lange die Grundnahrung der Bergeller Bevölkerung, galten aber als Arme-Leute-Essen. Heutzutage nutzen sie bekannte Köche für ihre Kreationen. Manuela widmet sich insbesondere dem von ihrem Verein organisierten Kastanienfest, das in diesem Jahr am 16. Oktober in Vicosoprano begangen wird. Beim Kastaniensammeln hilft die ganze Familie, von den Kindern bis zu den Großeltern. Auch Freunde machen mit. Die großen Früchte werden verkauft, die kleineren sechs Wochen lang in den Räucherhäusern der Dörfer gedörrt. Ein Feuer im darunter befindlichem Raum liefert den nötigen Rauch und darf nicht erlöschen. Zuletzt landen die fertig gedörrten Kastanien in einem länglichen Sack, der heftig auf Baumstümpfe geschlagen wird, um die Schalen zu zertrümmern. So können sie leicht gelöst werden, und die Verarbeitung der Früchte kann beginnen.
Beim Kastanienfest können Interessierte diverse Kastanienprodukte kosten: geröstete Kastanien, solche im Kuchen, in hausgemachter Suppe, in Salametti (Salami-Snack) und sogar in Bier oder Likör. Bis auf die Salametti und die genannten Getränke werden alle Gerichte von den Vereinsmitgliedern zubereitet. Auf einem kleinen Markt gibt es frische und gedörrte Kastanien, Kastaniennudeln, Kastanienmehl, Kastanienblütenhonig und verschiedene Kastanienkuchen. Ein ökumenischer Erntedankgottesdienst ist selbstverständlich, und es fehlt auch nicht an Musik sowie an Kinder- und Erwachsenenglücksspielen. „Finanziell lohnt sich die Arbeit eigentlich nicht", räumt Manuela ein, doch die Esskastanien gehören zur Bergeller Tradition. In solch einem Umfeld machen viele nochmals im Oktober einige Tage Urlaub, denn nach dem Kastanienfestival endet die Saison, und die Hotels schließen bis Anfang April 2023.