Nicht nur Ausnahmebauten und spektakuläre Naturphänomene – auch herausragende immaterielle Errungenschaften der Menschheit würdigt die Unesco und führt dazu seit 2008 eine Repräsentativliste.
Es ist immer wieder beeindruckend, was Menschen gemeinsam über Generationen erschaffen können. Hier sieben Beispiele kultureller Errungenschaften.
Katalonien, Spanien: Türme aus Menschen
Sie sind bis zu zehn „Stockwerke“ hoch und ziemlich lebendig: Castells, Menschentürme, die in Katalonien ihren Ursprung haben und meist zu festlichen Anlässen errichtet werden. Die erste Vereinigung von Castellers – so heißen die Teilnehmer – wurde 1801 in Valls in der Provinz Tarragona gegründet. Bald kam eine zweite hinzu. Beim Bau der Menschentürme konkurrierten die beiden Gruppen (Colles Castelleres), was sich auch daran zeigt, dass man sich anschließend Prügeleien lieferte. Seit 2010 steht der Castell, bei dem die Beteiligten zu einer lebendigen Einheit verschmelzen, auf der von der Unesco geführten Repräsentativen Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit. Das Wissen um die Koordination, Kraft, Disziplin und Akrobatik zum Errichten wird von Generation zu Generation weitergegeben. Ein Fehltritt, eine Bewegung im falschen Moment können das Gebilde zum Einsturz bringen. Sockel des Turms und menschliches Rettungsnetz eines Castells bildet die sogenannte Pinya, bestehend aus den größten und kräftigsten Castellers. Pom de Dalt wird die Kuppel genannt, die von den leichtesten und jüngsten Castellers gebildet wird. Währenddessen spielen Musiker auf Blasinstrumenten traditionelle Melodien, um den Rhythmus der „Bauarbeiten“ vorzugeben, aber auch die Emotionen anzuheizen. Um sich für Castells aufzuschichten, treffen sich Menschen heute in ganz Tarragona, oft im Rahmen von Patronatsfesten auf dem örtlichen Rathausplatz. Ein Termin ist zum Beispiel der 24. Juni anlässlich der Johannisnacht in Valls.
Mongolei: Die angesehene Jurten-Baukunst
Die Jurte, in der Mongolei als Ger bekannt, ist das ideale Konstrukt für Teilzeit-Sesshaftigkeit – laut Unesco ebenfalls schützenswert: Sie lässt sich leicht auf- und wieder abbauen, im kalten Winter Zentralasiens ziemlich gut beheizen, und ist mit den traditionellen Ornamenten am Holzrahmen, Teppichen aus handgenähtem Filz und eingerichtet mit Möbeln ziemlich gemütlich, wenn draußen die mongolischen Frühlingswinde durch die Steppe fegen. „Als traditionelle Behausung spielt das mongolische Ger eine wichtige soziale und kulturelle Rolle für Nomadenfamilien, und seine Hersteller sind hoch angesehen“, schreibt die Unesco, die die traditionelle Handwerkskunst der Ger 2013 als Immaterielles Erbe der Menschheit anerkannte. Das Holz für die Rundkonstruktion mit dem Spitzdach, das mit Segeltuch und Filz gedeckt wird, sägen und schnitzen die Männer. Das Bemalen mit Ornamenten sowie das Filzen der Schafwolle, das Sticken und Nähen übernehmen Männer und Frauen gemeinsam. Das traditionelle Handwerk geben die Älteren an die Jungen weiter. Den Auf- und Abbau erledigt die ganze Familie. Transportiert wird die abgebaute Jurte heute oft auf der Ladefläche von Autos. Doch immer mehr Nomaden werden auch sesshaft. An den Berghängen rund um die Hauptstadt Ulan Bator wächst das Ger-Viertel seit Jahren. Als Gästeunterkunft hat die Jurte längst auch der Tourismus entdeckt. Übernachten kann man in Ger-Camps zum Beispiel im Tal des Orkhon-Flusses nahe des Ulaantsutgalan-Wasserfalls, am fischreichen See Ugii oder in den weiten Sanddünen von Elsen tasarkhai, einer Art Wüste Gobi im Kleinformat, knapp 300 Kilometer westlich der Hauptstadt.
Singapur und sein Streetfood: Essen als soziales Event
Hier trifft man Nachbarn und Freunde, Kollegen und Fremde. Man isst und redet, tauscht Neuigkeiten miteinander aus und schlemmt in Eile zubereitete Gerichte wie Char Kway Teow (gebratene Reisbandnudeln) oder Bak Kut Teh (in Brühe gekochte Schweinerippchen): Die Hawker-Zentren Singapurs sind mehr als Streetfood-Märkte. Das gemeinsame Essen dort ist ein gesellschaftliches Ereignis, das den kleinen Vielvölkerstaat brutzelnd und plaudernd zusammenhält. „Als sozialer Raum, der Menschen mit unterschiedlichem sozioökonomischem Hintergrund umfasst“, steht die Hawker-Kultur seit 2020 auf der Repräsentativen Liste des Immateriellen Kulturerbes. In Singapur wird die Harmonie der ethnischen Gruppen großgeschrieben – auch für die Hawker-Zentren gelten Regeln: Jedes muss chinesische, malaiische und indische Imbisse beherbergen, entsprechend den größten Volksgruppen des Stadtstaates. Die traditionellen Gerichte aus ganz Asien sind nicht nur lecker, sondern mit im Durchschnitt rund fünf Singapur-Dollar (3,30 Euro) auch ziemlich günstig. Viele der über 6.000 Hawker in den über die Stadtviertel verteilten 100 Zentren kochen nur ein einziges Gericht, manche seit Jahrzehnten. 2016 wurde sogar der erste Michelin-Stern für Streetfood vergeben – an einen gebürtigen Malaysier für dessen Gericht „Hong Kong Soya Sauce Chicken Rice & Noodle“.
Grönland: Trommeln und Singen für die Gleichberechtigung
Der Tänzer oder die Tänzerin beugt leicht die Knie, lehnt sich etwas nach vorn, schlägt wird mit einem Holz-Stick oder einem Knochen die Qilaat, eine Art Tamburin ohne Schellen, und setzt dazu zum Trommellied an, das vom Leben in Grönland erzählt, von der Jagd und der Liebe und eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft herstellen soll: Mit dem Trommeltanz und Trommelgesang zelebrieren die grönländischen Inuit seit Urzeiten ihre gemeinsame Identität.
„Diese Praktiken werden in Grönland als Symbole für Gleichheit und Gleichberechtigung wahrgenommen und allgemein als etwas anerkannt, das allen gehört, unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialem Status oder politischer Einstellung“, schreibt die Unesco, die Trommeltanz und Trommelsingen seit 2021 auf der Repräsentativliste führt.
Wenn man sich Rhythmus und Kraft von Tanz und Gesang hingebe, könne man in Trance fallen, sagt Mads Lumholt, ein grönländischer Musiker. Früher war der Trommeltanz bei sogenannten Liederschlachten ein Mittel zur Konfliktbewältigung mit Feinden. Während der Christianisierung drohte die Kulturtechnik zu verschwinden, da die Missionare in ihr ein heidnisches Ritual sahen. Heute lebt die Tradition bei nationalen Festen, Kulturveranstaltungen und anderen Anlässen wieder auf.
Arabische Emirate und Oman: Wettrennen auf Kamelrücken
Historischen Aufzeichnungen zufolge wurden erste Kamelrennen in Arabien bereits im 7. Jahrhundert veranstaltet. Als gesellschaftlicher Brauch und soziale Praxis sind sie „ein grundlegender Bestandteil des nomadischen Lebensstils“, schreibt die Unesco, die Kamelrennen und die damit verbundene Feierkultur 2020 als immaterielles Erbe der Menschheit anerkannte.
Kamele werden in der Wüstenregion seit Jahrhunderten als Nahrungs-, Transport- und historisch als Zahlungsmittel verwendet. In der beduinischen Gesellschaft spielen die zähen Huftiere von jeher eine herausragende Rolle. Bei den Rennen, einige der größten finden in Dubai und Abu Dhabi statt, werden trainierte Renntiere auf eigens errichteten Rennstrecken auf den Track geschickt. In ländlicheren Gegenden des Omans werden die Wettkämpfe der mit speziellem Futter genährten Höcker-Athleten auf angelegten Feldern durchgeführt. Kenntnisse und Fertigkeiten werden im Zusammenspiel von staatlichen Einrichtungen, spezialisierten Zentren und Vereinen weitergegeben.
Bis zu 64 Stundenkilometer werden die meist weiblichen, da leichteren, Tiere schnell. Traditionell sitzt ein Jockey auf dem Kamelrücken, früher war dies oft ein Kind. Doch dies wurde nach Kritik unter anderem in den Vereinigten Arabischen Emiraten untersagt. Vom historischen Erbe entfernt haben sich Kamelrennen, bei denen reiche Scheiche ferngesteuerte Roboter-Jockeys einsetzen und mit Autos parallel zur Strecke entlangrasen. Selbst Kamelkrankenhäuser gibt es – zum Beispiel das Dubai Camel Hospital.
Deutschland: Orgelbau und Orgelmusik
Sie erklingt über 17.974 Pfeifen, 233 Register können gezogen werden: Im Passauer Dom, selbst einer der bedeutendsten italienischen Barockbauten nördlich der Alpen, steht die größte Domorgel der Welt. In den USA gibt es noch einige größere Orgeln, doch die stehen nicht in katholischen Sakralbauten. Das Rieseninstrument im Dom St. Stephan besteht aus Haupt- und vier Nebenorgeln, darunter eine auf dem Dachboden. Sie gilt als technisches Wunderwerk, und ein Konzert vor Ort als Pflichttermin für Passaubesucher.
Doch sie ist nur das imposanteste Beispiel der Orgelbaukunst in Deutschland, die die Unesco 2017 zusammen mit Orgelmusik in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit eingetragen hat. „Von Natur aus transkulturell, ist Orgelmusik eine universelle Sprache, die das interreligiöse Verständnis fördert“, so die Unesco. Das Orgelhandwerk erfordere hochspezialisierte Kenntnisse und Fertigkeiten.
Als einer der größten deutschen Orgelbauer gilt Gottfried Silbermann, der in den 1730er-Jahren die Orgel der Dresdner Frauenkirche erschuf. Zusammen mit Johann Sebastian Bach, Komponist der bekannten Fuge in g-Moll, begutachtete er die Orgel in der Stadtkirche St. Wenzel Naumburg, die Silbermanns Geselle Zacharias Hildebrandt erbaut hatte.
Erste orgelähnliche Instrumente wurden allerdings nicht auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands erfunden, sondern etwa 250 Jahre vor unserer Zeitrechnung in der arabischen Welt. Den Klängen einiger der ältesten spielbaren Orgeln der Welt können in St. Valentinus im hessischen Kiedrich, in der Rysum Kirche in Ostfriesland und in der Sankt-Andreas-Kirche in Soest gelauscht werden.
Oostduinkerke, Belgien: Mit Pferden Shrimps fischen
Zwei Stunden vor Ebbe geht es los in Oostduinkerke, einem Ortsteil der belgischen Kleinstadt Koksijde in Westflandern: Mit Ölzeug und Gummistiefeln bekleidet und wasserdichtem Südwester auf dem Kopf schwingen sich die Fischer auf den Rücken ihrer Pferde. Sie reiten in die Brandung, bis das Meerwasser den Tieren bis zur Brust steht.
Dann geht es den flach abfallenden Sandstrand parallel der Küste entlang. Wie ein Ackergaul den Pflug ziehen die robusten Brabanter-Hengste ein Sacknetz hinter sich her, das auf dem Sand schleift. Durch die Vibrationen am Meeresboden werden die Shrimps zum Hüpfen angeregt – und sie landen dann im Netz. Von Zeit zu Zeit leeren die Fischer ihren Fang in Körbe, die an den Flanken der Tiere hängen. Die Shrimps kochen sie später an der Standpromenade. Ein leckerer Snack für Einheimische und Gäste.
Die Krabbenfischerei zu Pferd wird an der Küste Westflanderns seit 500 Jahren betrieben. „Die Tradition verleiht der Gemeinschaft ein starkes Gefühl kollektiver Identität“, so die Unesco. 2013 hat die Organisation sie als immaterielles Kulturerbe anerkannt.